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Informationen zum Dokument  BGer 9C_742/2007  Materielle Begründung
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BGer 9C_742/2007 vom 29.05.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_742/2007
 
Urteil vom 29. Mai 2008
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Seiler,
 
Gerichtsschreiber Maillard.
 
Parteien
 
G.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt und Notar Claude Wyssmann, Hauptstrasse 36, 4702 Oensingen,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Solothurn, Allmendweg 6, 4528 Zuchwil, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 6. September 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a G.________, geboren 1948, war von August 1990 bis Ende September 2002 in der Firma X.________ zuerst als Giesser und ab August 1999 aus gesundheitlichen Gründen in der Metallverarbeitung tätig. Am 10. Dezember 2002 meldete er sich unter Hinweis auf eine chronische Erkrankung (Rückenbeschwerden, Magenschmerzen und Augenprobleme) bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Die IV-Stelle des Kantons Solothurn tätigte berufliche und medizinische Abklärungen. Mit Verfügung vom 29. April 2003 wies sie das Leistungsbegehren ab, da das Wartejahr noch nicht abgelaufen sei. Im Rahmen des Einspracheverfahrens erstattete die MEDAS des Inselspitals am 2. August 2004 ein interdisziplinäres Gutachten. Dort wurden mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit eine ca. 2001 begonnene mittelschwere depressive Episode mit somatischen Symptomen (ICD-10: F32.1) sowie ein chronisches funktionell-mechanisches cervikothorakospondylogenes Schmerzsyndrom (seit ca. 1995) diagnostiziert. Die medizinischen Massnahmen zur Wiedererlangung der Arbeitsfähigkeit für angepasste Tätigkeiten waren nach Ansicht der Experten noch nicht ausgeschöpft, weshalb sie die Wiederaufnahme der fachärztlichen psychiatrischen Behandlung und die Einleitung einer suffizienten antidepressiven Medikation empfahlen. Die IV-Stelle forderte deshalb G.________ mit Schreiben vom 8. November 2004 auf, sich bis 30. November 2004 über den Hausarzt beim Ambulatorium der Klinik Q.________ zwecks Aufnahme dieser Behandlung unter regelmässiger Kontrolle der Blutspiegel der Medikamente melden zu lassen. Diese Aufforderung wurde mit der Androhung verbunden, dass ansonsten aufgrund der Akten entschieden werde. Schliesslich wurde noch darauf hingewiesen, dass die Kosten dieser medizinischen Massnahme nicht zu Lasten der IV gehen würden.
 
A.b Am 7. Dezember 2004 stimmte die IV-Stelle dem Gesuch zu, die angeordnete psychiatrische Behandlung bei med. pract. R.________, Arzt für Psychiatrie und Psychotherapie, bei dem sich G.________ bereits früher in ambulant-psychiatrischer Therapie befunden hatte, durchführen zu lassen. Am 30. November 2005 bat med. pract. R.________ die sich nach dem Stand und den Erfolg der medizinischen Massnahme erkundigende IV-Stelle, die Blutspiegelkontrollen selber durchzuführen, da die Krankenkasse dies nicht bezahlen würde. Am 17. Januar 2006 erstattete er Bericht über die erfolgte Behandlung. Mit Einspracheentscheid vom 18. Mai 2006 stellte die IV-Stelle zunächst fest, dass die Psychotherapie zwar durchgeführt worden sei, nicht aber die im Mahn- und Bedenkzeitverfahren geforderten regelmässigen Blutspiegelkontrollen. Es sei daher davon auszugehen, dass G.________ bei Erfüllung der medizinischen Massnahme rentenausschliessend für leichte Tätigkeiten arbeitsfähig wäre. Sie hiess die Einsprache teilweise gut und sprach ihm ab 1. Oktober 2003 eine bis Ende November 2005 befristete ganze Rente zu.
 
B.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn wies die hiegegen erhobene Beschwerde mit Entscheid vom 6. September 2007 ab.
 
C.
 
G.________ lässt Beschwerde führen und beantragen, der angefochten Entscheid sei aufzuheben und ihm sei die zugesprochene befristete ganze Rente unbefristet auszurichten. Weiter ersucht er um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege.
 
Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
2.1 Dass der Beschwerdeführer ab 1. Oktober 2003 Anspruch auf eine ganze Rente der Invalidenversicherung hat, ist unbestritten. Streitig ist einzig, ob ihm diese auch über November 2005 hinaus zusteht. Der Ausgang des hier zu berteilenden Verfahrens hängt entscheidend
 
von der Frage ab, ob sich der Beschwerdeführer der im Rahmen eines Mahn- und Bedenkzeitverfahrens im Sinne von Art. 21 Abs. 4 ATSG (siehe dazu E. 2.2) angeordneten medizinische Massnahme widersetzt hat oder nicht.
 
2.2 Entzieht oder widersetzt sich eine versicherte Person einer zumutbaren Behandlung oder Eingliederung ins Erwerbsleben, die eine wesentliche Verbesserung der Erwerbsfähigkeit oder eine neue Erwerbsmöglichkeit verspricht, oder trägt sie nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare dazu bei, so können ihr die Leistungen vorübergehend oder dauernd gekürzt oder verweigert werden. Sie muss vorher schriftlich gemahnt und auf die Rechtsfolgen hingewiesen werden; ihr ist eine angemessene Bedenkzeit einzuräumen. Behandlungs- oder Eingliederungsmassnahmen, die eine Gefahr für Leben und Gesundheit darstellen, sind nicht zumutbar (Art. 21 Abs. 4 ATSG).
 
2.3 Der Tatbestand des Art. 21 Abs. 4 ATSG enthält verschiedene Elemente: Eine vorübergehende oder dauernde Kürzung oder Verweigerung der Leistung wegen Verletzung der Schadenminderungspflicht setzt Zumutbarkeit der (unterbliebenen) medizinischen Behandlung oder erwerblichen Eingliederung voraus, welche Vorkehr zudem geeignet sein muss, eine wesentliche Steigerung der Erwerbsfähigkeit zu bewirken. Im Weiteren muss sich die versicherte Person einer solchen Massnahme widersetzt oder entzogen oder nicht aus eigenem Antrieb das ihr Zumutbare dazu beigetragen haben; ab welchem Zeitpunkt eine entsprechende Annahme getroffen werden darf, ist von der richtigen Durchführung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens abhängig. Im Übrigen muss die Sanktion in ihrer konkreten Gestalt verhältnismässig sein, indem das Kürzungsmass und die voraussichtliche günstige Wirkung der zumutbaren Massnahme auf den Erwerbsschaden einander entsprechen (SVR 2008 IV Nr. 7 S. 20 E. 3).
 
3.
 
3.1 Es ist unbestritten, dass sich der Beschwerdeführer der angeordneten psychiatrischen Behandlung unterzog. Hingegen erachtet die Vorinstanz den Beweis für die Durchführung der antidepressiven medikamentösen Therapie als nicht erbracht, da die geforderten Blutspiegelkontrollen nicht regelmässig durchgeführt worden seien. Dadurch habe der Beschwerdeführer seine Mitwirkungspflichten verletzt, weshalb die daraus folgende Verweigerung der Leistungen zu Recht erfolgt sei.
 
3.2 Soweit der Beschwerdeführer vorbringt, die IV-Stelle habe im Mahnschreiben vom 8. November 2004 nicht die Verweigerung der Leistungen, sondern den Entscheid aufgrund der Akten angedroht, ist dieser Einwand unbehelflich. Die Blutspiegelkontrolle dient zwar nicht direkt der Behandlung, sondern der Kontrolle, ob die angeordnete Behandlung mit den Antidepressiva tatsächlich durchgeführt wurde oder nicht. Wenn - wie hier - aufgrund der Akten die Invalidität nicht rechtsgenüglich nachgewiesen ist, führt die Entscheidung anhand der bestehenden Aktenlage zur Verweigerung der Leistungen.
 
3.3 Ob die Anordnung der IV-Stelle, "unter regelmässiger Kontrolle der Blutspiegel der Medikamente" ausreichend klar war, um den Versicherten bei Nichteinhaltung derselben die angedrohten Konsequenzen tragen zu lassen, kann offen bleiben. Voraussetzung für eine Sanktion ist in jedem Fall ein dem Versicherten vorwerfbares Verhalten (entziehen, widersetzen, nicht dazu beitragen). Weder die IV-Stelle noch die Vorinstanz haben zum Verhalten des Beschwerdeführers Feststellungen getroffen (E. 1); sie schliessen vielmehr in unzulässiger Weise aus der objektiv in der Tat zahlenmässig nicht genügenden (nur eine Blutspiegelkontrolle) Befolgung der Anordnung auf die Verletzung der Mitwirkungspflicht. Aus den vorhandenen Akten geht jedoch nicht rechtsgenüglich hervor, dass sich der Beschwerdeführer in vorwerfbarer Weise der Blutspiegelkontrollen widersetzt oder entzogen hat:
 
3.3.1 So bat der behandelnde Psychiater am 16. November 2005 die IV-Stelle, diese selbst durchzuführen, "da die Krankenkasse das nicht bezahlen" würde. Darin ist keine Weigerung oder Widersetzlichkeit zu erblicken, dies umso weniger, als die IV-Stelle im Schreiben vom 8. November 2004 darauf hinwies, die Kosten der medizinischen Massnahmen (und damit auch der Blutspiegelkontrolle) gingen nicht zu ihren Lasten. Nachdem offenbar die Krankenkasse die Kosten der Blutspiegelkontrollen ebenfalls nicht zu übernehmen bereit war, war es durchaus legitim, die Kostenfrage aufzuwerfen, namentlich auch deshalb, weil die IV-Stelle ja zunächst darauf bestanden hatte, die Behandlung nicht bei med. pract. R.________, sondern - wie angeordnet - beim Psychiatrischen Ambulatorium durchführen zu lassen. Erst nachdem der Beschwerdeführer geltend gemacht hatte, für die von der Krankenkasse zu bezahlende Massnahme gelte die freie Arztwahl nach Art. 41 KVG, stimmte sie der Behandlung durch med. pract. R.________ zu. Es hätte sich hier die Frage gestellt, ob die IV-Stelle bei der Anordnung einer medizinischen Behandlung nach Art. 21 Abs. 4 ATSG überhaupt befugt ist, in Abweichung von Art. 41 KVG einen Leistungserbringer zu bestimmen. Allein, nachdem die IV-Stelle nicht auf dem ursprünglichen Leistungserbringer bestand, kann die Frage offen bleiben. Der Vollständigkeit halber ist darauf hinzuweisen, dass die Krankenkasse kostenpflichtig wäre, falls die angeordnete Massnahme eine medizinisch indizierte Behandlung darstellt, auch wenn der behandelnde Arzt sie als unnötig betrachtet (wobei allerdings der Koordinationsbedarf zwischen der IV und dem Krankenversicherer zu beachten wäre). Wird die Massnahme hingegen nicht als Behandlung, sondern als Abklärungsmassnahme betrachtet, hat die Invaliden-versicherung nach Art. 45 Abs. 1 ATSG die Kosten zu tragen und kann daher selbst festlegen, welcher Arzt die Blutspiegelkontrolle durchführen soll; die Frage der freien Arztwahl würde sich diesfalls nicht stellen. Jedenfalls kann die Unsicherheit über die Frage, zu wessen Lasten die Massnahme geht, nicht dem Beschwerdeführer zum Nachteil gereichen.
 
3.3.2 Dazu kommt, dass der Beschwerdeführer unbestrittenermassen unter einer schweren psychischen Krankheit leidet. Zwar verunmöglicht die Depression nicht zwingend das Erkennen der Notwendigkeit zur Befolgung der angeordneten regelmässigen Blutspiegelkontrollen. Immerhin begab sich der Beschwerdeführer schliesslich deswegen von sich aus zur Hausärztin, dies indessen erst, nachdem der behandelnde Psychiater die Kontrolle nicht durchführen wollte. Da jedoch selbst der Gutachter in diesem Zusammenhang festhielt, dass bereits die Übermittlung des Sinnes der Massnahme wegen der depressiven Erkrankung nicht uneingeschränkt möglich gewesen sei, kann vom nicht rechts- und sachkundigen Beschwerdeführer nicht verlangt werden, die Tragweite der Nichtbefolgung in vollem Umfang zu erkennen oder gar vom behandelnden Arzt (und offenbar gegen dessen Auffassung) Blutspiegelkontrollen zu verlangen.
 
3.3.3 Selbstverständlich kann die Durchführung der ordnungsgemäss angeordneten medizinischen Massnahme (einschliesslich der Kontrolle) nicht im Belieben des behandelnden Psychiaters stehen und ist daher dessen Vorgehen (Mitteilung erst nach Abschluss der Behandlung) zu beanstanden. Wenn jedoch die IV-Stelle der Behandlung durch med. pract. R.________ zustimmte, obwohl sie - wie in der Duplik des vorinstanzlichen Verfahrens erwähnt - um dessen kritische Haltung gegenüber Blutspiegelkontrollen wusste (siehe Urteil I 432/06 vom 3. Oktober 2006), ist das Verhalten des behandelnden Arztes nicht vom Beschwerdeführer zu vertreten.
 
4.
 
Steht damit fest, dass dem Beschwerdeführer keine Verletzung des Mahn- und Bedenkzeitverfahrens vorgeworfen werden kann, bleibt zu prüfen, welche rechtliche Folgen dies nach sich zieht. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers führt dies nicht automatisch zur Zusprechung einer ganzen Rente auch über den anerkannten Zeitraum hinaus, fehlt doch dafür eine fachärztliche Beurteilung der dem Beschwerdeführer verbliebenen Arbeitsfähigkeit. In Ziff. C. 3.1 und 3.2 des MEDAS-Gutachtens wurde dazu zwar festgehalten, dass ihm eine leichte bis mittelschwere Tätigkeit (v.a. grobmotorisch, in wechselnder Körperhaltung und ohne monotone vornübergebeugte Stellung in temperierten Arbeitsraum, sofern nur vereinzelt Lasten bis 15 kg getragen und/oder gehoben werden müssen) zumutbar wäre; der zeitliche Rahmen der zumutbaren Arbeitsfähigkeit lasse sich indessen erst nach Evaluation der vorgeschlagenen beruflichen Rehabilitation und der medizinischen Massnahme festlegen. Die Sache ist daher an die IV-Stelle zurück zu weisen, damit sie das psychiatrische Gutachten hinsichtlich dieser Frage ergänzen lässt. Das Ergänzungsgutachten wird sich allenfalls auch zur Frage zu äussern haben, ob eine nochmalige medizinische Behandlung Sinn macht.
 
5.
 
Bei diesem Ausgang hat die Beschwerdegegnerin als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu entrichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG), womit dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege gegenstandslos ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 6. September 2007 und der Einspracheentscheid vom 18. Mai 2006 aufgehoben werden, soweit damit der Rentenanspruch ab Dezember 2005 verneint wird. Die Sache wird an die IV-Stelle des Kantons Solothurn zurückgewiesen, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch ab 1. Dezember 2005 neu verfüge.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2500.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 29. Mai 2008
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Maillard
 
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