VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_510/2008  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_510/2008 vom 09.10.2008
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_510/2008 /hum
 
Urteil vom 9. Oktober 2008
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Schneider, Präsident,
 
Bundesrichter Zünd, Mathys,
 
Gerichtsschreiberin Binz.
 
Parteien
 
X.________,
 
Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwalt
 
Dr. René Bussien,
 
gegen
 
Amt für Justizvollzug des Kantons Zürich, Amtsleitung, Feldstrasse 42, 8090 Zürich,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Strafantritt; Hafterstehungsfähigkeit; Fristwiederherstellung,
 
Beschwerde gegen die Verfügungen der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich, vom 3. April 2008, und des Verwaltungsgerichts des Kantons Zürich, 4. Abteilung, Einzelrichter, vom 22. Mai 2008.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ wurde mit Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 16. November 2001 der Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz schuldig gesprochen und mit zwei Jahren Zuchthaus bestraft. Sowohl das Kassationsgericht des Kantons Zürich als auch das Bundesgericht wiesen die von X.________ dagegen erhobene kantonale bzw. eidgenössische Nichtigkeitsbeschwerde ab. Mit Verfügung des Strafvollzugsdienstes des Amtes für Justizvollzug vom 1. Juli 2003 wurde er auf den 1. September 2003 in den Strafvollzug vorgeladen.
 
B.
 
Gegen die Verfügung erhob X.________ Rekurs, welchen die Direktion der Justiz und des Innern (nachfolgend Justizdirektion) mit Verfügung vom 31. Oktober 2003 abwies. In der Folge musste X.________ notfallmässig hospitalisiert werden, und es kam nicht zum Strafantritt. Das Amt für Justizvollzug beauftragte daraufhin das Institut für Rechtsmedizin der Universität Zürich (nachfolgend IRM) mit der ärztlichen Untersuchung von X.________ und mit der Erstellung eines Gutachtens über dessen Hafterstehungsfähigkeit. Mit Verfügung vom 4. Dezember 2007 lud es ihn erneut in den Strafvollzug vor. X.________ erhob wiederum Rekurs, welchen die Justizdirektion mit Verfügung vom 3. April 2008 abwies. Als Rechtsmittelbehörde nannte sie das Verwaltungsgericht des Kantons Zürich. Dieses trat jedoch mit Verfügung des Einzelrichters vom 22. Mai 2008 aufgrund fehlender Zuständigkeit nicht auf die dagegen erhobene Beschwerde ein.
 
C.
 
X.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, die Verfügungen vom 3. April 2008 und vom 22. Mai 2008 seien aufzuheben, und es sei festzustellen, dass er nicht fähig sei, die Strafe von zwei Jahren Gefängnis zu verbüssen. Eventualiter sei das Verfahren an die Vorinstanz zur materiellen Behandlung zurückzuweisen, subeventualiter mit dem Antrag, ein psychiatrisches Gutachten über ihn zu erstellen. Die Beschwerdefrist von 30 Tagen sei wiederherzustellen. Zudem ersucht X.________ um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der Beschwerdeführer ersucht um Fristwiederherstellung (Art. 50 BGG i.V.m. Art. 49 BGG) zur Anfechtung der Verfügung der Justizdirektion. Er habe nicht beurteilen können, ob das Verwaltungsgericht zur materiellen Behandlung der Beschwerde gegen diese Verfügung zuständig war und habe sich deshalb auf die Rechtsmittelbelehrung verlassen, wonach das Verwaltungsgericht Beschwerdeinstanz sei.
 
1.1 Gemäss Art. 49 BGG dürfen den Parteien aus mangelhafter Eröffnung, insbesondere wegen unrichtiger oder unvollständiger Rechtsmittelbelehrung oder wegen Fehlens einer vorgeschriebenen Rechtsmittelbelehrung, keine Nachteile erwachsen. Wird wegen einer unrichtigen, unvollständigen oder fehlenden Belehrung ein falsches Rechtsmittel ergriffen, kann die Sache daher von Amtes wegen an die zuständige Instanz überwiesen werden. Allerdings geniesst nur Vertrauensschutz, wer den Mangel der Rechtsmittelbelehrung nicht kennt und ihn auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen können. Rechtsuchende geniessen keinen Vertrauensschutz, wenn der Mangel für sie bzw. ihren Rechtsvertreter allein schon durch Konsultierung der massgeblichen Verfahrensbestimmung ersichtlich ist. Dagegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch noch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird (BGE 134 I 199 E. 1.3.1 S. 202 f.; 132 I 92 E. 1.6 S. 96, je mit Hinweisen).
 
1.2 Gemäss Art. 50 Abs. 1 BGG wird die Frist wiederhergestellt, sofern die Partei unter Angabe des Grundes innert 30 Tagen nach Wegfall des Hindernisses darum ersucht und die versäumte Rechtshandlung nachholt. Die Verfügung der Justizdirektion enthält eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung. Dies war für den Beschwerdeführer nicht ohne weiteres erkennbar. Den Anforderungen von Art. 50 Abs. 1 BGG ist er nachgekommen, so dass die Frist wiederhergestellt und gewahrt ist.
 
2.
 
Die angefochtene Verfügung der Justizdirektion ist ein kantonal letztinstanzlicher Entscheid in Strafsachen im Sinne von Art. 78 Abs. 2 lit. b in Verbindung mit Art. 80 und Art. 130 Abs. 1 BGG. Auf die Beschwerde ist somit einzutreten.
 
3.
 
Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 74 f. StGB. Nach diesen Bestimmungen sei die Menschenwürde des Gefangenen oder Eingewiesenen zu achten. Er leide an einer chronischen Zucker- und einer schweren Leberkrankheit und sei physisch und psychisch nicht fähig, eine zweijährige Freiheitsstrafe zu verbüssen.
 
3.1 Eine vollstreckbare Freiheitsstrafe oder freiheitsentziehende Massnahme ist sofort zu vollziehen, wenn Fluchtgefahr oder eine erhebliche Gefährdung des Massnahmezweckes oder der Öffentlichkeit besteht (Art. 21 des Straf- und Justizvollzugsgesetzes, StJVG ZH). In den übrigen Fällen erlässt die Vollzugsbehörde einen Straf- oder Massnahmeantrittsbefehl. Gemäss Art. 48 Abs. 3 der Justizvollzugsverordnung (JVV ZH) kann sie auf Gesuch der verurteilten Person den Strafantritt auf einen späteren Termin verschieben, wenn dadurch erhebliche Gesundheitsrisiken oder andere erhebliche, nicht wiedergutzumachende Nachteile vermieden werden und weder der Vollzug der Strafe in Frage gestellt noch erhöhte Risiken für Dritte entstehen.
 
3.2 Die Justizdirektion führt aus, diese Bestimmung sei eine Kann-Vorschrift, so dass selbst bei Vorliegen einer erheblichen Gesundheitsgefährdung der Entscheid über den Aufschub des Strafvollzuges im Ermessen der Vollzugsbehörde liege. Gemäss bundesgerichtlicher Rechtsprechung habe sie dabei den gesundheitlichen Risiken für den Verurteilten das Interesse der Öffentlichkeit am Vollzug rechtskräftig ausgefällter Strafen gegenüberzustellen. Sie habe Möglichkeiten zur Beseitigung oder Reduzierung gesundheitlicher Risiken zu berücksichtigen, wobei auch eine zeitweise Unterbringung in einer medizinischen Einrichtung in Frage komme. Bei der Bestimmung des öffentlichen Interesses sei nicht nur auf Umstände wie Fluchtgefahr, Gemeingefährlichkeit oder das Risiko des Eintritts der Vollstreckungsverjährung abzustellen, sondern es müsse beim Grundsatz bleiben, dass rechtskräftig ausgesprochene Strafen trotz Nachteilen und Risiken für den Verurteilten zu vollziehen seien (angefochtene Verfügung E. 1 S. 2 f.). Weiter verweist die Justizdirektion auf die Ausführungen des Amtes für Justizvollzug. Diesen ist zu entnehmen, dass beim IRM ein Gutachten zur Hafterstehungsfähigkeit des Beschwerdeführers eingeholt wurde. Gemäss diesem würde sich der Beschwerdeführer körperlich in einem reduzierten Zustand befinden, wobei keine regelmässige ärztliche Betreuung bestehe. In Bezug auf die Blutzuckererkrankung sei deshalb davon auszugehen, dass die Auswirkungen des Freiheitsentzugs in dieser Hinsicht positiv ausfallen würden, da die fehlende Betreuung gewährleistet werden könnte. Bezüglich der Lebererkrankung müsse immer mit Komplikationen gerechnet werden. Das IRM stütze sein Gutachten unter anderem auf die ärztlichen Zeugnisse. Die privaten Arztzeugnisse seien als Parteivorbringen mit Zurückhaltung zu würdigen. Der Beschwerdeführer behaupte nicht, dass sich sein Gesundheitszustand seit der Begutachtung wesentlich verschlechtert hätte. Die Gefahr einer Verschlechterung seines Gesundheitszustandes sei auch nicht belegt. Hinzu komme, dass die medizinische Versorgung im Strafvollzug grundsätzlich gewährleistet sei und der Strafvollzug gemäss Art. 80 Abs. 1 StGB nötigenfalls in modifizierter Form durchgeführt werden könne. Unbeachtlich sei, dass die vom Beschwerdeführer begangenen Delikte schon lange zurückliegen und dass unter dem nunmehr geltenden Strafrecht rein theoretisch eine bedingte Freiheitsstrafe hätte ausgefällt werden können. Sein Verschulden sei als schwer eingestuft worden. Das öffentliche Interesse überwiege und verlange den Strafvollzug. Eine weitere Verschiebung des Strafantritts käme vorliegend letztlich einem Strafaufschub auf unbestimmte Zeit gleich, von dem ohnehin nur mit grösster Zurückhaltung Gebrauch gemacht werden dürfe. Die Justizdirektion folgert, nach diesen Ausführungen habe das Amt für Justizvollzug den Beschwerdeführer zu Recht in den Strafvollzug vorgeladen. Schliesslich könne die zu vollziehende Freiheitsstrafe aufgrund ihrer Dauer nur im Normalvollzug verbüsst werden, weshalb eine "Umwandlung" in einen Sozialdienst oder in gemeinnützige Arbeit nicht in Frage komme (angefochtene Verfügung E. 3 S. 4).
 
3.3 Der Beschwerdeführer bringt vor, Epileptiker und seit vielen Jahren in ärztlicher Behandlung zu sein. Er müsse täglich Insulin spritzen und sei zudem gemäss ärztlicher Diagnose stark vorgealtert. Einige Male habe er Zusammenbrüche wegen Bewusstseinsstörungen mit Speiseröhrenblutung erlitten und sei in stationärer Behandlung im Spital gewesen. Das IRM bejahe seine Hafterstehungsfähigkeit, stütze sich dabei aber nur auf zwei persönliche Konsultationen. Die Arztzeugnisse und Spitalberichte würden als Parteivorbringen abgelehnt werden. Diese seien jedoch aussagekräftiger als das Gutachten des IRM und würden die Hafterstehungsfähigkeit verneinen. Gemäss ärztlicher Diagnose würden seine Erkrankungen eine maligne Entwicklung aufweisen, was eine stete Verschlechterung in Richtung unheilbarer Krankheit bedeute. Die Vorladung zum Strafantritt würde diese Entwicklung beschleunigen. Zudem erhärte die Diagnose der starken biologischen Voralterung und Wesensveränderung zufolge Alkohol- und Drogenabusus seine Hafterstehungsunfähigkeit zusätzlich. Weiter leide er wegen des in Aussicht stehenden Vollzugs unter Angstzuständen und Schlaflosigkeit. Die Strafvollzugsbehörde sei zur Erstellung eines psychologisch-psychiatrischen Gutachtens zu beauftragen. Zusammengefasst widerspreche der in Aussicht gestellte Strafantritt den bundesrechtlichen Vollzugsgrundsätzen. So sei gemäss Art. 75 Abs. 1 StGB schädlichen Folgen des Freiheitsentzuges entgegenzuwirken. Das Aufgebot verletze zudem die verfassungsrechtliche Bestimmung über die Menschenwürde (Art. 7 BV) und der persönlichen Freiheit (Art. 10 Abs. 2 BV). Weiter schütze Art. 2 Ziff. 1 EMRK das Recht jedes Menschen auf Leben. Niemand dürfe unmenschlicher oder erniedrigender Strafe oder Behandlung unterworfen werden (Art. 3 EMRK).
 
3.4 Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung kommt eine Verschiebung des Vollzuges einer rechtskräftigen Strafe auf unbestimmte Zeit nur ausnahmsweise in Frage. Dafür wird verlangt, dass mit beträchtlicher Wahrscheinlichkeit damit zu rechnen ist, der Strafvollzug gefährde das Leben oder die Gesundheit des Verurteilten. Selbst dann noch ist eine Interessenabwägung vorzunehmen, wobei neben den medizinischen Gesichtspunkten Art und Schwere der begangenen Straftat und die Dauer der Strafe mitzuberücksichtigen sind. Je schwerer Tat und Strafe, umso schwerer fällt - im Vergleich zur Gefahr des Verlustes der körperlichen Integrität - der staatliche Strafanspruch ins Gewicht (BGE 108 Ia 69 E. 2c/d S. 72, mit Hinweisen).
 
3.5 Soweit der Beschwerdeführer die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem Recht rügt, genügt die Beschwerde den Begründungsanforderungen von Art. 106 Abs. 2 BGG nicht. Der Beschwerdeführer legt nicht näher dar, welche Bestimmung inwiefern verletzt worden sein soll. Seine Vorbringen erschöpfen sich in einer appellatorischen Kritik an der angefochtenen Verfügung, weshalb nicht darauf einzutreten ist (vgl. BGE 134 I 83 E. 3.2 S. 88, mit Hinweisen).
 
3.6 Im Sinne der Rechtsprechung zum Aufschub des Strafvollzugs ist zuerst zu prüfen, ob dieser das Leben oder die Gesundheit des Beschwerdeführers gefährden würde. Die Vorinstanz durfte dabei die vom Beschwerdeführer genannten Arztzeugnisse und Spitalberichte, welche als Bestandteil der Parteivorbringen gelten, zurückhaltender würdigen (vgl. BGE 127 I 73 E. 3f/bb S. 81 f., mit Hinweisen). Im vorliegenden Fall ergibt sich jedoch sowohl aus dem Gutachten des IRM als auch aus dem (aktuellsten) Arztzeugnis vom 22. Dezember 2007, dass der Beschwerdeführer an einer potentiell lebensgefährlichen Lebererkrankung leidet, sich aber diese Gefahr durch den Strafvollzug nicht vergrössern bzw. eher vermindern würde. So räumt der behandelnde Arzt des Beschwerdeführers selber ein, er zweifle zwar an dessen Hafterstehungsfähigkeit, aber jener sei möglicherweise unter Haftbedingungen besser überwacht, als wenn er sich selber überlassen sei (act. 5/Beilage 2). Das Gutachten des IRM begründet die Hafterstehungsfähigkeit des Beschwerdeführers damit, aufgrund der Lebererkrankung sei eine Blutung aus der Speiseröhre potentiell lebensgefährlich, eine solche Komplikation sei jedoch in jeder Lage lebensbedrohlich. Bezüglich der Zuckererkrankung wäre im Rahmen einer Haftstrafe eine bessere Zuckereinstellung möglich (act. 5/44 S. 12 f.). Demgemäss ist das Leben oder die Gesundheit des Beschwerdeführers nicht aufgrund, sondern bereits unabhängig von einem Strafvollzug gefährdet. Ein weiterer Aufschub des Vollzuges ist ausgeschlossen, womit sich die Vornahme einer Rechtsgüterabwägung erübrigt.
 
4.
 
Demgemäss ist die Beschwerde abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Weil die Rechtsbegehren des Beschwerdeführers von vornherein aussichtslos erschienen, ist sein Ersuchen um unentgeltliche Rechtspflege abzuweisen. Der Beschwerdeführer hat daher die bundesgerichtlichen Kosten zu zahlen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seiner finanziellen Lage ist mit einer herabgesetzten Gerichtsgebühr Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Zürich, 4. Abteilung, Einzelrichter, und der Direktion der Justiz und des Innern des Kantons Zürich schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 9. Oktober 2008
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Schneider Binz
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).