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Informationen zum Dokument  BGer 8C_773/2007  Materielle Begründung
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BGer 8C_773/2007 vom 09.01.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_773/2007
 
Urteil vom 9. Januar 2008
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Bundesrichterin Leuzinger,
 
Gerichtsschreiber Jancar.
 
Parteien
 
Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau, Bahnhofstrasse 78, 5000 Aarau, Beschwerdeführerin, vertreten durch das Amt für Wirtschaft und Arbeit (AWA) des Kantons Aargau, Rain 53, 5000 Aarau,
 
gegen
 
M.________, 1953, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Fürsprecher Serge Flury, Kasinostrasse 38, 5000 Aarau.
 
Gegenstand
 
Arbeitslosenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 16. Oktober 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1953 geborene M.________ war seit 1. Oktober 2005 als Filialleiterin-Stellvertreterin (Verkauf) bei der Firma S.________ AG angestellt. Am 19. Dezember 2006 kündigte die Versicherte das Arbeitsverhältnis auf den 31. Dezember 2006, nachdem ihr seitens der Arbeitgeberin wegen nichtbezahlter Warenbezüge die eigene Kündigung nahegelegt worden war. Am 3. Januar 2006 meldete sich die Versicherte bei der Arbeitslosenversicherung zur Arbeitsvermittlung an und beantragte Taggelder ab 1. Januar 2007. Mit Verfügung vom 31. Januar 2007 stellte die Öffentliche Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau die Versicherte ab 1. Januar 2007 für 29 Tage wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit in der Anspruchsberechtigung ein. Die dagegen erhobene Einsprache wies sie mit Entscheid vom 26. März 2007 ab.
 
B.
 
In Gutheissung der hiegegen eingereichten Beschwerde hob das Versicherungsgericht des Kantons Aargau den Einspracheentscheid auf (Entscheid vom 16. Oktober 2007).
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt die Arbeitslosenkasse die Aufhebung des kantonalen Entscheides.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140).
 
Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG) und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG; vgl. Botschaft zur Totalrevision der Bundesrechtspflege, BBl 2001 S. 4338).
 
1.2 Es ist aufgrund der Vorbringen in der Beschwerde zu prüfen, ob der angefochtene Gerichtsentscheid in der Anwendung der massgeblichen materiell- und beweisrechtlichen Grundlagen Bundesrecht verletzt (Art. 95 BGG), einschliesslich einer allfälligen rechtsfehlerhaften Tatsachenfeststellung (Art. 97 BGG). Hingegen hat eine freie Überprüfung des vorinstanzlichen Entscheides in tatsächlicher Hinsicht ebenso zu unterbleiben wie eine Prüfung der Ermessensbetätigung nach den Grundsätzen zur Angemessenheitskontrolle (BGE 126 V 75 E. 6 S. 81 mit Hinweisen). Auch besteht Bindung an die Parteianträge (BGE 8C_31/2007 vom 25. September 2007, E. 2.2).
 
2.
 
2.1 Die Vorinstanz hat die Bestimmungen und Grundsätze über die Einstellung in der Anspruchsberechtigung wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit (Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG; ARV 1998 Nr. 9 S. 41 E. 2b), namentlich wegen einer Verletzung arbeitsvertraglicher Pflichten, die dem Arbeitgeber Anlass zur Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben hat (Art. 44 Abs. 1 lit. a AVIV; BGE 124 V 234 E. 2b S. 235 mit Hinweisen), zutreffend wiedergegeben. Gleiches gilt betreffend Art. 20 lit. b des Übereinkommens Nr. 168 der Internationalen Arbeitsorganisation (IAO; SR 0.822.726.8), wonach der Arbeitnehmer vorsätzlich bzw. eventualvorsätzlich zu seiner Entlassung beigetragen haben muss, damit er in der Anspruchsberechtigung eingestellt werden kann (BGE 124 V 234 E. 3a und b S. 236; ARV 2003 Nr. 26 S. 248 E. 1; Urteile 8C_466/2007 vom 19. November 2007, E. 3.1 und E. 3.4, und C 277/06 vom 3. April 2007, E. 2). Darauf wird verwiesen.
 
2.2 Zu ergänzen ist, dass Eventualvorsatz anzunehmen ist, wenn die versicherte Person vorhersehen kann oder damit rechnen muss, dass ihr Verhalten zu einer Kündigung durch den Arbeitgeber führt, und sie dies in Kauf nimmt (erwähnte Urteile 8C_466/2007 E. 3.1, und C 277/06 E. 2 und E. 5, je mit Hinweisen). Im Rahmen von Art. 30 Abs. 1 lit. a AVIG muss das der versicherten Person vorgeworfene, zum Tatbestand der selbstverschuldeten Arbeitslosigkeit führende Verhalten klar ausgewiesen sein (BGE 112 V 242 E. 1 S. 245; ARV 1995 Nr. 18 S. 106 E. 1, 1993/1994 Nr. 26 S. 181 E. 2a; Urteil C 97/05 vom 27. April 2006, E. 2.3).
 
3.
 
Anfechtungs- und Streitgegenstand bildet die Einstellung in der Anspruchsberechtigung wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit (BGE 131 V 164 E. 2.1 mit Hinweisen). Als Rechtsfragen gelten die gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Einstellung in der Anspruchsberechtigung (Art. 30 AVIG). Zu prüfen ist hierbei insbesondere die falsche Rechtsanwendung (Seiler/von Werdt/Güngerich, Bundesgerichtsgesetz [BGG], Bern 2007, Art. 95 Rz. 9). Diese basiert auf einer grundsätzlich verbindlichen Sachverhaltsfeststellung (erwähnter BGE 8C_31/2007, E. 3 Ingress und E. 3.1). Feststellungen über innere oder psychische Tatsachen, wie beispielsweise was jemand wollte oder wusste, sind Tatfragen (BGE 130 IV 58 E. 8.5 S. 62, 125 III 435 E. 2a/aa S. 436, 124 III 182 E. 3 S. 184; erwähnter BGE 8C_31/2007, E. 3.2; Urteil 8C_28/2007 vom 9. Oktober 2007, E. 4.2.1).
 
4.
 
4.1 Die Vorinstanz hat auf Grund der Akten richtig festgestellt, dass die Versicherte am 18. Dezember 2006 bei ihrer Arbeitgeberin aus einer Aktion zwei Kartons zu je fünf Beuteln Kaffee kaufte, wobei sie von einem Inhalt von je vier Beuteln pro Karton - die auserhalb von Aktionen normale und ihr geläufige Anzahl - ausging und somit auch nur acht Beutel bezahlte. Damit verstiess sie gegen eine interne Richtlinie der Arbeitgeberin betreffend Nichtbezahlung der zum Eigenbedarf bezogenen Ware. Nach Ladenschluss entdeckte die Arbeitgeberin diesen Verstoss anlässlich einer Kontrolle der Beschwerdegegnerin. Zudem hat die Vorinstanz zu Recht erkannt, dass trotz Kündigung durch die Versicherte vom 19. Dezember 2006 ein Fall von Art. 44 Abs. 1 lit. a AVIV vorliegt, da sie von der Arbeitgeberin zur Selbstkündigung gedrängt worden war und damit einer Kündigung durch diese zuvorkam (BGE 124 V 234 E. 2b S. 235; Urteil C 212/04 vom 16. Februar 2005, E. 1.2.2). Dies ist denn auch unbestritten.
 
4.2 Weiter hat die Vorinstanz in Würdigung der Akten mit einlässlicher Begründung, auf die verwiesen wird, zutreffend erwogen, dass seitens der Versicherten zwar ein gewisses Mitverschulden am Arbeitsplatzverlust, aber keine vorsätzlich - auch nicht im Sinne eines Eventualvorsatzes - provozierte Entlassung vorlag (vgl. E. 2.2 hievor). Die Einwendungen der Beschwerdeführerin sind nicht geeignet, diese vorinstanzliche Sachverhaltsfeststellung betreffend eine innere Tatsache als offensichtlich unrichtig oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruhend erscheinen zu lassen (E. 1.1 und E. 3 hievor). Unbehelflich ist insbesondere das Vorbringen, auf Grund der Umstände sei durchaus eine Fahrlässigkeit und damit ein Mitverschulden der Versicherten an der Auflösung des Arbeitsverhältnisses gegeben, da sie mit einem Blick auf das Etikett der gekauften Kaffeekartons die Menge der darin enthaltenen Kaffeebeutel hätte erkennen und somit ihren Irrtum hätte vermeiden können.
 
Nach dem Gesagten ist der Vorinstanz beizupflichten, dass die Versicherte zu Unrecht wegen selbstverschuldeter Arbeitslosigkeit in der Anspruchsberechtigung eingestellt wurde.
 
5.
 
Die Arbeitslosenkasse beantragt, es seien von ihr als Durchführungsstelle der Arbeitslosenversicherung keine Gerichtskosten zu erheben.
 
Den kantonalen und privaten Arbeitslosenkassen ist gemeinsam, dass sie bei Leistungsstreitigkeiten Aufgaben in ihrem amtlichen Wirkungskreis erfüllen (Art. 81 Abs. 1 AVIG). Dabei verfolgen sie eigene Vermögensinteressen. Sie sind für die Auszahlung der Leistungen zuständig (Art. 81 Abs. 1 lit. c AVIG). Somit fallen Arbeitslosenkassen nicht unter den Ausnahmetatbestand von Art. 66 Abs. 4 BGG. Dies steht in Einklang sowohl mit der bisherigen, mit dem BGG grundsätzlich nicht geänderten Praxis, wonach die Arbeitslosenkassen in kostenpflichtigen Verfahren Gerichtskosten zu tragen haben, als auch mit der Einführung der Kostenpflicht für sämtliche Sozialversicherungsverfahren vor Bundesgericht (BGE 8C_179/2007 vom 25. September 2007, E. 4.6 mit Hinweisen). Demnach sind die Gerichtskosten der unterliegenden Arbeitslosenkasse aufzuerlegen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Öffentlichen Arbeitslosenkasse des Kantons Aargau auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Staatssekretariat für Wirtschaft schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 9. Januar 2008
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
i.V. Lustenberger Jancar
 
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