VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer I 607/2006  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer I 607/2006 vom 09.01.2008
 
Tribunale federale
 
{T 7}
 
I 607/06
 
Urteil vom 9. Januar 2008
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Grunder.
 
Parteien
 
S.________, 1957, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Lothar Auf der Maur, Alte Gasse 2, 6440 Brunnen,
 
gegen
 
IV-Stelle Uri, Dätwylerstrasse 11, 6460 Altdorf, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Verwaltungsgerichtsbeschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Uri vom
 
29. Mai 2006.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1957 geborene S.________ war seit September 1988 als Schichtarbeiterin in der Kabelflechterei bei der Firma D.________ AG, tätig. Ab 28. Januar 2002 arbeitete sie krankheitsbedingt nicht mehr. Am 17./23. September 2002 meldete sie sich unter Hinweis auf multiple gesundheitliche Beschwerden (Rückenschmerzen mit Ausstrahlung ins linke Bein, intermittierende Nacken-, Kopf- und Ohrenschmerzen, Magenbeschwerden, depressive Zustände wegen andauernder Schmerzen, Schlaflosigkeit) zum Leistungsbezug bei der Invalidenversicherung an. Gestützt auf Abklärungen in erwerblicher und medizinischer Hinsicht lehnte die IV-Stelle Uri das Leistungsgesuch mit der Begründung ab, die Versicherte sei in jeder körperlich wenig belastenden Hilfsarbeitertätigkeit vollständig arbeitsfähig (Verfügung vom 16. April 2004). Im Einspracheverfahren zog die Verwaltung weitere medizinische Unterlagen bei und lehnte die Einsprache mit Entscheid vom 9. August 2005 ab.
 
B.
 
Hiegegen liess S.________ Beschwerde einreichen und die Berichte der Psychiatrischen Klinik X.________ (undatiert), wo sie sich vom 23. August bis 20. Oktober 2005 aufhielt, sowie des Dr. med. W.________, Neurologische Praxis, vom 24. Februar 2006 auflegen. Mit Entscheid vom 29. Mai 2006 wies das Obergericht des Kantons Uri nach Durchführung einer mündlichen Verhandlung die Beschwerde sowie das damit gestellte Gesuch um Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes mangels Bedürftigkeit ab.
 
C.
 
Mit Verwaltungsgerichtsbeschwerde lässt S.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ein polydisziplinäres Gutachten zu erstellen; eventuell sei die Sache zur weiteren Abklärung und neuer Festlegung des Invaliditätsgrades an die Vorinstanz zurückzuweisen. Weiter wird um Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung für das vor- und letztinstanzliche Verfahren ersucht.
 
Die IV-Stelle Uri schliesst auf Abweisung der Verwaltungsgerichtsbeschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
1.
 
Das Bundesgesetz über das Bundesgericht vom 17. Juni 2005 (BGG; SR 173.110) ist am 1. Januar 2007 in Kraft getreten (AS 2006 1205, 1243). Da der angefochtene Entscheid vorher ergangen ist, richtet sich das Verfahren noch nach OG (Art. 132 Abs. 1 BGG; BGE 132 V 392 E. 1.2 S. 395).
 
2.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft Leistungen der Invalidenversicherung. Das Bundesgericht (bis 31. Dezember 2006: Eidgenössisches Versicherungsgericht) prüft daher nur, ob das vorinstanzliche Gericht Bundesrecht verletzte, einschliesslich Überschreitung oder Missbrauch des Ermessens, oder ob der rechtserhebliche Sachverhalt offensichtlich unrichtig, unvollständig oder unter Verletzung wesentlicher Verfahrensbestimmungen festgestellt wurde (Art. 132 Abs. 2 OG [in der Fassung gemäss Ziff. III des Bundesgesetzes vom 16. Dezember 2005 über die Änderung des IVG, in Kraft seit 1. Juli 2006], in Verbindung mit Art. 104 lit. a und b sowie Art. 105 Abs. 2 OG).
 
Im Hinblick darauf, dass die Verwaltungsgerichtsbeschwerde am 3. Juli 2006 der Post übergeben wurde und am 4. Juli 2006 beim Eidgenössischen Versicherungsgericht einging, ist Art. 132 Abs. 2 OG anwendbar, obwohl der angefochtene Entscheid vom 29. Mai 2006 datiert und somit vor dem Inkrafttreten der Gesetzesänderung ergangen ist. Die massgebliche Übergangsbestimmung (lit. c von Ziff. II der Gesetzesänderung vom 16. Dezember 2005) erklärt bisheriges Recht für die im Zeitpunkt des Inkrafttretens beim Eidgenössischen Versicherungsgericht anhängigen Beschwerden für anwendbar, was hier nicht zutrifft.
 
3.
 
Der Prozessthema bildende Streitgegenstand, in welchem Umfang der Beschwerdeführerin die Aufnahme einer Arbeitstätigkeit zumutbar ist, stellt eine Tatfrage dar, deren Überprüfung nur im Rahmen der in E. 2 hievor erwähnten Einschränkungen möglich ist (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 f.). Dagegen steht eine frei überprüfbare Rechtsfrage zur Diskussion, soweit gerügt wird, das kantonale Gericht habe den Grundsatz der freien Beweiswürdigung (vgl. dazu BGE 125 V 351 E. 3a S. 352) und die daraus fliessende Pflicht zu inhaltsbezogener, umfassender, sorgfältiger und objektiver Würdigung der medizinischen Berichte und Stellungnahmen verletzt (BGE 132 V 393 E. 4.1 S. 400).
 
4.
 
4.1 Nach den verbindlichen Feststellungen des kantonalen Gerichts (Art. 105 Abs. 2 OG) konnten die Ärzte aus somatischer Sicht keine objektiven Befunde erheben, welche mit dem geklagten Krankheitsbild korrelierten; für die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit war im Wesentlichen die erhebliche Dekonditionierung verantwortlich. Auch nach der Expertise des Dr. med. T.________ fehlt es an Befunden, welche einen krankheitswertigen psychischen Gesundheitsschaden zu diagnostizieren rechtfertigen. Die vom Sozialpsychiatrischen Dienst und dem behandelnden Psychiater (Dr. med J.________) diagnostizierte somatoforme Schmerzstörung kann wohl eine Einbusse in der Leistungsfähigkeit mit sich bringen, ist für sich allein jedoch nicht einem Gesundheitsschaden im Sinne der Rechtsprechung gleich zu setzen (BGE 131 V 49 E. 1.2 S. 50); es fehlt hier an den praxisgemäss erforderlichen Nachweisen, insbesondere an einem psychiatrisch schlüssig feststellbaren komorbiden Gesundheitsschaden oder den alternativ erforderlichen ausgeprägten Morbiditätskriterien (BGE 130 V 352 E. 2.2.3 S. 353 unten ff.), dass die Schmerzen willentlich nicht überwunden werden können. Der (undatierte) Austrittsbericht der Psychiatrischen Klinik X.________ war nicht zu berücksichtigen, da darin der Gesundheitszustand nach Erlass des in zeitlicher Hinsicht für die gerichtliche Beurteilung massgeblichen Erlasses des Einspracheentscheids festgestellt werde.
 
4.2 In der Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird nichts vorgebracht, was die Feststellungen der Vorinstanz als offensichtlich unrichtig oder unvollständig hinzustellen vermöchte. Das im letztinstanzlichen Verfahren erstmals geltend gemachte Vorbringen, das Untersuchungsgespräch bei Dr. med. T.________ (Facharzt FMH für Psychiatrie und Psychotherapie; Expertise vom 8. März 2004) habe lediglich zehn Minuten gedauert, stellt ein unzulässiges Novum dar und vermag jedenfalls angesichts der im Gutachten vom 8. März 2004 dokumentierten ausführlichen Befragung und Befunderhebung keine offensichtliche Unrichtigkeit darzutun. Die vorinstanzliche Beweiswürdigung der medizinischen Akten hinsichtlich des Gesundheitszustands, wie er nach der Exploration durch Dr. med. T.________ bestanden hat, beruht auf einer eingehenden Würdigung der vorliegenden Arztberichte, wonach weder Dr. med. J.________, (Berichte vom 29. April und 22. Juni 2005), noch die Psychiatrische Klinik X.________ (undatiert) eine invalidenversicherungsrechtlich massgebende, die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit beeinträchtigende Gesundheitsstörung vor dem für die gerichtliche Beurteilung massgebenden Zeitpunkt bei Erlass des Einspracheentscheids vom 9. August 2005 bestätigen können. Etwas anderes ergibt sich aus der Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht. Es ist auch nicht zu erwarten, dass sich aus den weiteren beantragten Abkärungen neue Anhaltspunkte ergeben, welche zu einer anderen Beurteilung des Sachverhalts führen könnten (antizipierte Beweiswürdigung; vgl. BGE 124 V 90 E. 4b S. 94; 122 V 157 E. 1d S. 162). Insgesamt ist der vorinstanzliche Entscheid jedenfalls nicht zu beanstanden.
 
5.
 
Was die in der Verwaltungsgerichtsbeschwerde beanstandete Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege im vorinstanzlichen Verfahren betrifft, ist festzuhalten, dass die Vorinstanz in der Bedarfsrechnung ohne weitere Begründung die ausgewiesenen Kosten für die Schulung der Tochter nicht vollumfänglich einbezogen hat (nur Berücksichtigung des Schulgeldes, nicht aber der Generalabonnements). Unter Einbezug der genannten Kosten ergibt sich kein Überschuss. In diesem Punkt ist die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gutzuheissen. Die unentgeltliche Verbeiständung für das vorinstanzliche Verfahren ist zu gewähren, da auch die übrigen Voraussetzungen (Nicht-Aussichtslosigkeit, Gebotenheit der anwaltlichen Vertretung) gegeben sind (vgl. E. 6). Die Sache wird an das kantonale Gericht zurückgewiesen, damit es die Entschädigung für den Rechtsbeistand festlege.
 
6.
 
Im letztinstanzlichen Verfahren kann der Beschwerdeführerin die unentgeltliche Verbeiständung gewährt werden (Art. 152 in Verbindung mit Art. 135 OG), da die Bedürftigkeit aktenkundig, die Verwaltungsgerichtsbeschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen ist und die Vertretung geboten war (BGE 124 V 301 E. 6 S. 309). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 152 Abs. 3 OG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im stande ist (Art. 152 Abs. 3 OG; BGE 124 V 301 E. 6 S. 309).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verwaltungsgerichtsbeschwerde wird insoweit gutgeheissen, dass der Anspruch auf unentgeltliche Verbeiständung im vorinstanzlichen Verfahren bejaht und die Sache zur Festsetzung der Entschädigung des Rechtsbeistands an das kantonale Gericht zurückgewiesen wird; im Übrigen wird die Verwaltungsgerichtsbeschwerde abgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Rechtsanwalt Lothar Auf der Maur, Brunnen, wird als unentgeltlicher Anwalt der Beschwerdeführerin bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1500.- (einschliesslich Mehrwertsteuer) ausgerichtet.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Ausgleichskasse der Schweizer Maschinenindustrie, Zürich, dem Obergericht des Kantons Uri, Verwaltungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen zugestellt.
 
Luzern, 9. Januar 2008
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Grunder
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).