VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_756/2007  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_756/2007 vom 19.05.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_756/2007/bri
 
Urteil vom 19. Mai 2008
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Favre, Mathys,
 
Gerichtsschreiber Borner.
 
Parteien
 
S.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Matthias Czerny,
 
gegen
 
J.________,
 
Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Hannelore Fuchs,
 
Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Schützengasse 1, 9001 St. Gallen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Erteilung einer Weisung während der Probezeit (Art. 44 Abs. 2 StGB i.V.m. Art. 94 StGB),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts St. Gallen, Strafkammer, vom 23. August 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Als der Sohn von S.________ 1995 heiratete, zog er mit seiner jungen Frau in die Wohnung seiner Eltern. Alle vier hatten eigene Bankkonti, die mit gegenseitigen Generalvollmachten ausgestattet waren.
 
Ende September 2004 verliess die Schwiegertochter den gemeinsamen Haushalt. Daraufhin verschob S.________ Fr. 90'000.--, welche die Schwiegertochter angespart hatte, auf sein eigenes Konto, hob später den gesamten Betrag ab und liess das Geld verschwinden.
 
B.
 
Das Kreisgericht Untertoggenburg-Gossau verurteilte S.________ am 1. Juni 2006 wegen Veruntreuung zu einer bedingten Gefängnisstrafe von 12 Monaten und erteilte ihm die Weisung, während 36 Monaten je Fr. 2'900.-- an die Ex-Schwiegertochter zu zahlen; die Schuld könne auch durch eine frühere Zahlung von Fr. 90'000.-- zuzüglich Zins beglichen werden.
 
Auf Berufung des Verurteilten bestätigte das Kantonsgericht St. Gallen am 23. August 2007 den erstinstanzlichen Entscheid, setzte jedoch den monatlich zu zahlenden Betrag auf Fr. 1'400.-- fest.
 
C.
 
S.________ führt Beschwerde und beantragt sinngemäss, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und von einer Weisung sei abzusehen; eventuell sei der Betrag angemessen herabzusetzen oder die Sache in diesem Punkt an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der Beschwerdeführer bringt vor, im Wesentlichen stelle er ab auf die Verhältnisse, wie sie sich der Vorinstanz präsentiert hätten. Eine Weisung müsse sich indessen auf den Urteilszeitpunkt beziehen. Entsprechend reiche er für die aktuellen Verhältnisse neue Belege ein, soweit er diese in den Händen halte. Für die Beurteilung, ob eine Weisung erteilt werden solle, seien diese aktuellen Angaben folglich rechtswesentlich, weshalb deren Einreichung zulässig sei.
 
1.1 Gemäss Art. 99 Abs. 1 BGG dürfen neue Tatsachen und Beweismittel nur so weit vorgebracht werden, als erst der Entscheid der Vorinstanz dazu Anlass gibt.
 
1.2 Das erstinstanzliche Urteil enthielt die Weisung an den Beschwerdeführer, er habe während 36 Monaten je Fr. 2'900.-- an seine Ex-Schwiegertochter zu zahlen. In der Berufung focht der Beschwerdeführer den Schuldspruch an, was bei einer Gutheissung auch die Weisung hätte entfallen lassen. Gleichzeitig verlangte er aber eventualiter für den Fall einer Verurteilung, dass die Strafe herabgesetzt werde (Akten des Kantonsgerichts, act. B/13 S. 28 f.). Bei einer solch bloss teilweisen Gutheissung oder einer gänzlichen Abweisung der Berufung musste er damit rechnen, dass die Verurteilung mit einer Weisung verbunden wird. Deshalb hätte er bereits vor Vorinstanz alle wesentlichen Tatsachen vorbringen können und müssen, die seine Zahlungsfähigkeit betrafen.
 
Fehlt es aber an der gesetzlichen Voraussetzung, dass erst der Entscheid der Vorinstanz Anlass zur Einreichung von Beweismitteln gab, ist auf die neuen Belege des Beschwerdeführers nicht einzutreten.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz habe bei der Berechnung, welchen Betrag er gemäss Weisung monatlich an seine Ex-Schwiegertochter zu zahlen habe, unzulässigerweise auf die generell-abstrakte Methode der Notbedarfsermittlung im Rahmen des Existenzminimums abgestellt. Diese Berechnungsart werde dem spezialpräventiven Bedürfnis einer Weisung nicht gerecht und zudem hätte sie auch nicht bloss hilfsweise herangezogen werden dürfen, weil die Vorinstanz über seine finanziellen Verhältnisse dokumentiert gewesen sei (Akten des Kantonsgerichts, act. B/34).
 
Da die Weisung den tatsächlichen wirtschaftlichen Verhältnissen des Beschwerdeführers nicht Rechnung trage, auf aktenwidrigen Annahmen bestehe und ungenügend begründet sei, habe die Vorinstanz Art. 44 Abs. 2 StGB in Verbindung mit Art. 94 StGB sowie Art. 9 und 29 BV verletzt.
 
2.1 Die Vorinstanz hält bei der Berechnung der Weisung fest: "Der Angeklagte und seine Frau erzielen ein monatliches Einkommen von rund Fr. 5'200.--. Ihr Grundbedarf liegt bei rund Fr. 3'300.--, welcher nach Bezahlung des Betrages von Fr. 1'400.-- mehr als nur gedeckt ist" (angefochtener Entscheid S. 11 Ziff. 4).
 
Diese Begründung ist in der Tat sehr kurz. Hält man sich jedoch vor Augen, dass es im ganzen Strafverfahren fast ausschliesslich um die finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers und seiner Familie ging, wird klar, dass die wirtschaftliche Leistungsfähigkeit des Beschwerdeführers bekannt war und dass es deshalb hinsichtlich des monatlich zu leistenden Betrags keiner weiteren Begründung bedurfte.
 
2.2 Ein paar Erwägungen des vorinstanzlichen Urteils vermitteln ein Bild einerseits von den finanziellen Verhältnissen des Beschwerdeführers und seiner Familie sowie anderseits, wie er diese Verhältnisse darstellte:
 
2.2.1 "Es ist ... unglaubwürdig, dass bei einem monatlichen Einkommen der übrigen erwachsenen Familienmitglieder von rund Fr. 9'500.-- netto (Vater Fr. 4'800.--, Mutter Fr. 780.--, Sohn Fr. 4'000.--) keine weiteren Ersparnisse als die Fr. 2'000.-- der Klägerin angehäuft werden konnten. Immerhin lebte die ganze Familie in einer Wohnung zu einem Mietzins von nur Fr. 1'200.-- und die gesamten Lebenshaltungskosten konnten entsprechend tief gehalten werden. Es gibt keine Hinweise auf besondere monatliche Ausgaben nebst dem gewöhnlichen Lebensunterhalt. ... Zudem erklärte er (der Beschwerdeführer) heute vor Gericht, auch sein Sohn habe Geld an den Haushalt beigesteuert" (angefochtener Entscheid S. 6).
 
2.2.2 Zum Verbleib des veruntreuten Geldes hält die Vorinstanz unter anderem fest: In der Einvernahme bejahte der Beschwerdeführer die Frage des Untersuchungsrichters, ob er das Geld in Sicherheit gebracht habe, damit man bzw. die Polizei es nicht mehr finde. Auf die Frage, wo sich der Betrag von Fr. 90'000.-- heute befinde, antwortete er: "Das weiss ich nicht mehr, vielleicht habe ich sie verloren. Das ist nicht mehr da, Punkt, fertig, kein Rappen mehr"... "Das ist nicht da, kann sie anfangen, das Geld zu suchen. Es gehört einfach mir." ... "Ich sage dazu einfach nichts. Ich habe das genommen, aber sage einfach nicht, wo es ist" (angefochtener Entscheid S. 8 lit. a am Ende).
 
2.2.3 Um den Vorwurf der Veruntreuung zu entkräften, hatte der Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren Verrechnung geltend gemacht. In diesem Zusammenhang kommt die Vorinstanz zum Schluss: "Insgesamt sind die Angaben des Beschwerdeführers ... widersprüchlich und unglaubwürdig. Die Forderungsbeträge lauten immer wieder anders, die Forderungen erscheinen in der Sache und in der Höhe unrealistisch. Er hat jahrelang keinerlei Anstalten gemacht, seine angeblichen Forderungen einzukassieren. Nicht nachvollziehbar ist, weshalb die Klägerin diese plötzlich - und alleine - bezahlen sollte. Es ist damit offensichtlich, dass er die Forderungen erst im Nachhinein konstruierte, um sich gegen den Vorwurf der Veruntreuung zu verteidigen" (angefochtener Entscheid S. 10 oben).
 
2.3 Letztere Feststellung trifft ebenso zu, wenn der Beschwerdeführer geltend macht, seine finanziellen Verhältnisse erlaubten es ihm nicht, der gerichtlichen Weisung nachzukommen:
 
2.3.1 Er wirft der Vorinstanz unter anderem vor, seine finanzielle Leistungsfähigkeit pauschal beurteilt zu haben, obwohl er diese mittels Belegen (Berufungsakten, act. B/34) dokumentiert habe. Dabei geht es insbesondere um eine Amortisationsverpflichtung in der Höhe von monatlich Fr. 1'479.35 für einen Privatkredit. "Dieser Kredit, der zuletzt Juli 2007 umfinanziert wurde, besteht seit Längerem und ist schon in den früheren Steuerveranlagung ausgewiesen" (Beschwerdeschrift S. 11 Ziff. 3 und S. 15 Ziff. 17).
 
In act. B/34 findet sich eine Veranlagungsberechnung zur Steuerperiode 01.01.2005 - 31.12.2005 ohne Angabe etwaiger Schulden des Beschwerdeführers. In der Steuererklärung 2006 sind Schulden von Fr. 91'938.-- aufgeführt. Gegenüber der Kantonspolizei St. Gallen bestätigte der Beschwerdeführer am 8. März 2006 unterschriftlich, keine Schulden zu haben (Persönliche Akten, act. 4, S. 2). Der Kreditvertrag mit der cashgate AG datiert vom 2. Juli 2007 (act. B/34), womit ein Darlehensvertrag mit der CREDIT SUISSE vom 3. November 2006 abgelöst wurde. Auch mit diesem Vertrag wurde eine Bankschuld abgelöst (act. 3 Beleg 15). Eine Kopie der ursprünglichen Schuld hat der Beschwerdeführer nie ins Recht gelegt.
 
Entgegen der Behauptung des Beschwerdeführers belegen diese Dokumente weder eine "seit Längerem" bestehende Schuld noch deren Angabe in einer Steuererklärung vor dem Jahre 2006. Hält man sich zudem vor Augen, dass der Beschwerdeführer die fragliche Zahlungsverpflichtung erst einging, nachdem ihn das Kreisgericht Untertoggenburg-Gossau zu monatlichen Teilrückzahlungen der veruntreuten Summe verurteilt hatte, ist der Schluss naheliegend, dass der Beschwerdeführer die Rückzahlung der Kreditschuld in monatlichen Raten nur vereinbarte, um seine finanzielle Situation schlechter darzustellen als sie in Wirklichkeit ist. Folglich hat die Vorinstanz die Amortisationsverpflichtung in der Höhe von monatlich Fr. 1'479.35 bei der Bestimmung der Weisung zu Recht nicht berücksichtigt.
 
2.3.2 Dasselbe gilt teilweise für die geltend gemachten Wohnkosten, die Gebühren für Strom und Telefon sowie die Kosten für Privatversicherungen (Hausrat und Rechtsschutz). Denn im Zeitpunkt des vorinstanzlichen Urteils und jedenfalls sogar bis Ende 2007 (Beschwerdeschrift S. 13 Ziff. 12) lebte der Sohn des Beschwerdeführers immer noch in der elterlichen Wohnung und leistete einen finanziellen Beitrag an den gemeinsamen Haushalt (angefochtener Entscheid S. 6 unten). Um diesen Beitrag hatte die Vorinstanz das frei verfügbare Einkommen des Beschwerdeführers zu erhöhen.
 
2.3.3 Im Übrigen legen die Aussagen des Beschwerdeführers (E. 2.2.2) den Schluss nahe, dass er die veruntreute Geldsumme irgendwo platziert hat, wo sie dem Zugriff der Gläubigerin entzogen ist. Im Rahmen der weisungsgemässen Wiedergutmachung kann und muss von ihm verlangt werden, dass er auf dieses Substrat zurückgreift, selbst wenn damit finanzielle Einbussen verbunden wären.
 
2.4 Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass der Beschwerdeführer durchaus in der Lage ist, seiner Ex-Schwiegertochter im Rahmen der richterlichen Weisung monatlich einen Betrag von Fr. 1'400.-- zu zahlen. Ob die Vorinstanz den Betrag auch höher hätte ansetzen dürfen, kann angesichts der reformatio in peius (Art. 107 Abs. 1 BGG) nicht geprüft werden. Die Weisung und deren Betragshöhe verletzen jedenfalls kein Bundesrecht.
 
Nachdem sich das kantonale Verfahren zur Hauptsache um die finanziellen Verhältnisse des Beschwerdeführers und seiner Familie drehte und der Beschwerdeführer dazu von der Vorinstanz anlässlich der Hauptverhandlung auch befragt wurde (Beschwerdeschrift S. 18 Ziff. 28), ist auch der Vorwurf unbegründet, die Vorinstanz habe den Sachverhalt zuwenig abgeklärt. Schliesslich ist auf den Vorwurf der willkürlichen Sachverhaltsfeststellung nicht einzutreten, weil der Beschwerdeführer dadurch gar nicht beschwert ist. Die Vorinstanz hat nämlich zu seinen Gunsten ein tieferes monatliches Einkommen festgestellt (Fr. 5'200.-- statt Fr. 6'100.--; angefochtener Entscheid S. 11 Ziff. 4; Beschwerdeschrift S. 17 oben).
 
Folglich ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer stellt ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Aus den bisherigen Erwägungen wird deutlich, dass bei ihm die Voraussetzung fehlt, er verfüge nicht über die erforderlichen Mittel (Art. 64 Abs. 1 BGG). Deshalb ist sein Gesuch abzuweisen. Da er in der Sache unterliegt, hat er die bundesgerichtlichen Kosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Die Vernehmlassung der Beschwerdegegnerin zum Gesuch um aufschiebende Wirkung erschien nicht aussichtslos. Da die Beschwerdegegnerin zudem nicht über die erforderlichen Mittel verfügt (act. 12 und 13), ist ihr Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gutzuheissen (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Der Beschwerdeführer hat die Vertreterin der Beschwerdegegnerin angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen.
 
4.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
5.
 
Der Beschwerdeführer hat die Rechtsvertreterin der Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren (aufschiebende Wirkung) mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.
 
6.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht St. Gallen, Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 19. Mai 2008
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Schneider Borner
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).