BGer 9C_456/2008 | |||
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BGer 9C_456/2008 vom 05.09.2008 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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9C_456/2008
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Urteil vom 5. September 2008
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II. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
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Bundesrichter Kernen, Seiler,
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Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
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Parteien
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B.________,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Aargau, Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 12. März 2008.
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Sachverhalt:
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A.
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B.________ (geb. 1953) wurde mit Verfügung vom 10. Februar 1997 mit Wirkung ab 1. Oktober 1992 eine Viertelsrente der Invalidenversicherung zugesprochen. Im Rahmen eines von ihm dagegen eingeleiteten Beschwerdeverfahrens nahm die IV-Stelle des Kantons Aargau die Verfügung vom 10. Februar 1997 zurück und sprach ihm eine halbe Rente zu (Verfügung vom 12. Mai 1997 bzw. 10. Juni 1997; nachfolgend: 10. Juni 1997). Mit Wirkung ab 1. November 1999 erhöhte die Verwaltung dieselbe auf eine ganze Rente (Verfügung vom 16. Februar 2001).
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Auf die im Januar 2007 gestellten Gesuche des B.________ um Wiedererwägung und Revision der Verfügung vom 10. Juni 1997 trat die IV-Stelle mit formloser Verfügung vom 7. März 2007 (Wiedererwägungsgesuch) und mit Verfügung vom 22. Mai 2007 (Revisionsgesuch) nicht ein. Des Weitern teilte sie B.________ am 4. Juni 2007 mit, dass sie den von ihm nach Verfügungserlass (am 23. Mai 2007) eingereichten Bericht der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsspitals X.________ vom 14. Mai 2007 nicht in dem Sinne als erhebliches Beweismittel betrachte, als er einen grundlegend anderen Entscheid bedingen würde.
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B.
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Beschwerdeweise liess B.________ das Rechtsbegehren stellen, die Verfügung vom 22. Mai 2007 sei aufzuheben und die IV-Stelle sei anzuweisen, auf das Revisionsgesuch einzutreten. Es sei ihm rückwirkend für die Zeit vom 1. Oktober 1992 bis 31. Oktober 1999 eine ganze Rente (zuzüglich Verzugszins ab 15. April 1996) auszurichten. Eventualiter sei die IV-Stelle anzuweisen, "betreffend den geltend gemachten Revisionsgrund der Legasthenie etc. eine ärztliche Begutachtung durchzuführen und hernach neu zu verfügen". Es seien die Vorakten aus den Händen der IV-Stelle zu edieren. Unter Kosten- und Entschädigungsfolgen. Mit Entscheid vom 12. März 2008 wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau die Beschwerde ab.
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C.
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B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der kantonale Entscheid sei aufzuheben und die Sache sei zur neuen Beurteilung an das kantonale Gericht oder die IV-Stelle zurückzuweisen.
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Erwägungen:
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1.
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Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann nach Art. 95 lit. a BGG die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Artikel 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2.
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2.1 Streitig und zu prüfen ist, ob die IV-Stelle auf dem Weg der prozessualen Revision auf die Verfügung vom 10. Juni 1997 zurückzukommen und dem Beschwerdeführer eine höhere als die damals mit Wirkung ab 1. Oktober 1992 zugesprochene halbe Invalidenrente auszurichten hat.
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2.2 Im angefochtenen Entscheid werden die für die Beurteilung dieser Frage massgebenden gesetzlichen Bestimmungen und Grundsätze zutreffend dargelegt; es betrifft dies namentlich die von der Rechtsprechung entwickelten Voraussetzungen für ein Zurückkommen auf rechtskräftige Verfügungen mittels prozessualer Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG; vgl. auch BGE 127 V 466 E. 2c S. 469). Darauf wird verwiesen.
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3.
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3.1 Der Beschwerdeführer bejaht die streitige Frage mit der (bereits im kantonalen Verfahren vorgetragenen) Begründung, der IV-Stelle sei zum Zeitpunkt der Verfügung vom 10. Juni 1997 nicht bekannt gewesen, dass er seit Geburt Legastheniker sei. Er selber habe erst durch das Schreiben seiner Mutter vom 31. Oktober/1. November 2006 erfahren, dass Legasthenie für seine schulischen Schwächen verantwortlich sein könnte. Seit der neuropsychologischen Untersuchung im Mai 2007 (Bericht der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsspitals X.________ vom 14. Mai 2007) stehe nun fest, dass er seit frühester Kindheit sowohl an Defiziten in den Lern- und Gedächtnisleistungen als auch an einer Lese- und Schreibschwäche leide. Aufgrund dieser Einschränkungen sei er nicht in der Lage, das von der IV-Stelle angenommene Invalideneinkommen von Fr. 56'073.- (für das Jahr 1992) zu erzielen, welches einem Einkommen als kaufmännischer Angestellter in der Kategorie 2 entspreche und damit selbstständige und qualifizierte Büroarbeiten im Kaderbereich umfasse. Er verfüge über keinen Abschluss als technischer Kaufmann und könne nur einfache Büroarbeiten ausführen, wie Post austragen, Fotokopien erstellen, Dokumente ablegen, Telefonanrufe weiterleiten etc.
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3.2 Vorinstanz und IV-Stelle gehen zu Recht davon aus, dass die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Legasthenie bzw. Lese- und Schreibschwäche die Voraussetzungen einer prozessualen Revision im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG nicht erfüllt. Denn es handelt sich dabei insoweit nicht um eine neue erhebliche Tatsache, als der IV-Stelle zum Zeitpunkt des Erlasses der damaligen Verfügung, wie sich aus dem Begründungsblatt zu derselben ergibt (vgl. auch Wiedererwägung/Vernehmlassung der IV-Stelle vom 12. Mai 1997), die beim Beschwerdeführer in diesen Bereichen bestehenden Schwächen bekannt waren und die IV-Stelle denselben (und daneben auch der fehlenden Erfahrung) im Rahmen des Einkommensvergleichs mit einer Reduktion von 10 % vom tabellarisch ermittelten Invalidenlohn Rechnung trug. Dass mit anderen Worten im Rahmen der damaligen Verfügung die sprachlichen und mathematischen Schwierigkeiten als lohnmindernder Faktor Berücksichtigung fanden, ist entscheidend; unerheblich ist, auf welcher Ursache (Legasthenie etc.) dieselben beruhen. Damit stellt auch der Bericht der Neurologischen Klinik und Poliklinik des Universitätsspitals X.________ vom 14. Mai 2007 kein neues Beweismittel im prozessualrevisionsrechtlichen Sinne dar, dient er doch weder dem Beweis einer die Revision begründenden neuen erheblichen Tatsache noch dem Beweis von Tatsachen, die im früheren Verfahren zwar bekannt waren, aber unbewiesen geblieben sind. Auf die Frage, inwieweit eine neuropsychologische Untersuchung überhaupt über die zehn Jahre zurückliegenden gesundheitlichen Verhältnisse Auskunft zu geben vermöchte, braucht bei dieser Sachlage nicht weiter eingegangen zu werden.
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Nicht gefolgt werden kann dem Beschwerdeführer auch, soweit er geltend macht, die Vorinstanz und die IV-Stelle seien im Rahmen der Ermittlung des Invalideneinkommens zu Unrecht davon ausgegangen, er habe an der Höheren Handelsschule Z.________ eine Ausbildung erfolgreich absolviert. Denn seine Behauptung, er habe an der Höheren Handelsschule Z.________ nur einzelne Kurse besucht und nie einen Abschluss als technischer Kaufmann gemacht, steht im Widerspruch zu den Akten (vgl. insbesondere Bestätigung der Höhere Handelsschule Z.________ vom 15. April 1985); sie lässt die vorinstanzliche Feststellung des Sachverhalts nicht als mangelhaft im Sinne von Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG erscheinen. Mit seinem weiter vorgetragenen Einwand, die IV-Stelle habe das Invalideneinkommen nicht anhand der richtigen Tabellenkategorie ermittelt, rügt er falsche Rechtsanwendung (vgl. BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399), wofür die prozessuale Revision ohnehin nicht zur Verfügung steht (Art. 53 Abs. 1 ATSG). Auf eine unrichtige Rechtsanwendung könnte hingegen im Rahmen einer Wiedererwägung zurückgekommen werden, soweit die Verfügung zweifellos unrichtig und ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung wäre (Art. 53 Abs. 2 ATSG). Entgegen der vom Beschwerdeführer vertretenen Auffassung lässt sich aber der Beizug von Kategorie 2 der damals verwendeten Tabellenlöhne in keiner Weise beanstanden, weil diese - entgegen der Behauptung in der Beschwerde - nicht etwa qualifizierte, selbstständig arbeitende Angestellte umfasste, sondern nicht selbstständig arbeitende Angestellte mit abgeschlossener Berufslehre oder besonderen Fachkenntnissen wie Zeichner, Laboranten, Hilfsbuchhalter, zweite Verkäufer usw. (Lohn- und Gehaltserhebung des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit vom Oktober 1992, S. 4), unter welche Kategorie der Beschwerdeführer mit der einjährigen Ausbildung zum technischen Kaufmann ohne weiteres fällt. Für seinen abweichenden Standpunkt stützt sich der Versicherte des Weitern offenbar irrtümlich auf die eine andere Einteilung vornehmende Lohnstrukturerhebung (LSE) des Bundesamtes für Statistik (welche im Jahr 1994 die Lohn- und Gehaltserhebung des Bundesamtes für Industrie, Gewerbe und Arbeit ablöste), gemäss welcher das Anforderungsniveau 2 in der Tat der Verrichtung selbstständiger und qualifizierter Arbeiten entspricht, die aber im Falle des Beschwerdeführers nicht zur Anwendung gelangt war.
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4.
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Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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3.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau, der Ausgleichskasse des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 5. September 2008
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
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Meyer Keel Baumann
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