VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 8C_94/2007  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 8C_94/2007 vom 15.04.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_94/2007
 
Urteil vom 15. April 2008
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Widmer, Bundesrichter Lustenberger,
 
Gerichtsschreiberin Kopp Käch.
 
Parteien
 
M.________, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Ergänzungsleistung zur AHV/IV,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 14. Februar 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1936 geborene M.________ meldete sich zwischen Oktober 2002 und April 2004 mehrmals zum Bezug einer Ergänzungsleistung zur Altersrente an. Die EL-Durchführungsstelle wies diese Leistungsgesuche jeweils ab, da unter Berücksichtigung des Sparvermögens, eines hypothetischen Vermögens (aufgrund Vermögensverzicht) sowie der Erträge aus den beiden Vermögenssummen ein Einnahmenüberschuss resultiere. Am 17. Juni 2004 teilte die AHV-Zweigstelle der EL-Durchführungsstelle mit, gemäss den Kontoauszügen per 31. Mai 2004 sei kein Sparvermögen mehr vorhanden, und fragte an, ob eine Neuberechnung mit den veränderten Voraussetzungen möglich sei. Die EL-Durchführungsstelle nahm eine Anspruchsberechnung vor, bei welcher sie kein Sparvermögen mehr, aber ein hypothetisches Vermögen in der Höhe von Fr. 58'136.- berücksichtigte. Aufgrund des daraus resultierenden Ausgabenüberschusses gewährte sie M.________ mit Verfügung vom 15. Juli 2004 rückwirkend ab 1. Juni 2004 eine monatliche Ergänzungsleistung von Fr. 222.-. Infolge Änderungen bei der Altersrente, den Krankenkassenprämien und beim hypothetischen Vermögen wurde die Ergänzungsleistung mit Verfügung vom 29. Dezember 2004 per 1. Januar 2005 auf Fr. 234.- pro Monat erhöht. Eine erneute Erhöhung auf monatlich Fr. 273.- ab 1. Januar 2006 erfolgte mit Verfügung vom 9. Januar 2006. M.________ erhob Einsprache und kritisierte die Anrechnung einer Schenkung unter der Rubrik "übriges Vermögen" sowie der Vermögenszinsen. Mit Einspracheentscheid vom 8. Mai 2006 stellte die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen klar, dass es sich bei der beanstandeten Vermögensposition nicht um eine Schenkung, sondern um Verzichtsvermögen handle, und hielt im Ergebnis an ihrem Standpunkt fest.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde, in welcher M.________ wiederum die Anrechnung eines Verzichtsvermögens beanstandet hatte, wies das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 14. Februar 2007 ab.
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt M.________ die Aufhebung des Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. Februar 2007 und des Einspracheentscheids der Sozialversicherungsanstalt vom 8. Mai 2006 sowie die Neuberechnung der Ergänzungsleistung ohne Anrechnung eines Verzichtsvermögens. Zudem ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung. Mit Eingaben vom 23. März und 27. April 2007 reicht er die Belege zu seinen finanziellen Verhältnissen ein.
 
Die Sozialversicherungsanstalt schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG) und kann deren Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist der Anspruch auf Ergänzungsleistung für das Jahr 2006 und dabei namentlich die Frage, ob die in der leistungszusprechenden Verfügung vom 15. Juli 2004 erfolgte und in der Verfügung vom 9. Januar 2006 sowie im Einspracheentscheid vom 8. Mai 2006 erneut vorgenommene Anrechnung eines hypothetischen Vermögens samt einem hypothetischen Vermögensertrag zum Gegenstand der Auseinandersetzung gemacht werden kann.
 
Die Sozialversicherungsanstalt führte im Einspracheentscheid vom 8. Mai 2006 aus, der Einwand zur Zulässigkeit dieser Anrechnung sei erneut zu prüfen. Mangels Geltendmachung neuer Tatsachen könne diesbezüglich jedoch auf den Einspracheentscheid vom 22. März 2004 verwiesen werden. Das kantonale Gericht demgegenüber qualifizierte die Verfügung vom 9. Januar 2006 bzw. den Einspracheentscheid vom 8. Mai 2006 als Anpassungsverfügung, nicht als erstmalige Leistungszusprache, was zur Folge habe, dass sich die Überprüfung auf nachträgliche Sachverhaltsänderungen beschränke. Dagegen wehrt sich der Beschwerdeführer.
 
3.
 
3.1 Die Ergänzungsleistungen werden grundsätzlich jährlich ausgerichtet (Art. 3 Abs. 1 lit. a ELG). Basis ist das Kalenderjahr (Art. 3a Abs. 2 ELG). Für die Bemessung der Ergänzungsleistungen ist in der Regel das während des vorausgegangenen Kalenderjahres erzielte Einkommen sowie das am 1. Januar des Bezugsjahres vorhandene Vermögen massgeblich (Art. 23 Abs. 1 ELV). In Anbetracht der formell-gesetzlichen Ausgestaltung der Ergänzungsleistung als einer auf das Kalenderjahr bezogenen Versicherung hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in BGE 128 V 39 unter Hinweis auf Judikatur und Literatur entschieden, eine Verfügung darüber könne in zeitlicher Hinsicht von vornherein nur für ein Kalenderjahr Rechtsbeständigkeit entfalten. Dies bedeute, dass die Grundlagen zur Berechnung der Ergänzungsleistungen im Rahmen der jährlichen Überprüfung ohne Bindung an die früher verwendeten Berechnungsfaktoren und unabhängig von der Möglichkeit der während der Bemessungsdauer vorgesehenen Revisionsgründe (Art. 25 ELV) von Jahr zu Jahr neu festgelegt werden können. Diese Rechtsprechung hat das Eidgenössische Versicherungsgericht mehrfach bestätigt (Urteile P 75/02 vom 16. Februar 2005, P 55/03 vom 5. März 2004 und P 4/03 vom 17. November 2003).
 
3.2 Der Beschwerdeführer kann gemäss Rechtsprechung demzufolge die Anrechnung eines Verzichtsvermögens im Verfahren zur Festsetzung der Ergänzungsleistung für das Jahr 2006 erneut beanstanden und zum Gegenstand der Auseinandersetzung machen, ohne sich die Verfügung vom 15. Juli 2004 entgegenhalten lassen zu müssen. Es liegt diesbezüglich auch kein richterlicher Entscheid vor, welcher einer Neubeurteilung entgegenstehen würde (Urteil P 17/02 vom 17. November 2003, E. 2.2).
 
4.
 
Die Vorinstanz kritisiert diese Rechtsprechung. Die Argumente sind jedoch teilweise nicht sachgerecht, teilweise nicht stichhaltig.
 
4.1 Soweit das kantonale Gericht das Kalenderjahrkonzept kritisiert und als verfahrensökonomisch unhaltbar qualifiziert, ist darauf hinzuweisen, dass die grundsätzliche Ausrichtung einer jährlichen Ergänzungsleistung gesetzlich verankert ist (Art. 3 Abs. 1 lit. a und Art. 3a Abs. 1 ELG). Dieses Konzept rechtfertigt sich aus dem Charakter der Ergänzungsleistung als einer Bedarfsleistung, deren Ausrichtung dort angebracht ist, wo die Renten der Alters- und Invalidenversicherung sowie allfälliges übriges Einkommen die minimalen Lebenskosten nicht decken. Die zeitliche Beschränkung der Rechtsbeständigkeit auf ein Kalenderjahr dient der Sicherstellung der Ausrichtung korrekter Ergänzungsleistungen, was bei Bedarfsleistungen besonders wichtig ist.
 
4.2 Der Hinweis der Vorinstanz auf die bestehenden Instrumente zur Erreichung dieses Zwecks ist nicht sachgerecht. Prozessuale Revision und Wiedererwägung gemäss Art. 53 Abs. 1 und 2 ATSG fallen schon deshalb ausser Betracht, weil es dabei um die Korrektur fehlerhafter, bereits rechtskräftiger Verfügungen oder Einspracheentscheide geht, welche nur bei Erfüllung der gesetzlich statuierten Voraussetzungen zulässig ist. Die jährliche Neuberechnung jedoch betrifft die vorangegangenen Perioden nicht, sondern bezweckt die Berechnung der korrekten Ergänzungsleistung für das neue Kalenderjahr aufgrund der aktuellen tatsächlichen Gegebenheiten. Die Änderung der jährlichen Ergänzungsleistung gemäss Art. 25 ELV und die Revision von Dauerleistungen gemäss Art. 17 Abs. 2 ATSG sodann, auf deren Anwendbarkeit und Verhältnis zueinander vorliegend nicht näher einzugehen ist, betreffen die Anpassung (Erhöhung, Herabsetzung oder Aufhebung) der Leistungen auch im Laufe des Kalenderjahres, was wiederum - im Gegensatz zur jährlichen Neuberechnung - nur unter bestimmten Voraussetzungen möglich ist. Sie ergänzen die jährliche Neuberechnung, ersetzen diese aber nicht.
 
4.3 Ergänzend ist festzuhalten, dass das kantonale Gericht dem Umstand, dass die jährliche Neufestsetzung der Ergänzungsleistungen ohne Bindung an die früher verwendeten Berechnungsgrundlagen erfolgt und diese vom EL-Ansprecher dementsprechend auch angefochten werden können, eine zu grosse Bedeutung beimisst. Die Behörden einerseits werden nicht ohne triftigen Grund von früher festgelegten Berechnungsgrundlagen abweichen. Bei der Beweiswürdigung dürfen sie im Rahmen des Untersuchungsgrundsatzes auch berücksichtigen, dass nun angefochtene Berechnungsgrundlagen seinerzeit unbestritten geblieben waren (Urteil P 4/03 vom 17. November 2003). Der EL-Ansprecher andrerseits wird dementsprechend nicht mehrfach dieselben Berechnungsgrundlagen beanstanden, würde er sich doch dadurch dem Vorwurf mutwilliger Prozessführung und dem damit verbundenen Kostenrisiko aussetzen.
 
5.
 
Ist demzufolge die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen in ihrem Einspracheentscheid vom 8. Mai 2006 zu Unrecht nicht auf das Begehren des Beschwerdeführers um Überprüfung des Vorliegens eines Verzichtsvermögens eingegangen, hat sie dies nachzuholen. Die Sache ist an die Beschwerdegegnerin zurückzuweisen, damit sie über das Begehren des Versicherten neu befinde.
 
6.
 
Die Gerichtskosten sind von der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Bei diesem Verfahrensausgang wird das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Prozessführung hinfällig.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 14. Februar 2007 und der Einspracheentscheid der Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen vom 8. Mai 2006 werden aufgehoben. Die Sache wird an die Sozialversicherungsanstalt des Kantons St. Gallen zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen über den Anspruch auf Ergänzungsleistungen des Beschwerdeführers neu befinde.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. April 2008
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Ursprung Kopp Käch
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).