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Informationen zum Dokument  BGer I 1023/2006  Materielle Begründung
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BGer I 1023/2006 vom 12.02.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 1023/06
 
Urteil vom 12. Februar 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Maillard.
 
Parteien
 
X.________ Versicherungs-Gesellschaft, Beschwerdeführerin, vertreten durch die Zürich Versicherungs-Gesellschaft, Talackerstrasse 1, 8152 Opfikon,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin,
 
betreffend L.________.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 23. Oktober 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 16. März 2004 wandelte die IV-Stelle des Kanton Thurgau die L.________ ab 1. August 2002 zugesprochene Witwen- und Waisenrente in eine Rente der Invalidenversicherung um und erliess in derselben Verfügung eine Abrechnung. Wie von der X.________ Versicherungs-Gesellschaft (nachfolgend: X.________) beantragt, verfügte die IV-Stelle die Verrechnung von Fr. 14'464.35 für an L.________ erbrachte Krankentaggeldleistungen. Mit Einspracheentscheid vom 6. Dezember 2004 bestätigte die IV-Stelle die Zulässigkeit der Verrechnung. In der Folge bezahlte die Ausgleichskasse für Handel und Industrie der X.________ diesen Betrag. Die von der Versicherten gegen den Einspracheentscheid erhobene Beschwerde hiess die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau mit Entscheid vom 18. Juli 2005 gut und wies die Sache zum Erlass einer neuen Verfügung (ohne Verrechnung) an die IV-Stelle zurück.
 
Mit Verfügung vom 10. August 2006 forderte die IV-Stelle von der X.________ den Betrag von Fr. 14'464.35 zurück.
 
B.
 
Die AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau wies die von der X.________ dagegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 23. Oktober 2006 ab.
 
C.
 
Die X.________ führt Verwaltungsgerichtsbeschwerde mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 10. August 2006 seien aufzuheben.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbe-schwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
1.1 Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [SR 173.110]) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205 und 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 392 E. 1.2 S. 395).
 
1.2 Streitigkeiten über die Drittauszahlung von Leistungen der Invalidenversicherung betreffen rechtsprechungsgemäss nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen im Sinne von Art. 132 OG. Bei Prozessen um den Auszahlungsmodus hat das Bundesgericht deshalb nur zu prüfen, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzt hat, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt worden ist (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG; BGE 121 V 17 E. 2 S. 18; AHI 2003 S. 165 E. 1 [Urteil vom 23. Juli 2002, I 727/00], je mit Hinweisen).
 
2.
 
Die Beschwerdeführerin hat im Umfang von Fr. 14'464.35 Verrechnung der von ihr geleisteten Krankentaggelder mit den nachträglich zugesprochenen IV-Renten beantragt. Mit Verfügung vom 16. März 2004 hat die Beschwerdegegnerin diese Verrechnung und Drittauszahlung angeordnet, worauf die Ausgleichskasse die Zahlung an die Beschwerdeführerin geleistet hat. Die Beschwerdegegnerin verlangt von der Beschwerdeführerin die bereits geleistete Drittauszahlung zurück. Strittig ist die Rechtmässigkeit dieser Rückerstattungsforderung.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin macht im letztinstanzlichen Verfahren erstmals geltend, der Rückerstattungsanspruch sei verwirkt. Zur Untermauerung dieses Standpunktes beantragt sie den Beizug der Akten des vorinstanzlichen Verfahrens, welches zum Entscheid vom 18. Juli 2005 führte.
 
3.1 Im Rahmen von Art. 105 Abs. 2 OG ist die Möglichkeit, im Verfahren vor dem Bundesgericht neue tatsächliche Behauptungen aufzustellen oder neue Beweismittel geltend zu machen, weitgehend eingeschränkt. Hat als Vorinstanz - wie hier - eine richterliche Behörde im Sinne von Art. 105 Abs. 2 OG entschieden, sind neue tatsächliche Vorbringen weitgehend ausgeschlossen. Nach der Rechtsprechung sind nur jene neuen Beweismittel zulässig, welche die Vorinstanz von Amtes wegen hätte erheben müssen und deren Nichterheben eine Verletzung wesentlicher Verfahrensvorschriften darstellt (BGE 121 II 97 E. 1c S. 99, 120 V 481 E. 1b S. 485, je mit Hinweisen). Hingegen kann die rechtliche Begründung auch vor dem Bundesgericht geändert werden, wenn der Zusammenhang zum Streitgegenstand gewahrt bleibt. Dies ergibt sich aus Art. 114 Abs. 1 in fine OG, wonach das Bundesgericht das Recht von Amtes wegen anzuwenden hat.
 
3.2 Nach Art. 25 Abs. 1 ATSG sind unrechtmässig bezogene Leistungen zurückzuerstatten. Der Rückforderungsanspruch erlischt mit dem Ablauf eines Jahres, nachdem die Versicherungseinrichtung davon Kenntnis erhalten hat, spätestens aber mit dem Ablauf von fünf Jahren nach der Entrichtung der einzelnen Leistung (Abs. 2).
 
Nach der zu aArt. 47 Abs. 2 Satz 1 AHVG ergangenen Rechtsprechung, welche auch in anderen Gebieten der Sozialversicherung sinngemäss anwendbar war (BGE 126 V 23), handelte es sich bei den Fristen, die den Rückforderungsanspruch regelten, um Verwirkungsfristen (BGE 119 V 431 E. 3a S. 433). Dies gilt auch für die seit 1. Januar 2003 anwendbaren Fristen nach Art. 25 Abs. 2 ATSG, da die nach dem ATSG für die Rückerstattung von Leistungen massgebliche Bestimmung (Art. 25 ATSG) aus der früheren Regelung und Rechtsprechung hervorgegangen ist, ohne dass sich materiell etwas geändert hat (BGE 130 V 318 E. 5.2).
 
Verwirkungsfristen sind nach der Rechtsprechung immer von Amtes wegen zu prüfen (BGE 111 V 135 E. 3b S. 136; SVR 2004 ALV Nr. 5 S. 14 E. 4.1). Auch das Bundesgericht hat daher die Frage der Verwirkung zu prüfen, selbst wenn das kantonale Gericht dies unterlassen hat. Auf den Beizug der von der Beschwerdeführerin verlangten Akten ist zu verzichten, da sich die Verwirkungsfrage ohne Weiteres anhand der Akten beantworten lässt.
 
3.3 Nach der Rechtsprechung beginnt die einjährige Verwirkungsfrist in dem Zeitpunkt zu laufen, in dem die Kasse bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit hätte erkennen müssen, dass die Voraussetzungen für eine Rückerstattung bestehen (BGE 124 V 380 E. 1 S. 382). Die vorausgesetzte Kenntnis des Rückforderungsanspruchs ist nicht schon gegeben, wenn die Verwaltung nach den gesamten Umständen damit rechnen muss, dass möglicherweise ein Rückforderungstatbestand besteht. Vielmehr müssen ihr bei Beachtung der ihr zumutbaren Aufmerksamkeit nicht nur der Rückforderungstatbestand, sondern insbesondere auch der Rückforderungsbetrag bekannt sein (BGE 112 V 180 E. 4a S. 181). Die Fristen können grundsätzlich nur durch Erlass einer Verfügung gewahrt werden, wobei unter der Geltung des Vorbescheidsverfahrens bereits der Erlass des Vorbescheides fristwahrend ist (BGE 119 V 431 E. 3c S. 434).
 
3.4 Die Beschwerdegegnerin stützt ihren Rückforderungsanspruch auf den Entscheid der Vorinstanz vom 18. Juli 2005, mit dem die bereits erfolgte Drittauszahlung als unzulässig erklärt wurde. Die IV-Stelle erhielt somit von der Unrechtmässigkeit der Drittauszahlung mit der Zustellung dieses Entscheides Kenntnis. Gemäss dem von der Vorinstanz am Entscheid angebrachten Vermerk wurde dieser am Freitag, 5. August 2005, expediert und ging gemäss Eingangsstempel am 9. August 2005 bei der Beschwerdegegnerin ein. Die einjährige Verwirkungsfrist begann somit am 10. August 2005 zu laufen und endete am Mittwoch, 9. August 2006. Anders als die Beschwerdefrist (Art. 38 Abs. 4 lit b ATSG; Art. 34 Abs. 1 lit. b OG) kann die Frist zur Geltendmachung des Rückforderungsanspruches weder gehemmt noch unterbrochen werden (vgl. BGE 117 V 208 E. 3a S. 310). Die Rückerstattungsverfügung erging am 10. August 2006 und damit verspätet. Daran ändert das Schreiben der Ausgleichskasse an die Beschwerdeführerin vom 12. Januar 2006, worin um Rückerstattung gebeten wurde, nichts. Dieser Brief kann schon deshalb nicht als fristwahrender Vorbescheid betrachtet werden, weil nach der damals geltenden Rechtslage kein Vorbescheidverfahren galt. Da die Beschwerdegegnerin im Übrigen zur von der Beschwerdeführerin aufgeworfenen Frage der Verwirkung Stellung nehmen konnte, ist ihr Anspruch auf rechtliches Gehör gewahrt (vgl. BGE 125 V 368 E. 4a S. 370 mit Hinweisen).
 
4.
 
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der Beschwerdegegnerin aufzuerlegen (Art. 156 Abs. 1 OG in Verbindung mit Art. 135 OG). Die nicht anwaltlich oder sonstwie qualifiziert vertretene Beschwerdeführerin hat keinen Anspruch auf eine Parteientschädigung (Art. 159 Abs. 2 in Verbindung mit Art. 135 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau vom 23. Oktober 2006 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Thurgau vom 10. August 2006 aufgehoben.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 1300.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Der geleistete Kostenvorschuss von Fr. 1300.- wird der Beschwerdeführerin zurückerstattet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Versicherten, der AHV/IV-Rekurskommission des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 12. Februar 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
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