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Informationen zum Dokument  BGer 8C_45/2008  Materielle Begründung
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BGer 8C_45/2008 vom 16.12.2008
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_45/2008
 
Urteil vom 16. Dezember 2008
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Widmer, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Lustenberger, Bundesrichterin Leuzinger,
 
Gerichtsschreiberin Hofer.
 
Parteien
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
P.________, Beschwerdegegnerin, vertreten durch Advokat Stefan Hofer, Lange Gasse 90, 4052 Basel.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft vom 23. Mai 2007.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a Die 1973 geborene P.________ erlitt am 9. November 2002 einen Auffahrunfall, für dessen Folgen die SUVA zunächst Leistungen in Form von Heilbehandlung und Taggeld ausrichtete. Mit Verfügung vom 25. Juni 2004 wurden diese mit Wirkung ab 30. Juni 2004 eingestellt und der Anspruch auf Invalidenrente und Integritätsentschädigung verneint. Diese Verfügung bestätigte die SUVA mit Einspracheentscheid vom 5. November 2004. Die von der Versicherten dagegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Entscheid vom 25. Mai 2005 in dem Sinne gut, dass es den Einspracheentscheid aufhob und die Sache zur Abklärung des medizinischen Sachverhalts und zum Erlass einer neuen Verfügung im Sinne der Erwägungen an die SUVA zurückwies. Das von der SUVA hierauf angerufene damalige Eidgenössische Versicherungsgericht wies die dagegen erhobene Beschwerde mit Urteil vom 16. Januar 2006 ab (U 290/05).
 
A.b Mit Schreiben vom 17. Februar und 12. April 2006 liess P.________ bei der SUVA die Wiederaufnahme der Taggeldzahlungen rückwirkend ab 1. Juli 2004 geltend machen. Die SUVA lehnte dies mit Verfügung vom 27. April 2006 ab. Daran hielt sie mit Einspracheentscheid vom 21. August 2006 fest.
 
B.
 
P.________ liess dagegen Beschwerde an das Kantonsgericht Basel-Landschaft erheben mit dem Antrag, der Einspracheentscheid vom 21. August 2006 und die Verfügung vom 27. April 2006 seien aufzuheben und die SUVA sei zu verpflichten, ihr die versicherten Leistungen (Taggelder, Heilungskosten) ab 1. Juli 2004 einstweilen weiter zu gewähren. Das kantonale Gericht hiess mit Entscheid vom 23. Mai 2007 die Beschwerde gut und wies die SUVA an, der Versicherten die gesetzlichen Leistungen rückwirkend ab 1. Juli 2004 auszurichten.
 
C.
 
Die SUVA erhebt Beschwerde mit dem Antrag auf Aufhebung des kantonalen Entscheids vom 23. Mai 2007.
 
P.________ schliesst auf Abweisung der Beschwerde und ersucht für das bundesgerichtliche Verfahren um unentgeltliche Rechtspflege. Das Bundesamt für Gesundheit verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Richtet sich die Beschwerde gegen einen Entscheid über die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung, so kann jede unrichtige oder unvollständige Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gerügt werden, und das Bundesgericht ist nicht an die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
 
2.
 
Streitig ist, ob die Beschwerdeführerin für die Dauer der Abklärungen, die sie aufgrund des Rückweisungsentscheides treffen musste, Versicherungsleistungen auszurichten hat.
 
2.1 Die Vorinstanz bejaht die weiterdauernde Leistungspflicht für Taggeld und Heilbehandlung ab 1. Juli 2004, bis ein gesetzlich geregelter Grund für das Erlöschen der Leistungen eintritt oder die SUVA gestützt auf die Ergebnisse der zusätzlichen medizinischen Abklärungen gegenüber der Versicherten eine neue Leistungseinstellungsverfügung erlässt, weil die leistungsaufhebende Verfügung vom 25. Juni 2004 bzw. der Einspracheentscheid vom 5. November 2004 aufgehoben und die vor der Leistungseinstellung erfolgte Abklärung des medizinischen Sachverhalts durch die SUVA im kantonalen Gerichtsentscheid vom 25. Mai 2005 und im Urteil des damaligen Eidgenössischen Versicherungsgerichts vom 16. Januar 2006 für eine abschliessende Beurteilung der Unfallkausalität der gesundheitlichen Beschwerden als unzureichend betrachtet worden seien. Solange das Dahinfallen jeder kausalen Bedeutung von unfallbedingten Ursachen nicht mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit erstellt sei - wofür der Unfallversicherer die Beweislast trage - seien die bis anhin ausgerichteten (vorübergehenden) Leistungen weiter zu gewähren. Nach der Rechtsprechung sei eine verfrühte Leistungseinstellung nicht zulässig. Die Vorinstanz beruft sich dabei auf das Urteil des damaligen Eidgenössischen Versicherungsgerichts U 411/04 vom 2. Februar 2005, in: Plädoyer 2005/2 S. 79, wonach der Unfallversicherer die Leistungen nicht gestützt auf eine summarische Prüfung der medizinischen Aktenlage provisorisch bis zum Vorliegen eines in Auftrag gegebenen medizinischen Gutachtens einstellen darf.
 
2.2 Die Beschwerdeführerin hält dem entgegen, das Urteil U 411/04 sei nicht einschlägig. Vor der Einstellung der Taggelder habe sie umfangreiche Abklärungen getroffen, gestützt auf welche der Kreisarzt zum Schluss gekommen sei, aufgrund der organischen Unfallfolgen bestehe keine Behandlungsbedürftigkeit mehr.
 
2.3 Das erwähnte Urteil U 411/04 betraf einen Unfallversicherer, welcher seine Leistungen nicht endgültig einstellte, sondern lediglich provisorisch, mitten im Abklärungsverfahren, bis zum Vorliegen des angeforderten Gutachtens. Ein solches Vorgehen widerspricht laut den Erwägungen des früheren Eidgenössischen Versicherungsgerichts dem Grundsatz, dass die Unfallversicherer zuerst den rechtserheblichen Sachverhalt ausreichend abzuklären und gestützt auf die dabei eingeholten Unterlagen zu prüfen haben, ob die Lohnersatzzahlungen wegfallen. Wenn der Unfallversicherer zunächst Taggelder bezahlt und somit den entsprechenden Anspruch anerkannt habe, müsse er mit dem Beweisgrad der überwiegenden Wahrscheinlichkeit nachweisen, dass jede kausale Bedeutung von unfallbezogenen Ursachen des Gesundheitsschadens dahingefallen sei. Indem er die Taggeldleistungen lediglich provisorisch bis zum Vorliegen des angeforderten Gutachtens eingestellt habe, habe er eingeräumt, dass das Dahinfallen der Kausalität zwischen dem Unfall und den gesundheitlichen Beeinträchtigungen der Versicherten noch nicht mit dem verlangten Beweisgrad erstellt gewesen sei, womit es an einer Voraussetzung für die Einstellung der Taggeldzahlungen fehlte.
 
2.4 Nach dem Urteil U 411/04 ist es dem Unfallversicherer somit untersagt, nach einmal anerkannter Leistungspflicht die Leistungen einzustellen, bevor er den Sachverhalt, der ihn zur Leistungseinstellung berechtigt, abgeklärt hat. Darum geht es vorliegend indessen nicht, da die Beschwerdeführerin ihre Leistungen erst nach Durchführung entsprechender Abklärungen eingestellt hat, welche im Beschwerdeverfahren dann jedoch vom Gericht als ungenügend erachtet wurden.
 
3.
 
3.1 In BGE 129 V 370 hat das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht im Zusammenhang mit Verfügungen über die Revision von Renten entschieden, dass der Entzug der aufschiebenden Wirkung auch dann weiterhin gilt, wenn ein erst- oder letztinstanzliches Gerichtsurteil die Revisionsverfügung aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Verwaltung zurückgewiesen hat. Nach Ansicht der Vorinstanz ist diese Rechtsprechung auf die Einstellung von vorübergehenden Leistungen, welche bei einer unfallbedingten Arbeitsunfähigkeit der umgehenden Sicherstellung des Lebensunterhalts dienen, nicht analog anwendbar.
 
3.2 Demgegenüber vertritt die Beschwerdeführerin den Standpunkt, die Unterschiede zwischen Taggeld- und Rentenleistungen würden es nicht erlauben, die beiden Leistungsarten im Rahmen von Interessenabwägungen, wie sie im Zusammenhang mit der Gewährung der aufschiebenden Wirkung einer Beschwerde oder der Anordnung vorsorglicher Massnahmen vorzunehmen seien, differenziert zu betrachten. Der Entzug der aufschiebenden Wirkung in der Verfügung vom 25. Juni 2004 und im Einspracheentscheid vom 5. November 2004 daure an, wenn die Sache vom Gericht zur weiteren Abklärung an die Verwaltung zurückgewiesen werde, unabhängig davon, um was für Leistungen es sich handle. Dies ergebe sich insbesondere aus dem Urteil U 115/06 vom 24. Juli 2007, zusammengefasst in: SZS 2008 S. 168.
 
3.3 Im Versicherungsfall, welcher dem Urteil U 115/06 zugrunde lag, hatte der Unfallversicherer - anders als vorliegend die Beschwerdeführerin - weder in der Verfügung noch im Einspracheentscheid dem Rechtsmittel die aufschiebende Wirkung entzogen. Trotzdem war er während der Dauer des Rechtsmittelverfahrens nicht verpflichtet, Leistungen zu erbringen, da die Verwaltungsgerichtsbeschwerde an das damalige Eidgenössische Versicherungsgericht nur aufschiebende Wirkung gehabt hätte, wenn diese angeordnet worden wäre (Art. 111 Abs. 2 aOG), was nicht zutraf. Das Gericht hat weiter erwogen, nach dem letztinstanzlichen Rückweisungsentscheid habe an sich keine leistungsaufhebende Verfügung mehr vorgelegen. Indessen gelte nach der im Zusammenhang mit der Revision von Renten ergangenen Rechtsprechung (BGE 129 V 370) der Entzug der aufschiebenden Wirkung auch dann weiter, wenn ein erst- oder letztinstanzliches Gerichtsurteil die Revisionsverfügung aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Verwaltung zurückgewiesen habe. Diese Rechtsprechung gelte erst recht, wenn die aufschiebende Wirkung nicht entzogen worden sei, sondern von Gesetzes wegen gar nicht bestanden habe. Mit Bezug auf die Einstellung von Taggeldleistungen hielt das Gericht im Urteil U 115/06 dafür, diese sei mit einer revisionsweisen Aufhebung einer laufenden Rente vergleichbar. Auch im Rentenrevisionsverfahren stehe bis zum rechtskräftigen Entscheid nicht fest, ob die Voraussetzungen für eine Aufhebung (oder Reduktion) der Rente wirklich gegeben seien. Dies bilde vielmehr gerade Thema des Rechtsmittelverfahrens. Dabei stelle sich die Frage, ob bis zu dessen rechtskräftigem Abschluss die Rente weiterhin zu bezahlen sei. Genau gleich verhalte es sich im Verfahren betreffend Einstellung von Leistungen des Unfallversicherers.
 
3.4 Die Beschwerdeführerin wollte ihre Leistungen gestützt auf die im Administrativverfahren getätigten medizinischen Abklärungen mit Wirkung ab 30. Juni 2004 einstellen, da es zwischen den somatischen Beschwerden und dem Unfallereignis am natürlichen Kausalzusammenhang fehle und hinsichtlich der psychischen Problematik der adäquate Kausalzusammenhang zu verneinen sei. Aufgrund des vom damaligen Eidgenössischen Versicherungsgericht bestätigten (U 290/05 vom 16. Januar 2006) kantonalen Gerichtsentscheids vom 25. Mai 2005 hatte sie die Kausalitätsfrage medizinisch weiter abzuklären, zu welchem Zweck sie das interdisziplinäre Gutachten der Medizinischen Abklärungsstelle (Medas) vom 25. Oktober 2007 in Auftrag gab. Ist als Folge dieser Abklärungen die Frage zu verneinen, hat sie mit Recht auf diesen Zeitpunkt hin die Leistungen eingestellt. Ist die Frage zu bejahen, hat sie bis zum Zeitpunkt, in welchem die Kausalität entfällt, Leistungen zu erbringen.
 
3.5 Aus der im Urteil U 115/06 präzisierten Rechtsprechung ergibt sich, dass die Beschwerdeführerin nicht verpflichtet ist, für die Dauer der gerichtlich angeordneten weiteren medizinischen Abklärungen Versicherungsleistungen auszurichten. Der angefochtene Entscheid erweist sich somit als rechtswidrig und ist aufzuheben.
 
4.
 
4.1 Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 f. BGG). Nach Art. 66 Abs. 1 BGG werden die Gerichtskosten in der Regel der unterliegenden Partei auferlegt. Da die Beschwerdeführerin obsiegt, erübrigen sich Ausführungen zum Einwand der grundsätzlichen Kostenpflicht der Unfallversicherer (vgl. dazu jedoch: BGE 133 V 642).
 
4.2 Dem Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege ist stattzugeben, da die Partei bedürftig und die anwaltliche Verbeiständung geboten ist (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372). Es wird ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG verwiesen, wonach die Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, vom 23. Mai 2007 aufgehoben.
 
2.
 
Das Gesuch der Beschwerdegegnerin um unentgeltliche Rechtspflege für das bundesgerichtliche Verfahren wird gutgeheissen, und es wird ihr Advokat Stefan Hofer, Basel, als Rechtsbeistand beigegeben.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Advokat Stefan Hofer, Basel, wird aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 500.- ausgerichtet.
 
5.
 
Die Akten werden dem Kantonsgericht Basel-Landschaft zugestellt, damit es über das Gesuch um unentgeltliche Verbeiständung für das kantonale Verfahren entscheide.
 
6.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 16. Dezember 2008
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Die Gerichtsschreiberin:
 
i.V. Lustenberger Hofer
 
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