BGer 1C_339/2008 | |||
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BGer 1C_339/2008 vom 24.09.2008 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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1C_339/2008 /daa
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Urteil vom 24. September 2008
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I. öffentlich-rechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Féraud, Präsident,
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Bundesrichter Aemisegger, Reeb,
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Gerichtsschreiber Dold.
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Parteien
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X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt Stephan Bernard,
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gegen
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Y.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Rechtsanwältin Dina Raewel.
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Gegenstand
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Unentgeltliche Rechtspflege,
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Beschwerde gegen die Verfügung vom 18. Juli 2008
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des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichterin.
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Sachverhalt:
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A.
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Die Kantonspolizei Zürich verfügte am 2. Juli 2008 gegenüber X.________ gestützt auf das Gewaltschutzgesetz des Kantons Zürich vom 19. Juni 2006 (GSG/ZH) ein Rayonverbot für das ganze Stadtgebiet von Schlieren und ein Kontaktverbot zu dessen Ehefrau Y.________ und den zwei gemeinsamen Kindern. Y.________ ersuchte am 3. Juli 2008 um Verlängerung der angeordneten Gewaltschutzmassnahmen (§ 6 Abs. 1 GSG/ZH). Bezüglich der gemeinsamen Kinder beantragte sie sinngemäss, das Kontaktverbot durch ein begleitetes Besuchsrecht zu ersetzen. X.________ verlangte am 7. Juli 2008 sinngemäss die Aufhebung der angeordneten Gewaltschutzmassnahmen (§ 5 GSG/ZH). Da beide Parteien der auf den 10. Juli 2008 anberaumten Anhörung vor dem Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich fernblieben, wurde aufgrund der Akten entschieden.
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Am folgenden Tag stellte sich heraus, dass X.________ nicht ordentlich vorgeladen worden war. Mit Eingabe vom 11. Juli 2008 ersuchte X.________ deshalb um Wiedererwägung der Verfügung vom 10. Juli 2008. Ferner ersuchte er um einen unentgeltlichen Rechtsbeistand und unentgeltliche Rechtspflege. Noch am selben Tag hob der Haftrichter die vortags erlassene Verfügung auf und lud die Parteien zur Anhörung auf den 17. Juli 2008 vor.
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Mit Verfügung vom 18. Juli 2008 entschied die neu mit der Sache befasste Haftrichterin, dass das Rayonverbot und das Kontaktverbot zur Gesuchstellerin bis am 2. Oktober 2008 verlängert werden, das Kontaktverbot zu den Kindern jedoch aufgehoben wird. X.________ wurden die Gerichtskosten auferlegt. Sein Gesuch um unentgeltlichen Rechtsbeistand und unentgeltliche Rechtspflege wurde abgewiesen.
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B.
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Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten an das Bundesgericht vom 30. Juli 2008 beantragt X.________ im Wesentlichen, es sei ihm für das vorinstanzliche Verfahren die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen und in der Person von Stephan Bernard ein unentgeltlicher Rechtsvertreter zuzuweisen. Er rügt eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV.
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Weder die Haftrichterin noch die Beschwerdegegnerin haben sich zur Beschwerde vernehmen lassen.
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Erwägungen:
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1.
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1.1 Bei der angefochtenen Verfügung der Einzelrichterin in Strafsachen (Haftrichterin) handelt es sich um einen Endentscheid einer letzten kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d i.V.m. Art. 130 Abs. 3, Art. 90 BGG). Auf das Zürcher Gewaltschutzgesetz abgestützte Massnahmen werden im öffentlichen Interesse zum Schutz gefährdeter Personen und zur Entspannung einer häuslichen Gewaltsituation angeordnet. Sie sind weder an die Eröffnung eines Strafuntersuchungsverfahrens gebunden noch an die Einleitung eines Zivilverfahrens, namentlich eines Eheschutzverfahrens geknüpft. Deshalb unterliegen Verfügungen betreffend Massnahmen gemäss Zürcher Gewaltschutzgesetz der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (BGE 134 I 140 E. 2 S. 142 f. mit Hinweisen).
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1.2 Der Beschwerdeführer beantragt, die Ziffern 6 und 7 der angefochtenen Verfügung seien aufzuheben und es sei ihm für das vorinstanzliche Verfahren die unentgeltliche Prozessführung zu bewilligen und in der Person von Stephan Bernard ein unentgeltlicher Rechtsvertreter zuzuweisen. In Ziffer 6 der angefochtenen Verfügung werden die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer auferlegt. Ziffer 7 betrifft hingegen den Antrag der Gesuchstellerin des vorinstanzlichen Verfahrens auf unentgeltliche Prozessführung.
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Rechtsbegehren sind nach Treu und Glauben auszulegen, insbesondere im Lichte der dazu gegebenen Begründung. Eine sichtlich ungewollte oder unbeholfene Wortwahl schadet dem Beschwerdeführer nicht. Bei der Auslegung des Sinnes eines zu wenig bestimmt formulierten Rechtsbegehrens kann insbesondere auch auf die Beschwerdebegründung zurückgegriffen werden. Nach der Praxis genügt es bereits, wenn lediglich aus der Begründung hervorgeht, was der Beschwerdeführer verlangt (BGE 123 V 335 E. 1 S. 336 ff. mit Hinweisen; 123 IV 125 E. 1 S. 127; 115 Ia 107 E. 2b S. 109, so auch BGE 130 V 61 unveröffentlichte E. 3.2.1 mit Hinweisen).
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Aus dem Rechtsbegehren und der Beschwerdebegründung geht hervor, dass sich die Beschwerde nicht gegen die Ziffern 6 und 7, sondern gegen die Ziffern 3 und 6 der angefochtenen Verfügung richten soll. In Ziffer 3 wird das Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes abgewiesen. Dass nach dem Wortlaut der Rechtsbegehren die Aufhebung der Ziffer 7 statt der Ziffer 3 beantragt wird, ist ein offensichtliches Versehen, das dem Beschwerdeführer nicht zum Nachteil gereicht.
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2.
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Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 29 Abs. 3 BV. Nach dieser Bestimmung hat jede Person, die nicht über die erforderlichen Mittel verfügt, Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie ausserdem Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand. Ob Art. 29 Abs. 3 BV verletzt wurde, prüft das Bundesgericht frei (BGE 134 I 12 E. 2.3 S. 14).
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Im angefochtenen Entscheid wird die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers anerkannt, jedoch sein Begehren als aussichtslos und die Bestellung eines unentgeltlichen Rechtsbeistandes als nicht notwendig beurteilt.
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2.1 Als aussichtslos sind nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung Prozessbegehren anzusehen, bei denen die Gewinnaussichten beträchtlich geringer sind als die Verlustgefahren und die deshalb kaum als ernsthaft bezeichnet werden können. Dagegen gilt ein Begehren nicht als aussichtslos, wenn sich Gewinnaussichten und Verlustgefahren ungefähr die Waage halten oder die Gewinnaussichten nur wenig geringer sind als die Verlustgefahren. Massgebend ist, ob eine Partei, die über die nötigen Mittel verfügt, sich bei vernünftiger Überlegung zu einem Prozess entschliessen würde. Eine Partei soll einen Prozess, den sie auf eigene Rechnung und Gefahr nicht führen würde, nicht auf Kosten des Gemeinwesens anstrengen können. Die Prozesschancen sind in vorläufiger und summarischer Prüfung des Prozessstoffes abzuschätzen. Ob ein Begehren aussichtslos erscheint, beurteilt sich aufgrund der Verhältnisse im Zeitpunkt des Gesuchs (BGE 133 III 614 E. 5 S. 616; 129 I 129 E. 2.3.1 S. 135 f., je mit Hinweisen).
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Die auf das kantonale Gewaltschutzgesetz gestützte Verfügung vom 10. Juli 2008 wurde ohne die gesetzlich vorgeschriebene Anhörung des Gesuchsgegners erlassen (§§ 9 Abs. 3, 10 Abs. 2, 11 Abs. 1 GSG/ZH). Damit stellte sich die Frage, ob dessen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt wurde (Art. 29 Abs. 2 BV).
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Das rechtliche Gehör dient einerseits der Sachaufklärung, anderseits stellt es ein persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht beim Erlass eines Entscheids dar, welcher in die Rechtsstellung des Einzelnen eingreift (BGE 127 I 54 E. 2b S. 56). Das Recht, angehört zu werden, ist formeller Natur. Dies bedeutet, dass die Verletzung des rechtlichen Gehörs ungeachtet der Erfolgsaussichten der Beschwerde in der Sache selbst zur Aufhebung der angefochtenen Verfügung führt. Es kommt mit anderen Worten nicht darauf an, ob die Anhörung im konkreten Fall für den Inhalt des Entscheids von Bedeutung ist (BGE 132 V 387 E. 5.1 S. 390 mit Hinweisen; 127 V 431 E. 3 d/aa S. 437 mit Hinweis). Der Anspruch auf rechtliches Gehör gründet in der Auffassung, dass der Bürger in einem staatlichen Verfahren nicht blosses Objekt sein darf, sondern Prozesssubjekt ist und in dieser Eigenschaft durch aktives Mitwirken seine Rechte zur Geltung bringen kann (BGE 116 Ia 94 E. 3b S. 99 mit Hinweis).
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Die Vorinstanz hält fest, dass sich der Sachverhalt seit ihrer ersten Verfügung nicht geändert habe, auch wenn man die nun erfolgte Anhörung berücksichtige. Es bestünde keine Aussicht auf Aufhebung der Schutzmassnahmen und das Begehren sei aussichtslos.
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Diese Feststellung steht in Widerspruch zum Zweck des rechtlichen Gehörs sowohl als Instrument der Sachaufklärung als auch als persönlichkeitsbezogenes Mitwirkungsrecht. Nach dem kantonalen Gewaltschutzgesetz stellt die Anhörung des Gesuchstellers und des Gesuchsgegners ein wesentliches Element der Sachaufklärung dar. Das Begehren, die Anhörung sei nachzuholen und die Verfügung sei in Wiedererwägung zu ziehen, war deshalb nicht aussichtslos. Es war im Gegenteil erfolgreich. Dass im konkreten Fall die Verfügung nicht im Sinne des Beschwerdeführers geändert wurde, ändert daran nichts. Es ist zudem unter den gegebenen Umständen mit der formellen Natur des rechtlichen Gehörs nicht vereinbar, mit Hinweis auf den materiellen Ausgang des Verfahrens das Begehren als aussichtslos zu bezeichnen.
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2.2 Gemäss Art. 29 Abs. 3 BV hat die bedürftige Partei, deren Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint, Anspruch auf unentgeltlichen Rechtsbeistand, soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist. Dies ist dann der Fall, wenn ihre Interessen in schwerwiegender Weise betroffen sind und der Fall in tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten bietet, die den Beizug eines Rechtsvertreters erforderlich machen. Dabei sind neben der Komplexität der Rechtsfragen und der Unübersichtlichkeit des Sachverhalts auch in der Person des Betroffenen liegende Gründe zu berücksichtigen, so das Alter, die soziale Situation, Sprachkenntnisse und allgemein die Fähigkeit, sich im Verfahren zurecht zu finden (BGE 128 I 225 E. 2.5.2 S. 232 f.; 123 I 145 E. 2b/cc S. 147, je mit Hinweisen). Gilt in einem Verfahren die Untersuchungsmaxime, so lässt dies die anwaltliche Vertretung nicht ohne Weiteres als unnötig erscheinen. Abgesehen davon, dass die Untersuchungsmaxime allfällige Fehlleistungen der Behörde nicht zu verhindern vermag, ist zu bedenken, dass sie nicht unbegrenzt ist. Sie verpflichtet die Behörde zwar, von sich aus alle Elemente in Betracht zu ziehen, die entscheidwesentlich sind, und unabhängig von den Anträgen der Parteien Beweise zu erheben. Diese Pflicht entbindet die Beteiligten indessen nicht davon, durch Hinweise zum Sachverhalt oder Bezeichnung von Beweisen am Verfahren mitzuwirken (BGE 130 I 180 E. 3.2 S. 183 f. mit Hinweisen). Somit kann auch in Verfahren wie dem vorliegenden, die vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht sind, eine anwaltliche Vertretung erforderlich sein.
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Gegen den Beschwerdeführer wurden zunächst ein Rayonverbot für das ganze Stadtgebiet sowie ein Kontaktverbot zu seiner Ehefrau und seinen zwei Kindern verhängt. Der Entscheid über die Verlängerung, Änderung oder Aufhebung dieser Schutzmassnahmen war für den Beschwerdeführer von grosser Tragweite. Die Verletzung des rechtlichen Gehörs und die Möglichkeit der Wiedererwägung warfen zudem Rechtsfragen auf, denen der Beschwerdeführer als juristischer Laie nicht gewachsen war. Dem Hinweis der Vorinstanz, die geltend gemachten sprachlichen Schwierigkeiten könnten durch einen gerichtlich bestellten Dolmetscher behoben werden, kann nicht gefolgt werden. Ein Dolmetscher vermag einen Rechtsbeistand, der juristisch ausgebildet ist und auch im Vorfeld des Verfahrens unterstützend tätig wird, nicht zu ersetzen.
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3.
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Insgesamt sind die Voraussetzungen für den Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege und unentgeltlichen Rechtsbeistand erfüllt. Die Beschwerde ist deshalb gutzuheissen und die haftrichterliche Verfügung insoweit aufzuheben, als dem Beschwerdeführer die unentgeltliche Rechtspflege und ein unentgeltlicher Rechtsbeistand verweigert wurden (Ziffern 3 und 6 der angefochtenen Verfügung). Es wird Sache der Haftrichterin sein, die Kostenfolgen des kantonalen Verfahrens und die Bestellung des Rechtsvertreters des Beschwerdeführers zu regeln, weshalb die Angelegenheit diesbezüglich an die Vorinstanz zurückgewiesen wird (Art. 107 Abs. 2 BGG).
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4.
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Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind im bundesgerichtlichen Verfahren keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 BGG). Aufgrund der konkreten Umstände des vorliegenden Falles ist es gerechtfertigt, in Anwendung von Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG dem Beschwerdeführer zu Lasten des Kantons Zürich eine Parteientschädigung von Fr. 1'500.-- zuzusprechen. Bei dieser Kosten- und Entschädigungsregelung wird das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird gutgeheissen und die Ziffern 3 und 6 der Verfügung der Haftrichterin des Bezirksgerichts Zürich vom 18. Juli 2008 werden aufgehoben. Die Sache wird zur Neuregelung der Kostenfolgen und Bestellung eines Rechtsvertreters für den Beschwerdeführer im kantonalen Verfahren an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2.
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Es werden keine Kosten erhoben.
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3.
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Der Kanton Zürich hat den Beschwerdeführer mit Fr. 1'500.-- zu entschädigen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichterin, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 24. September 2008
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Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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Féraud Dold
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