VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 8C_702/2007  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 8C_702/2007 vom 17.06.2008
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_702/2007
 
Urteil vom 17. Juni 2008
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichter Lustenberger, Frésard,
 
Gerichtsschreiberin Schüpfer.
 
Parteien
 
Bundesamt für Sozialversicherungen, Effingerstrasse 20, 3003 Bern,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
M.________, Beschwerdegegnerin,
 
vertreten durch die Amtsvormundschaft X.________.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 1. Oktober 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1985 geborene M.________ bezieht seit August 2004 eine ganze Rente der Invalidenversicherung. Ab 4. Februar 2005 sass sie wegen des Verdachts auf vorsätzliche Tötung und Brandstiftung in Untersuchungshaft. Ab 1. April 2005 trat sie den vorzeitigen Strafvollzug an. Schliesslich wurde sie mit Urteil des Bezirksgerichts vom 12. Juli 2006 schuldig gesprochen und zu einer Freiheitsstrafe von sieben Jahren verurteilt. Nachdem die IV-Stelle des Kantons St. Gallen mit Schreiben vom 11. Oktober 2006 über die rechtskräftige Verurteilung informiert worden war, sistierte sie den Rentenbezug rückwirkend ab 1. März 2005 (Verfügung vom 29. November 2006) und forderte bereits bezahlte Beträge in der Höhe von insgesamt Fr. 30'093.- zurück (Verfügung vom 30. November 2006).
 
B.
 
Die gegen beide Verfügungen erhobene Beschwerde, mit welcher M.________ die Leistungssistierung und Rückforderung in der Zeit vom 1. März 2005 bis zu ihrer Verurteilung am 12. Juli 2006 angefochten hatte, hiess das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 1. Oktober 2007 teilweise gut, hob die angefochtenen Verfügungen auf und wies die Angelegenheit zu weiterer Abklärung und neuer Entscheidung an die IV-Stelle zurück.
 
C.
 
Das Bundesamt für Sozialversicherungen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des Entscheides des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. Oktober 2007.
 
M.________, vertreten durch ihren Beistand, verzichtet auf eine Stellungnahme. Die IV-Stelle ersucht um deren Gutheissung während das kantonale Gericht auf Abweisung schliesst.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Beim angefochtenen Rückweisungsentscheid handelt es sich um einen Vor- oder Zwischenentscheid im Sinne von Art. 93 BGG (BGE 133 V 477 E. 4.2 S. 481). Die Zulässigkeit der Beschwerde setzt somit - alternativ - voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Abs. 1 lit. a) oder dass die Gutheissung der Beschwerde sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Abs. 1 lit. b).
 
Der vorinstanzliche Entscheid präjudiziert, dass die Sistierung des Rentenanspruchs ganz oder teilweise davon abhängt, ob die Versicherte im Strafvollzug trotz ihrer gesundheitlichen Beeinträchtigung einer Arbeit nachgehen kann und welches Entgelt sie gegebenenfalls dabei erzielt. Ob die Voraussetzung eines erheblichen Aufwandes an Zeit oder Kosten erfüllt ist, kann offenbleiben. Jedenfalls ist davon auszugehen, dass der angefochtene Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirkt. Ein solcher wird nach der Rechtsprechung dann angenommen, wenn durch materiellrechtliche Anordnungen im Rückweisungsentscheid der Beurteilungsspielraum der unteren Instanz wesentlich eingeschränkt wird. Diese wird aufgrund des angefochtenen Entscheides verpflichtet, Feststellungen auf einer Grundlage vorzunehmen, die sie als rechtswidrig erachtet, weil es die Frage, ob ein Rentenanspruch während eines Aufenthaltes in einer Strafvollzugsanstalt sistiert werden kann davon abhängig macht, was die versicherte Person im Strafvollzug (im weitesten Sinne) verdienen kann und nicht nur, ob dieser im geschlossenen Rahmen oder in Halbgefangenschaft absolviert wird. In dieser Konstellation führt der Rückweisungsentscheid deshalb zu einem nicht wieder gutzumachenden Nachteil, weshalb auf die Beschwerde einzutreten ist (vgl. BGE 133 V 477, E. 5.2.4 S. 484).
 
3.
 
Streitig und zu prüfen ist die Rechtsfrage, ob die Ausrichtung der Invalidenrente der Beschwerdeführerin während der Dauer der Untersuchungshaft und des vorzeitigen Strafvollzuges sistiert werden kann.
 
3.1 Die Auszahlung von Geldleistungen mit Erwerbsersatzcharakter kann gemäss Art. 21 Abs. 5 ATSG ganz oder teilweise eingestellt werden, solange sich die versicherte Person im Straf- oder Massnahmenvollzug befindet; ausgenommen sind die Geldleistungen für Angehörige im Sinne von Art. 21 Abs. 3 ATSG. In BGE 133 V 1 wurde entschieden, dass Art. 21 Abs. 5 ATSG an der bisherigen Rechtsprechung (BGE 116 V 323), wonach Untersuchungshaft von gewisser Dauer in gleicher Weise Anlass zur Rentensistierung gibt wie jede andere Form des von einer Strafbehörde angeordneten Freiheitsentzuges, nichts geändert hat. Ratio legis ist dabei die Gleichbehandlung der invaliden mit der validen inhaftierten Person, welche durch einen Freiheitsentzug ihr Einkommen verliert. Entscheidend ist, dass eine verurteilte Person wegen der Verbüssung einer Strafe an einer Erwerbstätigkeit verhindert ist. Nur wenn die Vollzugsart der verurteilten versicherten Person die Möglichkeit bietet, eine Erwerbstätigkeit auszuüben und somit selber für die Lebensbedürfnisse aufzukommen, verbietet es sich, den Rentenanspruch zu sistieren (BGE 133 V 1 E. 4.2.4.1 S. 6).
 
3.2 Was die Ausrichtung der Invalidenrente während der Untersuchungshaft anbelangt, befolgt die Vorinstanz die Rechtsprechung des Bundesgerichts und lässt die Sistierung der Rente durch die IV-Stelle grundsätzlich zu. Bezüglich des vorzeitigen Strafvollzuges hält das kantonale Gericht fest, dass dieser, gleich wie die Untersuchungshaft, vom Wortlaut des Art. 21 Abs. 5 ATSG nicht erfasst werde, insgesamt aber doch näher beim Strafvollzug als bei der Untersuchungshaft anzusiedeln und daher im Anwendungsbereich dieser Bestimmung ersterem gleichzustellen sei. Bei Art. 21 Abs. 5 ATSG handle es sich indessen - so die Vorinstanz - um eine Kann-Vorschrift, weshalb durch eine einzelfallbezogene Prüfung abzuklären sei, ob durch die weitere Rentenausrichtung eine geradezu stossende Besserstellung des invaliden gegenüber dem validen Gefangenen resultieren würde. Insbesondere sei zu prüfen, ob dem invaliden - wie dem validen - Gefangenen eine Arbeit nach Art. 81 Abs. 1 StGB möglich sei, inwiefern er dadurch ein Startkapital ersparen könne (Art. 83 Abs. 2 StGB) und ob er an den Vollzugskosten beteiligt werde (Art. 380 StGB).
 
4.
 
Im Urteil Z. vom 25. Oktober 2007 (SZS 2008 S. 165 [8C_176/2007]) in welchem sich bei vergleichbarem Sachverhalt dieselben Rechtsfragen stellten, hat das Bundesgericht festgestellt, dass Anlass zur Rentensistierung gemäss Art. 21 Abs. 5 ATSG grundsätzlich - in Abweichung vom Wortlaut der Norm - neben der Untersuchungshaft (BGE 133 V 1) auch der vorzeitige Strafvollzug gibt (E. 4.2). Ebenso wurde im angeführten Entscheid dargelegt, dass die Kann-Vorschrift von Art. 21 Abs. 5 ATSG es erlaubt, den besonderen Umständen Rechnung zu tragen, wenn eine gesunde Person trotz Straf- oder Massnahmenvollzug einer Erwerbstätigkeit nachgehen könnte - wie in der Halbgefangenschaft oder Halbfreiheit -, dass die Arbeitspflicht gemäss Art. 81 Abs. 1 StGB aber nicht unter diese Erwerbstätigkeit fällt. Eine solche liegt nur dann vor, wenn das für die Arbeit entrichtete Entgelt ungefähr dem entspricht, was auf dem Arbeitsmarkt dafür zu erwarten wäre, es sich also um eigentlichen Lohn und nicht um ein blosses Pekulium handelt. Wie im Urteil vom 25. Oktober 2007 bereits ausgeführt, müssen invalide Strafgefangene keine Rückstellungen für den Wiedereinstieg ins Erwerbsleben machen können, da sie dannzumal wieder in den Genuss der bloss sistierten Rente kommen. Ebenso wenig ist eine Weiterausrichtung der Rente dafür notwendig, um eine Beteiligung an den Kosten des Straf- oder Massnahmenvollzugs zu ermöglichen, da mit einer solchen gemäss Art. 380 StGB bei invaliden Gefangenen nicht zu rechnen ist (a.a.O. E. 4.2). Vorliegend besteht keine Veranlassung diese neuere Rechtsprechung zu überprüfen oder in Frage zu stellen.
 
5.
 
Die Beschwerde ist offensichtlich begründet und im vereinfachten Verfahren (Art. 109 Abs. 2 lit. b BGG) zu erledigen.
 
6.
 
Die Gerichtskosten werden der Beschwerdegegnerin als unterliegender Partei auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 1. Oktober 2007 aufgehoben.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen wird über eine Neuverlegung der Gerichtskosten für das kantonale Verfahren entsprechend dem Ausgang des letztinstanzlichen Prozesses zu befinden haben.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen, der IV-Stelle des Kantons St. Gallen und der Ausgleichskasse des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. Juni 2008
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Ursprung Schüpfer
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).