VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 9C_341/2007  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 9C_341/2007 vom 16.11.2007
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_341/2007
 
Urteil vom 16. November 2007
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
Parteien
 
B.________, 1952, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Alex Beeler, Frankenstrasse 3, 6003 Luzern,
 
gegen
 
IV-Stelle Luzern, Landenbergstrasse 35, 6005 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 9. Mai 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1952 geborene B.________ arbeitete seit 16. Oktober 1978 als Kassiererin bei der Firma M.________. Am 3. Januar 2005 wurde sie an der Halswirbelsäule operiert (mikrotechnische vordere Diskektomie sowie interkorporelle Spondylodese C5/6 und C6/7). Am 11. Juli 2005 nahm B.________ die Arbeit als Kassiererin zu 50 % wieder auf. Wegen zunehmender Rückenbeschwerden wurde am 16. Dezember 2005 unter der Diagnose eines lumbospondylogenen Syndroms mit intermittierender Ausstrahlung links mehr als rechts eine therapeutische lumbale Periduralanästhesie (PDA) durchgeführt.
 
Im Oktober 2004 hatte sich B.________ bei der Invalidenversicherung angemeldet und Umschulung oder/und eine Rente beantragt. Nach Abklärung der gesundheitlichen und erwerblichen Verhältnisse sowie einem Triagegespräch am 16. Februar 2006 verneinte die IV-Stelle Luzern mit Verfügung vom 3. März 2006 den Anspruch auf eine Rente, was sie mit Einspracheentscheid vom 24. März 2006 bestätigte.
 
B.
 
Die Beschwerde der B.________ wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 9. Mai 2007 ab.
 
C.
 
B.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 9. Mai 2007 sei aufzuheben und es sei ihr eine Rente bei einer Invalidität von 50 % auszurichten.
 
Kantonales Verwaltungsgericht und IV-Stelle beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
2.
 
Die IV-Stelle ermittelte durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG sowie BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V 343) einen Invaliditätsgrad von 29 %, was keinen Anspruch auf eine Rente ergibt (Art. 28 Abs. 1 IVG). Das Invalideneinkommen im Besonderen bestimmte sie auf der Grundlage der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2004 des Bundesamtes für Statistik (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 und BGE 124 V 321). Dabei ging die Verwaltung gestützt auf die im Verlaufsprotokoll unter dem 17. Mai 2005 und 16. Februar 2006 wiedergegebene Beurteilung des Regionalärztlichen Dienstes davon aus, dass leichte, wechselbelastende Tätigkeiten ohne Zwangshaltungen vor allem des Kopfes, ohne repetitive Kopfrotationen und ohne Überkopfarbeiten, ohne klimatische Nässe- und Kälteexposition bei ganztägiger zeitlicher Präsenz mit gelegentlichen Pausen bei einer Leistung von 80 % zumutbar seien (Einspracheentscheid vom 24. März 2006 E. 2b und c).
 
Das kantonale Gericht hat die Invaliditätsbemessung der IV-Stelle als rechtens erachtet. In tatsächlicher Hinsicht hat die Vorinstanz festgestellt, der Regionalärztliche Dienst habe zwar keine eigenständigen medizinischen Untersuchungen vorgenommen. Die im Protokoll unter dem 16. Februar 2006 festgehaltene Beurteilung einer Arbeitsfähigkeit von 80 % in leidensangepassten Tätigkeiten sei jedoch nachvollziehbar. Diese Einschätzung stehe in Einklang mit den zahlreichen aktenkundigen Berichten verschiedener Ärzte. Diesbezügliche (weitere) Abklärungen seien nicht erforderlich. Eine allfällige Verschlechterung des Gesundheitszustandes sei nicht vor Erlass des Einspracheentscheides vom 24. März 2006 eingetreten und daher unbeachtlich. Schliesslich wäre der Versicherten zumutbar, die aktuell zu 50 % ausgeübte Tätigkeit als Kassiererin zu Gunsten einer ihrem Leiden besser angepassten Tätigkeit aufzugeben.
 
3.
 
In der Beschwerde wird gerügt, das kantonale Gericht habe den rechtserheblichen Sachverhalt unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt. Der Stellungnahme des Regionalärztlichen Dienstes vom 16. Februar 2006 im Verlaufsprotokoll komme nach der Praxis der Vorinstanz (LGVE 2005 II Nr. 36) lediglich die Bedeutung einer Empfehlung zuhanden der IV-Stelle zur weiteren Dossierbehandlung zu. Es handle sich um einen versicherungsinternen Entscheidungsprozess ohne direkte Aussenwirkung. Dies entspreche wohl auch der höchstrichterlichen Rechtsprechung. Der Beurteilung des Regionalärztlichen Dienstes vom 16. Februar 2006 komme somit kein Beweiswert zu. Die gegenteilige Auffassung verletze Bundesrecht. Es komme dazu, dass der beim Triagegespräch vom 16. Februar 2006 anwesende RAD-Arzt gemäss FMH-Ärzteindex Allgemeinmediziner sei. Damit sei er aber nicht befähigt, den vorliegenden Fall, in welchem es um Wirbelsäulenbeschwerden gehe, zu beurteilen. Schliesslich sei die Behauptung, die medizinischen Akten lieferten keinen Anhaltspunkt dafür, dass nicht nur in der angestammten Tätigkeit eine 50%ige Einschränkung bestehe, und auch die Feststellung, die angestammte Tätigkeit als Kassiererin sei nicht beschwerdeadaptiert, offensichtlich unrichtig. Zusammenfassend hätte die Vorinstanz bei Zweifeln an der von den übrigen Ärzten attestierten 50%igen Einschränkung in sämtlichen Tätigkeiten zumindest eine neutrale medizinische Begutachtung bei einem Wirbelsäulenspezialisten anordnen müssen.
 
4.
 
4.1 Bei den Eintragungen des RAD im Verlaufsprotokoll handelt es sich unbestrittenermassen um Berichte im Sinne von Art. 49 Abs. 3 IVV. Nach dieser Vorschrift stellen die regionalärztlichen Dienste den IV-Stellen für jeden geprüften Fall einen schriftlichen Bericht mit den notwendigen Angaben zu (Satz 1). Dieser enthält die Ergebnisse der medizinischen Prüfung und eine Empfehlung zur weiteren Bearbeitung des Leistungsbegehrens aus medizinischer Sicht (Satz 2). Berichte nach Art. 49 Abs. 3 IVV sind weder medizinische Gutachten im Sinne von Art. 44 ATSG noch Untersuchungsberichte gemäss Art. 49 Abs. 2 IVV. Ihre Funktion besteht darin, den medizinischen Sachverhalt zusammenzufassen und zu würdigen. Dazu gehört auch, bei sich widersprechenden medizinischen Akten eine Wertung vorzunehmen und zu beurteilen, ob auf die eine oder die andere Ansicht abzustellen oder aber eine zusätzliche Untersuchung vorzunehmen sei. Berichten nach Art. 49 Abs. 3 IVV kann entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht jegliche Aussen- oder Beweiswirkung abgesprochen werden. Vielmehr sind sie entscheidrelevante Aktenstücke (Urteil I 143/07 vom 14. September 2007 E. 3.3 mit Hinweisen; vgl. auch Urteil I 694/05 vom 15. Dezember 2006 E. 5).
 
Nach der Rechtsprechung ist es dem Sozialversicherungsgericht nicht verwehrt, gestützt auf im Wesentlichen oder sogar ausschliesslich vom am Recht stehenden Versicherungsträger intern eingeholte medizinische Unterlagen zu entscheiden. In solchen Fällen sind an die Beweiswürdigung jedoch strenge Anforderungen in dem Sinne zu stellen, dass bei auch nur geringen Zweifeln an der Zuverlässigkeit und Schlüssigkeit der ärztlichen Feststellungen ergänzende Abklärungen vorzunehmen sind (BGE 122 V 157 E. 1d S. 162; Urteil U 365/06 vom 26. Januar 2007 E. 4.1 mit Hinweisen). Eine fehlende fachspezifische Qualifikation stellt ein Indiz gegen die Zuverlässigkeit und damit den Beweiswert eines ärztlichen Berichts dar (vgl. Urteile I 211/06 vom 22. Februar 2007 E. 5.4.1 und I 178/00 vom 3. August 2000 E. 4a; vgl. auch Urteil I 65/07 vom 31. August 2007).
 
4.2
 
4.2.1 Es findet sich in den gesamten Akten keine auf eigenen Untersuchungen beruhende, in Kenntnis der wesentlichen medizinischen Unterlagen ergangene fachärztliche Einschätzung der Arbeitsfähigkeit. Der behandelnde Arzt Dr. med. G.________ äusserte sich in seinem Bericht vom 3. Januar 2006 lediglich zur Arbeitsfähigkeit in der angestammten Tätigkeit als Kassiererin, und dies auch nur in dem Sinne, dass er keinen Grund sehe, weshalb - nach der am 16. Dezember 2005 durchgeführten therapeutischen lumbalen PDA - nicht eine Wiederaufnahme zu 50 % erfolgen sollte. Auch der Hausarzt Dr. med. V.________ attestierte eine Arbeitsfähigkeit von 50 % als Kassiererin ab 11. Juli 2005 bis auf weiteres (Bericht vom 5. August 2005). Bei dieser Sachlage muss die vorinstanzliche Feststellung, die Einschätzung des Regionalärztlichen Dienstes einer Arbeitsfähigkeit von 80 % in leidensangepassten Tätigkeiten stehe in Einklang mit den zahlreichen aktenkundigen Berichten verschiedener Ärzte, als offensichtlich unrichtig bezeichnet werden.
 
4.2.2 Entgegen dem kantonalen Gericht kann auch nicht gesagt werden, die Beurteilung des Regionalärztlichen Dienstes gemäss den Eintragungen vom 17. Mai 2005 und 16. Februar 2006 im Verlaufsprotokoll sei gestützt auf die medizinischen Unterlagen nachvollziehbar. Dieser Schluss verbietet sich schon deshalb, weil kein Facharzt sich bis zu diesem Zeitpunkt auch nur annähernd in diesem Sinne geäussert hatte. Selbst wenn davon ausgegangen wird, die Beschwerdeführerin könnte in einer anderen Tätigkeit mehr als 50 % arbeiten, ergibt sich daraus nicht eine 80%ige Arbeitsfähigkeit. Aufgrund der Aktenlage wäre eine Arbeitsfähigkeit von beispielsweise 65 % ebenso nachvollziehbar, dies allerdings mit der Konsequenz, dass bei im Übrigen gleichen Berechnungsfaktoren die Invaliditätsbemessung der IV-Stelle einen anspruchsbegründenden Invaliditätsgrad von 43 % ergäbe.
 
4.2.3 Schliesslich kann entgegen der Auffassung des kantonalen Gerichts den nach Erlass des Einspracheentscheids vom 24. März 2006 erstellten ärztlichen Berichten nicht jegliche Bedeutung für das vorliegende Verfahren abgesprochen werden (Urteil 9C_101/2007 vom 12. Juni 2007 E. 3.1). Gemäss diesen bei der Vorinstanz eingereichten Unterlagen kam es im Mai/Juni 2006 zu einer Verschlimmerung der lumbalen Beschwerden. Am 13. November 2006 wurde die Versicherte wegen segmentaler Instabilität/Segmentkollaps L4/5 und konsekutiver Spinalstenose operiert (Berichte Dr. med. S.________ vom 23. Oktober und 24. November 2006). Bereits im MRI vom 30. November 2005 hatte sich indessen auf Höhe L4/5 ein vollständiger Segmentkollaps mit Anterolysthesis L4 über L5 von ca. 4 mm mit zusätzlich deformierenden und proliferativen Spondylarthrosen an diesem Segment aber auch im Bereich der darüber und darunter liegenden Segmente gezeigt (Bericht Dr. med. R.________ vom 1. September 2006). In diesem Zusammenhang steht fest, dass dem Regionalärztlichen Dienst die Röntgenbilder und MRI nicht vorgelegen hatten. Ohne das erwähnte MRI der LWS vom 30. November 2005 kann aufgrund des Gesagten aber entgegen der Vorinstanz nicht davon gesprochen werden, die Aktenbeurteilung des Regionalärztlichen Dienstes der IV-Stelle beruhe - immerhin - auf einem lückenlosen Untersuchungsbefund.
 
4.3 Die Invaliditätsbemessung der Vorinstanz beruht somit auf offensichtlich unrichtigen Feststellungen. Da die Sache nicht spruchreif ist, ist sie an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen (Art. 107 Abs. 2 Satz 2 BGG), welche die Einholung eines versicherungsexternen Administrativgutachtens einzuholen hat. Danach und allenfalls nach weiteren Abklärungen wird die Verwaltung über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfügen.
 
Bei diesem Ergebnis kann die Frage offen bleiben, ob bei der Beurteilung des Regionalärztlichen Dienstes auch ein auf Wirbelsäulenleiden spezialisierter Arzt mitwirkte, was die IV-Stelle in ihrer Vernehmlassung zu bejahen scheint. Ebenfalls braucht nicht auf die Frage der Zumutbarkeit eines Stellenwechsels eingegangen zu werden. Dieser Punkt ist je nach Abklärungsergebnis allenfalls neu zu beurteilen.
 
5.
 
Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern vom 9. Mai 2007 und der Einspracheentscheid vom 24. März 2006 aufgehoben werden und die Sache an die IV-Stelle Luzern zurückgewiesen wird, damit sie nach Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung neu verfüge.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle Luzern auferlegt.
 
3.
 
Die IV-Stelle Luzern hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) zu entschädigen.
 
4.
 
Das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern hat die Parteientschädigung für das erstinstanzliche Beschwerdeverfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses festzusetzen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Abgaberechtliche Abteilung, der Ausgleichskasse Grosshandel + Transithandel und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 16. November 2007
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Fessler
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).