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Informationen zum Dokument  BGer I 437/2006  Materielle Begründung
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BGer I 437/2006 vom 25.01.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 437/06
 
Urteil vom 25. Januar 2007
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Kernen und Ersatzrichter Brunner,
 
Gerichtsschreiber Grunder.
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherungen,
 
Effingerstrasse 20, 3003 Bern, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Nikolaus Tamm, Spalenberg 20,
 
4001 Basel,
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der Eidgenössischen Rekurskommission der AHV/IV für die im Ausland wohnenden Personen vom 6. März 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a X.________ leidet gemäss Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle Zentralschweiz (MEDAS) vom 23. Juni 1997 an einer andauernden somatoformen Schmerzstörung bei depressiv-neurotischer Entwicklung leichten Grades, weswegen ihm nur noch eine körperlich leichte Tätigkeit ohne stereotypes Heben von Lasten über 10 kg in zeitlichem Umfang von 50% zumutbar war. Die IV-Stelle Luzern sprach dem Versicherten mit Verfügung vom 6. August 2001 ab 1. Dezember 1994 eine halbe Invalidenrente (sowie eine Zusatzrente für die Ehefrau und Kinderrenten) zu. Diese Verfügung bestätigten in der Folge sowohl das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern (Entscheid vom 10. Dezember 2002) wie auch das Eidgenössische Versicherungsgericht (Urteil vom 27. Februar 2004, I 97/03).
 
A.b Am 1. Juli 2003 wurde X.________ im Land L.________ in Untersuchungshaft genommen. Mit Verfügung vom 29. Juli 2003 widerrief das Bundesamt für Flüchtlinge das bislang gewährte Asyl (vgl. Rechtskraftmitteilung "Asylwiderruf" des Bundesamtes für Flüchtlinge vom 15. September 2003). Gemäss Schreiben des Bundesamtes für Polizei vom 3. September 2003 wies der Bundesrat daraufhin den Versicherten gestützt auf Art. 121 Abs. 2 BV wegen Gefährdung der Schweiz aus dem Land. Als politischer und militärischer Kopf der Front für nationale L.________ Vereinigung / L.________ Nationalarmee habe er in der Schweiz einen Logistikstützpunkt aufgebaut und werde verdächtigt, Anschläge der L.________ Nationalarmee zu befehlen bzw. auszulösen. Es sei zu befürchten, dass er im Lande N.________ und den angrenzenden Regionen eine Destabilisierung zu bewirken versuchte.
 
Die nunmehr mangels Aufenthalt des Versicherten in der Schweiz zuständig gewordene IV-Stelle für Versicherte im Ausland (im Folgenden: IV-Stelle) hob die Invalidenrente rückwirkend ab 1. Juli 2003 auf (Verfügung vom 12. Juli 2004). Zur Begründung führte sie aus, dass sich X.________ seit 1. Juli 2003 im Land L.________ in Haft befinde. Die politische Betätigung als Führer der L.________ Nationalarmee sei einer Erwerbstätigkeit gleichzusetzen, weshalb keine rentenbegründende Invalidität mehr vorliege. Eine Einsprache wies die IV-Stelle ab (Einspracheentscheid vom 29. November 2004).
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde hiess die Eidgenössische Rekurskommission der Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung für die im Ausland wohnenden Personen (im Folgenden: Rekurskommission der AHV/IV oder Vorinstanz, ab 1. Januar 2007: Bundesverwaltungsgericht) insoweit gut, dass sie die Sache im Sinne der Erwägung 6 zur ergänzenden Abklärung und zum Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückwies (Entscheid vom 6. März 2006). Zur Begründung führte sie aus, aufgrund der Aktenlage sei eine abschliessende Beurteilung der Arbeitsfähigkeit und somit des Invaliditätsgrades nicht möglich.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde beantragt das Bundesamt für Sozialversicherungen (BSV), der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben.
 
X.________ lässt auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliessen und ersucht um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege. Die IV-Stelle beantragt, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde sei gutzuheissen. Am 7. August 2006 lässt X.________ eine Stellungnahme einreichen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 395 Erw. 1.2).
 
2.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Nach Art. 132 Abs. 1 OG in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG (in Kraft seit 1. Juli 2006) kann das Gericht in Verfahren um die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen in Abweichung von den Art. 104 und 105 OG auch die Unangemessenheit der angefochtenen Verfügung beurteilen und ist an die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht gebunden. Gemäss Art. 132 Abs. 2 OG gelten diese Abweichungen nicht, wenn der angefochtene Entscheid Leistungen der Invalidenversicherung betrifft. Nach Ziff. II lit. c des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 ist indessen auf die im Zeitpunkt des Inkrafttretens der Änderung beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängigen Beschwerden bisheriges Recht anwendbar. Da die hier zu beurteilende Beschwerde am 1. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht hängig war, richtet sich die Kognition noch nach der bis Ende Juni 2006 gültigen Fassung von Art. 132 OG, welche dem neuen Abs. 1 entspricht.
 
3.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob sich der Invaliditätsgrad seit der letzten rechtskräftigen Zusprechung einer halben Invalidenrente (Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 6. August 2001) bis zum Erlass des die zeitliche Grenze der richterlichen Überprüfungsbefugnis bildenden Einspracheentscheids vom 29. November 2004 (vgl. BGE 121 V 366 Erw. 1b) in revisionsrechtlich erheblicher Weise geändert hat. Für die Festlegung der zeitlichen Vergleichsbasis ist, da lediglich den ursprünglichen Verwaltungsakt bestätigend, die Verfügung der IV-Stelle Luzern vom 4. September 2003 unbeachtlich.
 
4.
 
4.1 Nach Art. 82 Abs. 1 erster Satz ATSG sind materielle Bestimmungen dieses Gesetzes u.a. auf die bei seinem Inkrafttreten (am 1. Januar 2003) laufenden Leistungen nicht anwendbar. Da der Beschwerdegegner die ab 1. Dezember 1994 zugesprochene halbe Invalidenrente am 1. Januar 2003 weiterbezog, ist der Beurteilung Art. 41 IVG (aufgehoben auf den 31. Dezember 2002) zugrunde zu legen. Diese übergangsrechtliche Lage hat jedoch keine materiellrechtlichen Folgen, da alt Art. 41 IVG und Art. 17 ATSG miteinander übereinstimmen (BGE 130 V 349).
 
4.2 Anlass zur Revision einer Invalidenrente im Sinne von Art. 17 ATSG gibt jede wesentliche Änderung in den tatsächlichen Verhältnissen, die geeignet ist, den Invaliditätsgrad und damit den Rentenanspruch zu beeinflussen. Die Invalidenrente ist somit nicht nur bei einer wesentlichen Veränderung des Gesundheitszustandes, sondern auch dann revidierbar, wenn sich die erwerblichen Auswirkungen des an sich gleich gebliebenen Gesundheitsschadens erheblich verändert haben (BGE 130 V 349 Erw. 3.5, 113 V 275 Erw. 1a; siehe auch BGE 112 V 372 Erw. 2b und 390 Erw. 1b).
 
5.
 
5.1
 
5.1.1 Das BSV bringt vor, die der ursprünglichen Rentenzusprechung zugrunde liegende Arbeits- und Erwerbsunfähigkeit beruhe vor allem auf einer psychischen Erkrankung, welche Folge belastender, zum Teil invaliditätsfremder Faktoren (schlechte Integration, Fluchtproblematik, unbefriedigende Berufssituation) gewesen sei. Mit der Rückreise ins Land L.________ seien diese Faktoren weggefallen, weshalb anzunehmen sei, dass sich die gesundheitlichen Beschwerden gebessert hätten. Dies komme darin zum Ausdruck, dass der Versicherte nun die hohe psychische Anforderungen stellende Funktion eines politischen Führers zu erfüllen vermöge. Eine solche Tätigkeit sei einer Beschäftigung im Erwerbsleben gleichzusetzen. Die IV-Stelle schliesst sich dieser Auffassung in der letztinstanzlich eingereichten Vernehmlassung zur Verwaltungsgerichtsbeschwerde an.
 
5.1.2 Die Rekurskommission der AHV/IV erwog, die vom BSV angenommene Steigerung der Leistungsfähigkeit und Veränderung der erwerblichen Situation sei nicht mit dem im Sozialversicherungsrecht üblichen Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachgewiesen. Ohne ergänzende Abklärungen sei nicht schlüssig zu beurteilen, ob die Voraussetzungen einer Rentenrevision vorlägen.
 
5.1.3 Der Beschwerdegegner bestreitet, dass sich sein Gesundheitszustand gebessert habe. Er sei zwar politisch aktiv gewesen, nie aber in der Funktion eines politischen Führers.
 
5.2
 
5.2.1 Der Vorinstanz ist beizupflichten, dass eine Besserung der gesundheitlichen Beeinträchtigungen ärztlich nicht belegt ist. Dem Vorbringen des BSV, die gemäss MEDAS-Gutachten vom 23. Juni 1997 für das psychische Beschwerdebild massgeblich verantwortlichen Belastungsfaktoren seien mit der Rückreise nach Albanien weggefallen, weshalb von einer Besserung des Krankheitsbildes auszugehen sei, kann eine gewisse Plausibilität nicht abgesprochen werden. Dennoch ist ohne zusätzliche medizinische Abklärungen nicht mit überwiegender Wahrscheinlichkeit nachzuweisen, der Beschwerdegegner habe sich gesundheitlich erholt und sei nunmehr in rentenausschliessendem Umfang erwerbsfähig. Zu bedenken ist, dass die der ursprünglichen Rentenfestsetzung zugrunde liegende Einschränkung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit zwar wesentlich, aber nicht ausschliesslich auf psychiatrischen Befunden beruhte; die vom Versicherten vormals ausgeübte körperliche Schwerarbeit wurde wegen der rheumatologischen Befunde als unzumutbar erachtet (MEDAS-Gutachten vom 23. Juni 1997).
 
5.2.2 Das BSV macht weiter geltend, angesichts der erfolgten fremdenpolizeilichen Ausweisung habe die Beurteilung der Arbeits- und Erwerbsfähigkeit gestützt auf die Erwerbsverhältnisse im Aufenthaltsland zu erfolgen. Diese Betrachtungsweise führt aber nicht ohne Weiteres dazu, dass eine erhebliche Änderung der tatsächlichen Verhältnisse zu bejahen ist. Es mag sich durchaus so verhalten, dass sich derselbe Gesundheitsschaden auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit in der Schweiz anders als im Herkunftsland eines ausländischen Rentenbezügers auswirkt, wo ihm allenfalls weitere berufliche Möglichkeiten - hier insbesondere intellektuelle Tätigkeiten (der Beschwerdegegner hat in seinem Heimatland ein Hochschulstudium juristisch-wirtschaftlicher Richtung abgeschlossen, vgl. MEDAS-Gutachten vom 23. Juni 1997) - offen stehen. Solange aber keine Klarheit über den Gesundheitszustand des Versicherten besteht, kann nicht beurteilt werden, wie sich dieser erwerblich auswirkt - auch nicht in der Annahme eines für den Versicherten günstigeren Arbeitsmarktes, was allerdings nicht näher abgeklärt worden ist.
 
5.2.3 Sodann ist entgegen der Auffassung des BSV aus dem Umstand, dass der Beschwerdegegner, sei es in der Schweiz oder im Ausland, politisch aktiv war oder immer noch ist, nicht ohne Weiteres der Schluss zu ziehen, dass sich die erwerblichen Verhältnisse erheblich geändert haben. Zwar ist einzuräumen, dass eine politische Tätigkeit mit hohen psychischen Belastungen verbunden sein kann. Sie ist jedoch nicht tel quel der Ausübung einer hypothetischen Beschäftigung im Wirtschaftsbereich gleichzusetzen. Aufgrund der Akten steht nicht fest, welcher Art, in welchem Zeitraum und in welchem Umfang das Engagement des Beschwerdegegners war und gegebenenfalls gegenwärtig auch noch ist. Diesbezüglich ergibt sich aus dem Schreiben des Bundesamtes für Polizei vom 3. September 2003, mit welchem dem Rechtsvertreter des Beschwerdegegners der gleichentags gefällte Ausweisungsbeschluss des Bundesrates mitgeteilt wurde, einzig, dass der Versicherte wegen Gefährdung der Schweiz aus dem Land gewiesen worden ist. Zum anderen entsprechen die psychischen Belastungen des täglichen Erwerbslebens nicht unterschiedslos denjenigen, welchen ein Politiker ausgesetzt sein kann. Gemäss MEDAS-Gutachten vom 23. Juni 1997 ergibt sich die Arbeitsunfähigkeit des Versicherten, der in der Schweiz vor Eintritt des Gesundheitsschadens stets Schwerarbeit verrichtet hatte, vor allem aus der krankhaften Fixierung auf das Schmerzerleben. Eine derartige Störung kann die Fähigkeit zur Ausübung auch einer leichteren körperlichen Erwerbstätigkeit stark beeinträchtigen, sie muss aber nicht in gleicher Weise einer politischen Aktivität entgegen stehen. Aus diesen Gründen kann aus dem Umstand, dass der Versicherte in der Vergangenheit politisch aktiv gewesen war und möglicherweise auch gegenwärtig noch ist, nicht geschlossen werden, er vermöge ohne Einschränkung einer Erwerbstätigkeit nachzugehen.
 
5.3 Auf die von der Vorinstanz angeordneten ergänzenden Abklärungen kann nach dem Gesagten nicht verzichtet werden. Die Bedenken des BSV in Bezug auf die Durchführbarkeit medizinischer Abklärungen in der Schweiz sind nicht stichhaltig. Das Bundesgesetz über Aufenthalt und Niederlassung für Ausländer (ANAG) untersagt den Grenzübertritt nicht generell für einen Ausländer, der mit einer Einreisesperre belegt ist; es ist lediglich eine ausdrückliche Ermächtigung der verfügenden Behörde erforderlich (Art. 13 Abs. 1 letzter Satz ANAG). Die Suspendierung der Einreisesperre kann aus wichtigen Gründen bewilligt werden; als wichtiger Grund gilt nach den Weisungen des Bundesamtes für Migration (BFM) unter anderem eine gerichtliche Vorladung (vgl. Weisungen und Erläuterungen über Einreise, Aufenthalt und Arbeitsmarkt, 3. Auflage, Ziffer 843). Die Durchführung einer medizinischen Begutachtung zur Klärung der Leistungspflicht eines Sozialversicherungsträgers ist als wichtiger Grund zu betrachten, welcher die Suspendierung der Einreisesperre jedenfalls für die Dauer der notwendigen medizinischen Untersuchungen in der Schweiz rechtfertigt. Den vom BSV geäusserten Sicherheitsbedenken kann die zuständige Behörde mit Anordnung von Auflagen (zum Beispiel Untersagung politischer Aktivitäten während des Abklärungsaufenthalts in der Schweiz) Rechnung tragen.
 
6.
 
Das Verfahren ist kostenlos (Art. 134 OG). Dem Ausgang des Prozesses entsprechend steht dem anwaltlich vertretenen Beschwerdegegner eine Parteientschädigung zu (Art.159 Abs. 1 und 2 in Verbindung mit Art. 135 OG). Das von ihm gestellte Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherungen hat dem Beschwerdegegner eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Bundesverwaltungsgericht und der IV-Stelle für Versicherte im Ausland zugestellt.
 
Luzern, 25. Januar 2007
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Der Gerichtsschreiber:
 
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