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Informationen zum Dokument  BGer I 775/2006  Materielle Begründung
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BGer I 775/2006 vom 14.08.2007
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 775/06
 
Urteil vom 14. August 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Kernen, Seiler,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
Parteien
 
S.________, 1987, Beschwerdeführerin, vertreten durch die Pro Infirmis Zürich,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17, 8005 Zürich, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Juni 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1987 geborene S.________ besuchte bis zur 5. Klasse die Volks- und alsdann die Sonderschule, welche sie im Juli 2003 beendete. Vom 18. August 2003 bis 17. August 2005 absolvierte sie eine zweijährige Anlehre zur Hauswirtschaftsmitarbeitern in der Ausbildungsstätte Y.________. Die Invalidenversicherung übernahm die behinderungsbedingten Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung. Seit Mitte August 2005 arbeitet die Versicherte als hauswirtschaftliche Mitarbeiterin in der Stiftung X.________. Das Arbeitspensum beträgt 100 % (37,5 Stunden pro Woche) und der Stundenlohn Fr. 2.90, was einem Monatslohn von zirka Fr. 460.- entspricht.
 
Nachdem die Ausbildungsstätte Y.________ der IV-Stelle des Kantons Zürich ihren Schlussbericht vom 13. Juli 2005 zugestellt hatte, in welchem sie sinngemäss die Zusprechung einer Rente der Invalidenversicherung an S.________ beantragte, klärte die IV-Stelle die medizinischen Verhältnisse ab, indem sie einen Bericht des Hausarztes Dr. med. M.________, Allgemeine Medizin FMH, vom 6. September 2005 einholte. Gestützt darauf verneinte sie mit Verfügung vom 21. September 2005 einen Rentenanspruch mit der Begründung, es liege kein relevanter Gesundheitsschaden vor. Daran hielt sie auf Einsprache der Versicherten hin fest (Entscheid vom 28. November 2005).
 
B.
 
Beschwerdeweise liess S.________ beantragen, es sei der Einspracheentscheid aufzuheben und die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit diese medizinische Abklärungen vornehme und über den Rentenanspruch neu befinde. Mit Entscheid vom 30. Juni 2006 wies das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich die Beschwerde ab.
 
C.
 
S.________ lässt Verwaltungsgerichtsbeschwerde führen und das Rechtsbegehren stellen, der angefochtene und der Einspracheentscheid seien aufzuheben. Es sei ihr eine ganze Rente der Invalidenversicherung zuzusprechen. Eventualiter sei die Sache zur ergänzenden medizinischen Abklärung (an die IV-Stelle) zurückzuweisen. Des Weitern ersucht sie um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung, Verbeiständung). Mit der Beschwerde hat sie einen Bericht des Dr. med. M.________ vom 1. September 2006 sowie eine Standortbestimmung der Stiftung X.________ vom 7. September 2006 und im Nachgang zu derselben am 3. Oktober 2006 einen Bericht der Psychiatrischen Universitätsklinik Z.________ vom 22. September 2006 eingereicht.
 
Während die IV-Stelle auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde schliesst, lässt sich das Bundesamt für Sozialversicherungen nicht vernehmen.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 393 E. 1.2 S. 395).
 
2.
 
Der kantonale Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht prüft daher nur, ob die Vorinstanz Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006] in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
3.
 
Akten, die ausserhalb der Rechtsmittelfrist und nicht im Rahmen eines zweiten Schriftenwechsels (Art. 110 Abs. 4 OG) eingereicht werden, sind beachtlich, soweit sie neue erhebliche Tatsachen oder entscheidende Beweismittel im Sinne von Art. 137 lit. b OG enthalten und diese eine Revision des Gerichtsurteils rechtfertigen könnten (BGE 127 V 353). Wie aus nachstehender E. 5.2 hervorgeht, erfüllt der von der Beschwerdeführerin am 3. Oktober 2006 eingereichte Bericht der Psychiatrischen Universitätsklinik Z.________ vom 22. September 2006 diese Voraussetzungen, weshalb er bei der Beurteilung berücksichtigt werden kann.
 
4.
 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf eine Invalidenrente. Im Einspracheentscheid werden die Bestimmungen und Grundsätze über den Begriff der Invalidität (Art. 8 Abs. 1 ATSG in Verbindung mit Art. 4 Abs. 1 IVG), die Voraussetzungen für einen Rentenanspruch und dessen Umfang (Art. 28 IVG) sowie die Aufgabe des Arztes im Rahmen der Invaliditätsbemessung (BGE 125 V 256 E. 4 S. 261) zutreffend dargelegt. Gleiches gilt für die vorinstanzliche Darstellung der Rechtsprechung zu den geistigen Gesundheitsschäden. Darauf wird verwiesen.
 
5.
 
5.1 Während feststeht und unbestritten ist, dass die Beschwerdeführerin an keinem körperlichen Gesundheitsschaden leidet, ist streitig und zu prüfen, ob bei ihr ein geistiger Gesundheitsschaden, welcher die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt, vorliegt. Die Vorinstanz hat dies verneint mit der Begründung, die von Dr. med. M.________ im Bericht vom 6. September 2005 angeführte Lernbeeinträchtigung/Leistungsschwäche habe keinen Krankheitswert und auch die übrigen Akten enthielten keine Anhaltspunkte für eine relevante psychische Störung.
 
5.2 Diese auf ärztliche Einschätzungen gestützte Beurteilung des Gesundheitszustandes der Beschwerdeführerin betrifft eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 398), welche letztinstanzlich lediglich unter eingeschränktem Blickwinkel (E. 2 hiervor) überprüfbar ist. Die vorinstanzliche Feststellung, wonach bei der Beschwerdeführerin kein geistiger Gesundheitsschaden vorliegt, welcher die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigt, erweist sich - namentlich im Lichte der nachträglich eingereichten und beachtlichen (E. 3) Eingabe - aus folgenden Gründen als offensichtlich unrichtig:
 
Es trifft zwar zu, dass Dr. med. M.________ in seinem Bericht vom 6. September 2005 als Diagnose mit Auswirkung auf die Arbeitsfähigkeit nur (und etwas unbestimmt) eine allgemeine Lernbeeinträchtigung/Leistungsschwäche aufgeführt hat, ohne anzugeben, wie sich diese auswirkt. Namentlich vor dem Hintergrund der bereits im Jahre 1998 durch Dr. med. K.________, Facharzt für Pädiatrie FMH, bei der Beschwerdeführerin diagnostizierten Debilität (Bericht vom 8. Dezember 1998) durfte indessen aus den Ausführungen des Dr. med. M.________ unter keinen Umständen ohne weitere Abklärungen geschlossen werden, die Lernbeeinträchtigung/Leistungsschwäche habe keinen Krankheitswert und wirke sich auf die Arbeitsfähigkeit nicht aus. Hinzu kommt, dass, entgegen der von der Vorinstanz vertretenen Auffassung, auch die weiteren bereits im kantonalen Verfahren vorliegenden Akten - der Schnupper- und Probezeitbericht der Stiftung X.________ vom 10. November/19. Dezember 2005 sowie der Schlussbericht der Ausbildungsstätte Y.________ vom 13. Juli 2005 - Anhaltspunkte dafür enthielten, dass der diagnostizierten Lernbeeinträchtigung/Leistungsschwäche Krankheitswert zukommt. Wie aus dem von der Beschwerdeführerin im letztinstanzlichen Verfahren eingereichten Schreiben des Dr. med. M.________ an das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich vom 1. September 2006 hervorgeht, sind die ärztlichen Ausführungen vom 6. September 2005 denn auch keineswegs dahingehend zu verstehen, dass bei der Beschwerdeführerin keine neuropsychologische Beeinträchtigung besteht, sondern ist vielmehr von "sehr relevanten" Einschränkungen auszugehen. Deren Auswirkungen werden in der (im letztinstanzlichen Verfahren eingereichten) Standortbestimmung der Stiftung X.________ vom 7. September 2006 einlässlich beschrieben. Im entsprechenden Bericht wird im Wesentlichen ausgeführt, dass die Beschwerdeführerin bei ihrer Arbeit sowohl betreffend Zuverlässigkeit als auch hinsichtlich Selbstständigkeit Defizite aufweise und deshalb eine (in der freien Wirtschaft nicht vorhandene) Anleitungs- und Begleitungszeit brauche. So könne sie sich maximal ein bis zwei Stunden konzentrieren, verfüge über eine Leistungsfähigkeit von ca. 10-20 %, brauche eine enge Begleitung bzw. Kontrolle und sei nicht in der Lage, grössere Einheiten (z.B. eine Wohnung oder eine Büroeinheit) mit vorgegebenem Ablauf zu reinigen oder Veränderungen (z.B. Abläufe, Zeiten, Dosieranleitungen) aus einem Plan zu lesen und umzusetzen. Im Rahmen der durch den Hausarzt Dr. med. M.________ im September 2006 veranlassten neuropsychologischen Abklärung durch die Psychiatrische Universitätsklinik Z.________ wurde bei der Beschwerdeführerin eine leichte Minderintelligenz F70.1 mit sozialen Verhaltensauffälligkeiten diagnostiziert. Des Weitern führten die Ärzte aus, in der Untersuchung hätten sich durchschnittliche und altersgerechte sprachliche Gedächtnisleistungen bei deutlich defizitären Leistungen im visuellen Gedächtnis sowie Minderleistungen in der räumlich-konstruktiven Wahrnehmung, der Feinmotorik sowie im Sprachverständnis und im Arbeitstempo abgezeichnet. Erwartungsgemäss seien bei Menschen mit einer Minderintelligenz insbesondere die exekutiven Funktionen (Handlungsplanung und Antizipation, Flexibilität, Arbeitsgedächtnis) beeinträchtigt, was eine selbstständige Erwerbsarbeit in der freien Wirtschaft verunmögliche. Die hier vorliegenden Befunde seien vereinbar mit den Beobachtungen am Arbeitsplatz in der Stiftung X.________, wo die Beschwerdeführerin einfache Putzarbeiten nur unter stetiger Anleitung und Begleitung ausführen könne (Bericht der Psychiatrischen Universitätsklinik Z.________ vom 22. September 2006). Diese Untersuchungsergebnisse haben (bereits von der Art des Gesundheitsschadens her) auch Gültigkeit hinsichtlich des rechtsprechungsgemäss (BGE 130 V 445 E. 1.2 S. 446) für die richterliche Beurteilung massgebenden Zeitraums bis zum Erlass des Einpracheentscheids (28. November 2005). Anders als in dem von der Vorinstanz zitierten Urteil I 775/05 vom 6. März 2006, in welchem es um eine Person mit einem Intelligenzquotienten (IQ) von 80 Punkten ging, beträgt der IQ der Beschwerdeführerin gemäss diesem Bericht nur 63, was in der Regel zu einer IV-rechtlich relevanten verminderten Arbeitsfähigkeit führt (vgl. Rz. 1011 Kreisschreiben über Invalidität und Hilflosigkeit [KSIH]). Insgesamt steht mithin fest, dass die Beschwerdeführerin an einem die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigenden und damit invalidenversicherungsrechtlich relevanten geistigen Gesundheitsschaden leidet.
 
5.3 Unter diesen Umständen ist die Sache an die IV-Stelle zurückzuweisen, damit sie die Auswirkungen des geistigen Gesundheitsschadens prüfe und über den Leistungsanspruch der Versicherten anschliessend neu verfüge.
 
6.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 134 OG in der seit 1. Juli 2006 Kraft stehenden Fassung; Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG). Entsprechend seinem Ausgang sind die Gerichtskosten der IV-Stelle aufzuerlegen. Diese hat der Beschwerdeführerin zudem eine Parteientschädigung zu bezahlen. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege (Prozessführung, Verbeiständung) ist damit gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
In teilweiser Gutheissung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde werden der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 30. Juni 2006 und der Einspracheentscheid der IV-Stelle des Kantons Zürich vom 28. November 2005 aufgehoben. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Zürich zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Zürich auferlegt.
 
3.
 
Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat der Beschwerdeführerin für das Verfahren vor dem Bundesgericht eine Parteientschädigung von Fr. 2500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu bezahlen.
 
4.
 
Das Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich wird über eine Parteientschädigung für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 14. August 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
i.V.
 
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