BGer 9C_603/2007 | |||
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BGer 9C_603/2007 vom 08.01.2008 | |
Tribunale federale
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{T 0/2}
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9C_603/2007
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Urteil vom 8. Januar 2008
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II. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
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Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
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Gerichtsschreiber Fessler.
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Parteien
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T.________, Beschwerdeführer,
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vertreten durch Rechtsanwalt Reto Zanotelli, Weinbergstrasse 43, 8006 Zürich,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Zürich, Röntgenstrasse 17,
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8005 Zürich, Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich
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vom 19. Juli 2007.
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Sachverhalt:
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A.
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Der 1963 geborene T.________ bezog ab 1. Februar 2000 aufgrund eines Invaliditätsgrades von 68 % eine ganze Rente der Invalidenversicherung samt zwei Kinderrenten. Im Januar 2004 leitete die IV-Stelle des Kantons Zürich aufgrund der geänderten Rechtslage seit Anfang Jahr, wonach neu bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 60 % und weniger als 70 % Anspruch auf eine Dreiviertelrente besteht, ein Revisionsverfahren ein. Mit Verfügung vom 8. September 2004 setzte sie in Bestätigung des Invaliditätsgrades von 68 % die ganze Rente mit Wirkung ab 1. November 2004 auf eine Dreiviertelrente herab. Dagegen liess T.________ Einsprache erheben.
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Am 17. August 2005 wurde T.________ internistisch, rheumatologisch und psychiatrisch untersucht (Expertise vom 6. September 2005). Mit Einspracheentscheid vom 15. Februar 2006 hielt die IV-Stelle an der Herabsetzung der ganzen Rente auf eine Dreiviertelrente fest. In der Begründung wurde zudem darauf hingewiesen, dass gemäss Gutachten spätestens ab 17. August 2005 eine behinderungsangepasste Tätigkeit zu einem Pensum von 100 % zumutbar sei mit einer Leistungseinbusse von 20 %. Die Dreiviertelrente werde sofort in Revision gezogen. Ein separater Entscheid folge. Am folgenden Tag verfügte die IV-Stelle die Aufhebung der Dreiviertelrente auf Ende des der Zustellung des Verwaltungsaktes folgenden Monats. Hiegegen liess T.________ Einsprache erheben.
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B.
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T.________ liess beim Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich Beschwerde einreichen und beantragen, der Einspracheentscheid vom 15. Februar 2006 sei aufzuheben und es sei ihm auch nach dem 1. November 2004 eine ganze Invalidenrente auszurichten.
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Nach Vernehmlassung der IV-Stelle machte das Gericht T.________ darauf aufmerksam, dass sich der Anspruch auf eine Dreiviertelrente ab 1. November 2004 allenfalls nicht bestätigen lassen könnte und dass er die Beschwerde zurückziehen könne, was dieser jedoch ablehnte.
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Die IV-Stelle reichte weitere Akten ein, wozu der Rechtsvertreter von T.________ Stellung nahm.
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Mit Entscheid vom 19. Juli 2007 wies das kantonale Sozialversicherungsgericht die Beschwerde ab und stellte in Abänderung des Einspracheentscheides vom 15. Februar 2006 fest, dass ab 1. September 2005 kein Rentenanspruch mehr bestehe.
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C.
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T.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 19. Juli 2007 sei aufzuheben und es sei zu erkennen, dass die IV-Stelle ihm auch nach dem 1. November 2004 eine ganze Rente auszurichten habe.
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Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
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1.
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Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat. Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG). Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
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2.
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Anfechtungsgegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens bildete der Einspracheentscheid vom 15. Februar 2006, Streitgegenstand die Herabsetzung der ganzen Rente auf eine Dreiviertelrente zum 1. November 2004 im Verfahren nach lit. f der Schlussbestimmungen zur 4. IV-Revision vom 21. März 2003 (vgl. dazu Urteil I 462/06 vom 1. November 2006). Die mit Verfügung vom 16. Februar 2006 angeordnete Aufhebung der Rente auf Ende März 2006 war nicht Gegenstand des vorinstanzlichen Verfahrens. Die vom Einspracheentscheid vom 15. Februar 2006 getrennt erlassene Verfügung vom 16. Februar 2006 verstösst nicht gegen den Grundsatz der integralen Verfügungspflicht (BGE 131 V 164), weil sie sich nicht auf zurückliegende, sondern künftige Ansprüche bezieht.
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3.
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Die IV-Stelle setzte aufgrund eines unveränderten Invaliditätsgrades von 68 % die ganze Rente mit Wirkung ab 1. November 2004 auf eine Dreiviertelrente herab (Art. 28 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung). Das kantonale Gericht hat diese übergangsrechtliche Anpassung des Anspruchsumfangs bestätigt, zudem aber gestützt auf Art. 17 Abs. 1 ATSG und Art. 88a Abs. 1 IVV (vgl. BGE 131 V 164 E. 2.2 S. 165, 125 V 413 E. 2d S. 417 unten) die Dreiviertelrente zum 1. September 2005 aufgehoben. Der Beschwerdeführer rügt zu Recht, dass nach der Rechtsprechung im Falle einer reformatio in peius im verwaltungsgerichtlichen Verfahren die Herabsetzung oder Aufhebung der Rente - von hier nicht interessierenden Ausnahmen abgesehen - in sinngemässer Anwendung von Art. 88bis Abs. 2 lit. a IVV nur für die Zukunft erfolgen darf (BGE 107 V 17; AHI 2000 S. 303 [I 225/99]; Urteile I 276/01 vom 1. März 2002 und I 278/02 vom 24. Juni 2002). Der vorinstanzliche Entscheid ist im Juli 2007 eröffnet worden. Die Dreiviertelrente hätte somit unter beschwerdeverfahrensrechtlichem Blickwinkel - im Rahmen der vorinstanzlichen reformatio in peius - frühestens mit Wirkung ab 1. September 2007 herabgesetzt oder aufgehoben werden können. Dieser Zeitpunkt liegt indessen ausserhalb des durch den Einspracheentscheid vom 15. Februar 2006 begrenzten gerichtlichen Prüfungszeitraums (BGE 131 V 353 E. 2 S. 354). Der vom kantonalen Gericht auf 1. September 2005 angeordnete Rentenentzug ist daher aufzuheben. Davon unabhängig stellt sich die Frage, ob der Rentenanspruch revisionsrechtlich (Art. 17 ATSG) nach dem 15. Februar 2006 zu modifizieren sei, was in dem gegen die Verfügung vom 16. Februar 2006 eingeleiteten Einspracheverfahren materiellrechtlich frei zu prüfen sein wird.
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4.
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4.1 Das kantonale Gericht hat die Herabsetzung der ganzen Rente auf eine Dreiviertelrente zum 1. November 2004 mit folgender Begründung bestätigt: Für die Zeit ab Februar 2000 sei aufgrund des Berichts der Rehabilitationsklinik Y.________ vom 4. Mai 2000 von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepassten Tätigkeiten auszugehen. An dieser Einschätzung habe sich bis zur Untersuchung vom 17. August 2005 nichts geändert. Bis zu diesem Zeitpunkt sei somit der der Zusprechung der ganzen Rente mit Verfügung vom 5. Dezember 2000 zugrunde liegende Invaliditätsgrad von 68 % massgebend. Dies gebe nach Art. 28 Abs. 1 IVG in der seit 1. Januar 2004 geltenden Fassung Anspruch auf eine Dreiviertelrente.
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4.2 Nach dem Normzweck von lit. f zweiter Satz der Schlussbestimmungen zur 4. IV-Revision vom 21. März 2003 sollen ganze Renten bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 66 2/3 % und weniger als 70 % bei Bezügerinnen und Bezügern, die am 1. Januar 2004 das 50. Altersjahr noch nicht vollendet haben, nicht ab diesem Zeitpunkt auf eine Dreiviertelrente herabgesetzt werden, ohne dass geprüft wird, ob die tatsächlichen und rechtlichen Voraussetzungen hiefür gegeben sind. Dies bedeutet, dass der Invaliditätsgrad grundsätzlich frei und ohne Bindung an frühere Invaliditätsschätzungen - durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG; BGE 128 V 29 E. 1 S. 30 in Verbindung mit BGE 130 V 343) - zu ermitteln ist.
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4.2.1 Die Vorinstanz ist aufgrund der medizinischen Akten von einer Arbeitsfähigkeit von 50 % in leidensangepassten Tätigkeiten für 2004 ausgegangen. Dies ist nicht offensichtlich unrichtig und wird auch nicht beanstandet.
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4.2.2 Für die Bestimmung des Valideneinkommens ist vom zuletzt erzielten, der Nominallohnentwicklung angepassten Verdienst auszugehen (Urteile I 732/06 vom 2. Mai 2007 E. 2.2 und I 809/05 vom 12. Juni 2006 E. 3.1 mit Hinweisen). Gemäss Fragebogen für den Arbeitgeber vom 28. Oktober 1999 hätte der Beschwerdeführer ab 1. Januar dieses Jahres bei einer betrieblichen Normalarbeitszeit von 42 Stunden in der Woche Fr. 69'940.- (13 x Fr. 5380.-) verdient. Auf diese Angabe kann entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers abgestellt werden. Es trifft zwar zu, dass er 1997 einen Lohn von Fr. 71'722.25 erzielt hatte. Die dafür geleisteten 2055 Arbeitsstunden betrugen jedoch mehr als die betriebliche Jahresarbeitszeit bei 4 Wochen Ferien von 2016 Stunden (42 Stunden/Woche x 48 Wochen). Die diesem Soll entsprechenden Fr. 69'940.- auf 2055 Stunden hochgerechnet ergibt Fr. 71'293.-. Dieser Betrag erhöht sich noch, wenn die im Monatslohn abgegoltenen Feiertage berücksichtigt werden. Somit ist von einem ohne gesundheitliche Beeinträchtigung erzielten Verdienst von Fr. 69'940.- für 1999 auszugehen. An die Nominallohnentwicklung (1999/2000: 1,3 %, 2000/01: 2,5 %, 2001/02: 1,8 %, 2002/03: 1,4 %, 2003/04: 0,9 %; Die Volkswirtschaft 3/2007 S. 91 Tabelle B10.2) angepasst, ergibt sich ein Valideneinkommen von Fr. 75'637.-.
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4.2.3 Beim Invalideneinkommen ist vom monatlichen Bruttolohn von Männern in einfachen und repetitiven Tätigkeiten des privaten Sektors von Fr. 4588.- gemäss der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung 2004 des Bundesamtes für Statistik auszugehen (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 ff., 124 V 321; RKUV 2001 Nr. U 439 S. 347 [U 240/99]). Daraus ergibt sich bei einer betriebsüblichen wöchentlichen Arbeitszeit von 41,6 Stunden (Die Volkswirtschaft a.a.O. S. 90 Tabelle B9.2) und einem zumutbaren Arbeitspensum von 5 Tagen à 4 Stunden (Bericht der Rehabilitationsklinik Y.________ vom 4. Mai 2000) der Betrag von Fr. 27'528.-. Praxisgemäss ist durch entsprechenden Abzug vom Tabellenlohn der Tatsache Rechnung zu tragen, dass persönliche und berufliche Merkmale, wie Art und Ausmass der Behinderung, Lebensalter, Dienstjahre, Nationalität oder Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad Auswirkungen auf die Höhe des Lohnes der versicherten Person haben können (BGE 124 V 321 E. 3b/aa S. 323). Der Abzug ist unter Würdigung der Umstände im Einzelfall nach pflichtgemässem Ermessen gesamthaft zu schätzen. Er kann maximal 25 % betragen (BGE 126 V 75 E. 5b/aa-cc S. 79 ff.; Urteil I 686+715/06 vom 22. Januar 2007 E. 6.1). Vorliegend ist zu berücksichtigen, dass im Bericht der Rehabilitationsklinik Y.________ vom 4. Mai 2000 «4 Stunden pro Tag mit Pausen über den Tag verteilt» als zumutbar bezeichnet wurden. Ein rund hälftiges Arbeitspensum, das lediglich über einen ganzen Arbeitstag verteilt erbracht werden kann und nicht beispielsweise vormittags oder nachmittags, ist aus betriebswirtschaftlicher Sicht (Auslastung des Arbeitsplatzes) als lohnmässig relevante Erschwernis für die erwerbliche Verwertung der verbliebenen Arbeitsfähigkeit anzuerkennen (Urteil U 471/05 vom 15. März 2006 E. 3). Die übrigen geltend gemachten Umstände (Ausländerstatus, Ausbildungsniveau sowie mangelnde Flexibilität infolge langjähriger Zugehörigkeit zum selben Betrieb) rechtfertigen mit Blick darauf, dass mit Bezug auf den Arbeitsplatz vom tiefsten Anforderungsniveau 4 (einfache und repetitive Tätigkeiten) ausgegangen wird, höchstens einen geringen Einschlag. Insgesamt erscheint ein Abzug vom Tabellenlohn von 15 % angemessen. Das Invalideneinkommen beträgt somit Fr. 23'399.- (0,85 x Fr. 27'528.-).
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4.2.4 Bei einem Valideneinkommen von Fr. 75'637.- und einem Invalideneinkommen von Fr. 23'399.- beträgt die gesundheitlich bedingte Erwerbseinbusse Fr. 52'238.-, was einem Invaliditätsgrad von 69 % entspricht (zum Runden BGE 130 V 121). Dies gibt Anspruch auf eine Dreiviertelrente, wie das kantonale Gericht im Ergebnis richtig entschieden hat.
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5.
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Zusammenfassend verletzt die vorinstanzlich bestätigte Herabsetzung der ganzen Rente auf eine Dreiviertelrente mit Wirkung ab 1. November 2004 Bundesrecht nicht. Insoweit ist die Beschwerde unbegründet. Entgegen der Vorinstanz ist aber die Rente nicht zum 1. September 2005 aufzuheben (E. 3). Insoweit ist die Beschwerde begründet.
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6.
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Bei diesem Verfahrensausgang haben die Parteien je zur Hälfte die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Die IV-Stelle hat dem Beschwerdeführer zudem eine Parteientschädigung nach Massgabe seines Obsiegens zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird in dem Sinne teilweise gutgeheissen, dass der Entscheid des Sozialversicherungsgerichts des Kantons Zürich vom 19. Juli 2007 insoweit aufgehoben wird, als er den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der Invalidenversicherung ab 1. September 2005 verneint. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden je zur Hälfte dem Beschwerdeführer und der IV-Stelle des Kantons Zürich auferlegt.
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3.
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Die IV-Stelle des Kantons Zürich hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1300.- zu entschädigen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Sozialversicherungsgericht des Kantons Zürich, der Ausgleichskasse des Kantons Zürich und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 8. Januar 2008
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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Meyer Fessler
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