VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer H_8/2007  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer H_8/2007 vom 23.04.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
H 8/07
 
Urteil vom 23. April 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Maillard.
 
Parteien
 
K.________, 1941, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Rechtsanwältin Evalotta Samuelsson, Seefeldstrasse 45, 8008 Zürich,
 
gegen
 
Ausgleichskasse des Kantons Zug, Baarerstrasse 11, 6300 Zug, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Alters- und Hinterlassenenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden vom 3. Oktober 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Mit Urteil vom 27. April 2005 bestätigte das Eidgenössische Versicherungsgericht (heute Bundesgericht), dass die bei der Firma V.________ AG tätigen sogenannten Enhancerinnen (Telefondienstanbieterinnen) eine unselbstständige Erwerbstätigkeit im Sinne von Art. 5 Abs. 2 AHVG ausüben und die Firma daher zu Recht mit drei Verfügungen vom 12. Dezember 2003 zur Nachzahlung von Sozialversicherungsbeiträgen für in den Jahren 2000 bis 2002 an 84 Enhancerinnen ausgerichtete Entschädigungen verpflichtet wurde. Nachdem die Firma am 27. Februar 2006 von Amtes wegen aufgelöst worden war, verpflichtete die Ausgleichskasse des Kantons Zug K.________, die einzige Verwaltungsrätin der Firma war, mit Verfügung vom 25. April 2006, bestätigt durch Einspracheentscheid vom 2. Juni 2006, zur Bezahlung von Schadenersatz für entgangene Sozialversicherungsbeiträge in der Höhe von Fr. 24'363.65.
 
B.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden wies die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 3. Oktober 2006 ab.
 
C.
 
K.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und beantragen, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben; eventualiter seien die geforderten Beiträge angemessen herabzusetzen.
 
Die Ausgleichskasse schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde, während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung verzichtet.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz vom 17. Juni 2005 über das Bundesgericht (BGG [SR 173.110]) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205 und 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
2.
 
Auf die Verwaltungsgerichtsbeschwerde kann nur so weit eingetreten werden, als Sozialversicherungsbeiträge kraft Bundesrechts streitig sind. Es ist daher nicht zu prüfen, wie es sich bezüglich der Beitragsschuld gegenüber der Ausgleichskasse für kantonale Familienzulagen verhält (BGE 124 V 145 E. 1 mit Hinweis).
 
3.
 
Die strittige Verfügung hat nicht die Bewilligung oder Verweigerung von Versicherungsleistungen zum Gegenstand. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
4.
 
Das kantonale Gericht hat die Voraussetzungen der Haftung nach Art. 52 AHVG und die dazu ergangene einschlägige Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.
 
5.
 
Die Kritik der Beschwerdeführerin am Verfügungs- und Einspracheverfahren ist unerheblich. Trotz der Untersuchungsmaxime muss sie aufgrund der Mitwirkungspflicht (siehe dazu BGE 125 V 193 E. 2 S. 195) diejenigen Aspekte vorbringen, die in ihrem Einflussbereich liegen, namentlich solche, die die Nichtzahlung der Beiträge erklärbar und entschuldbar erscheinen lassen könnten. Zudem ist letztinstanzlicher Anfechtungsgegenstand (siehe dazu BGE 130 V 501) nicht der Einspracheentscheid, sondern der Entscheid des kantonalen Gerichts, welches mit freier Kognition prüfen und allfällige Gehörsverletzungen heilen konnte (siehe dazu BGE 127 V 431 E. 3d/aa S. 438).
 
6.
 
Die Argumentation der Beschwerdeführerin, sie kenne sich im Geschäftsleben nicht aus, ist unbehelflich. Wie das kantonale Gericht richtig erkannt hat, muss bei - wie hier - einfachen Verhältnissen von der einzigen Verwaltungsrätin und faktischen Geschäftsführerin einer Aktiengesellschaft, die als solche die Verwaltung der Gesellschaft als einzige Person in Organstellung zu besorgen hat, der Überblick über alle wesentlichen Belange der Firma verlangt werden, und dies selbst dann, wenn sie ihre Befugnisse weitgehend an Dritte delegiert hat (BGE 108 V 199 E. 3b S. 203).
 
7.
 
Trotzdem stellt sich die Frage, worin das widerrechtliche und grobfahrlässige Verhalten besteht.
 
7.1 Die Vorinstanz erblickt dies offenbar darin, dass die Beschwerdeführerin über den sozialversicherungsrechtlichen Status der Arbeitnehmerinnen nicht Bescheid gewusst habe. Dem kann in dieser Form nicht gefolgt werden. Die Beschwerdeführerin hat ihre Abrechnungspflicht immerhin insoweit erfüllt, als sie der Ausgleichskasse regelmässig die Jahresabrechnung geschickt hat mit dem Vermerk, sie habe keine Löhne ausbezahlt. Sie war offensichtlich bis zur Nachtragsverfügung der Ausgleichskasse vom 12. Dezember 2003 der Meinung, die Enhancerinnen seien selbstständigerwerbend. Die Gerichte haben dann zwar anders entschieden, aber es ist noch nicht grobfahrlässig, wenn eine Rechtsauffassung vertreten wird, die in guten Treuen vertreten werden kann (Urteil G. vom 2. Februar 2005, H 86/02, E. 5.5.1 mit Hinweisen). Dies ist hier der Fall, denn es gab immerhin Argumente, mit denen der Status als Selbstständige begründet werden konnte. Soweit der Beschwerdeführerin vorgeworfen wird, sie hätte sich nach der rechtlichen Qualifikation erkundigen sollen, ist zu beachten, dass sie immerhin eine Treuhandfirma als Revisionsstelle beigezogen hat und dass nach der Rechtsprechung nicht voraussetzungslos von der Ausgleichskasse eine Feststellungsverfügung über den Beitragsstatus verlangt werden kann (BGE 132 V 257 E. 2, 129 V 289). Anzufechten ist in der Regel erst die Beitragsverfügung. Es kann aber auch nicht verlangt werden, dass jemand entgegen seiner eigenen Rechtsauffassung Löhne deklariert und dann die Beitragsverfügung anficht. Die Ausgleichskasse hat jahrelang auf die Jahresabrechnungen der Beschwerdeführerin nicht reagiert. Erst auf den Revisionsbericht vom 28. November 2003 hin, der der Ausgleichskasse empfahl, die Entgelte nachzuerfassen, weil es sich um selbstständige Tätigkeit handle, hat sie die Nachtragsverfügung erlassen. Der Beschwerdeführerin kann nach dem Gesagten nicht Grobfahrlässigkeit vorgeworfen werden, wenn sie bis zum Eintreffen einer solchen Beitragsverfügung so gehandelt hat, wie sie oder ihr Treuhänder die Sache beurteilte.
 
7.2 Hingegen hätte die Beschwerdeführerin aufgrund der drei Nachtragsverfügungen vom 12. Dezember 2003 Rückstellungen bilden müssen (siehe Urteil C. vom 4. August 2005, H 29/05, E. 3). Die Unterlassung solcher Rückstellungen ist ein grober Fehler. Dieser ist auch mit überwiegender Wahrscheinlichkeit kausal für den Schaden. Die Firma hat immerhin nach dieser Verfügung noch rund 1 3/4 Jahre bestanden und hätte damit ausreichend Zeit gehabt, Mittel für die Eventualverbindlichkeit bereitzustellen, auch wenn in der Erfolgsrechnung per 31. Dezember 2003 ein Verlust ausgewiesen wird. Eine dauernde Überschuldung ist nicht anzunehmen, hätte doch sonst die Beschwerdeführerin als Verwaltungsrätin nach Art. 725/725a OR vorgehen müssen, was sie offensichtlich nicht getan hat.
 
8.
 
Schliesslich ist auch das Argument des Mitverschuldens der Kasse unerheblich. Zum Einen ist der vierjährige Revisionsrhythmus gemäss Art. 162 AHVV nur "in der Regel" vorgeschrieben. Zum Andern geht es ja nur um die Beiträge für die Jahre 2000 bis 2002; im Jahre 2003 wurde eine Revision durchgeführt; selbst wenn ein vierjähriger Rhythmus zwingend wäre, würde die Kasse bezüglich der hier zur Diskussion stehenden Beiträge somit kein Verschulden treffen.
 
9.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird die unterliegende Beschwerdeführerin kostenpflichtig (Art. 134 OG e contrario in Verbindung mit Art. 156 OG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt und mit dem geleisteten Kostenvorschuss verrechnet.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 23. April 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).