BGer 1B_1/2009 | |||
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BGer 1B_1/2009 vom 22.01.2009 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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1B_1/2009
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Urteil vom 22. Januar 2009
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I. öffentlich-rechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Féraud, Präsident,
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Bundesrichter Aemisegger, Raselli,
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Gerichtsschreiberin Scherrer.
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Parteien
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X.________, Beschwerdeführerin, vertreten durch Rechtsanwalt Stephan A. Buchli,
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gegen
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Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl, Stauffacherstrasse 55, Postfach, 8026 Zürich.
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Gegenstand
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Haftentlassung,
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Beschwerde gegen die Verfügung vom 24. Dezember 2008 des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter.
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Sachverhalt:
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A.
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Gemäss dem Antrag auf Anordnung von Untersuchungshaft der Staatsanwaltschaft Zürich-Limmat vom 30. Oktober 2008 besteht gegen die teilgeständige X.________ der dringende Tatverdacht, in letzter Zeit in ihrer Wohnung in Zürich Kokain an verschiedene Drogenabnehmer verkauft zu haben. Namentlich soll sie am 28. Oktober 2008 zwei Interessenten, A.________ und B.________, 2 Gramm Kokain für Fr. 200.-- und einer weiteren Abnehmerin, C.________, 1 Gramm Kokain verkauft haben. Weiter wird die Angeschuldigte von A.________ belastet, dem sie im Sommer 2008 mindestens 20 Gramm Kokain verkauft haben soll. Laut der Haftanordnung vom 31. Oktober 2008 beruht der Verdacht auf den Aussagen von A.________ und C.________, die behaupten, die Angeschuldigte handle mit Kokain. Die Angeschuldigte gab am 31. Oktober 2008 denn auch zu, an B.________, A.________ und eine Frau Kokain verkauft zu haben. Anlässlich der Hausdurchsuchung wurden bei der Angeschuldigten Mobiltelefone, 1 Portion Heroin (0.3 Gramm brutto) und 17 Portionen Kokain (20.4 Gramm brutto) sowie Verpackungsmaterial sichergestellt. Aufgrund der Aussagen einer Käuferin besteht zudem der Verdacht, die Angeschuldigte wirke beim Betäubungsmittelgeschäft mit den ebenfalls verhafteten A.________ und D.________ zusammen.
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Zuvor war die Angeschuldigte bereits am 11. Oktober 2008 wegen Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à Fr. 50.-- verurteilt worden.
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B.
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Am 22. Dezember 2008 ersuchte die Angeschuldigte um Haftentlassung. Diesen Antrag lehnte der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich am 24. Dezember 2008 wegen Wiederholungsgefahr ab und verlängerte die Untersuchungshaft bis 30. Januar 2009.
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C.
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Mit einer Beschwerde in Strafsachen vom 5. Januar 2009 beantragt X.________ dem Bundesgericht, unverzüglich aus der Haft entlassen zu werden.
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Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
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1.
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Die Eintretensvoraussetzungen gemäss Art. 78 ff. BGG sind grundsätzlich erfüllt und geben zu keinen weiteren Bemerkungen Anlass.
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2.
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Die Angeschuldigte bestreitet das Vorliegen des dringenden Tatverdachts nicht, stellt aber in Abrede, dass Wiederholungsgefahr im Sinne von § 58 Abs. 1 Ziff. 3 der kantonalen Strafprozessordnung vom 4. Mai 1919 (StPO/ZH; LS 321) vorliege.
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2.1 Nach der Praxis des Bundesgerichtes kann die Anordnung von Haft wegen Fortsetzungsgefahr dem strafprozessualen Ziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich das Verfahren durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht (BGE 105 Ia 26 E. 3c S. 31; nicht amtl. publ. E. 4a von BGE 126 I 172). Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, Angeschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 133 I 270 E. 2.1 S. 275 mit Hinweisen). Bei der Annahme, dass der Angeschuldigte weitere Verbrechen oder erhebliche Vergehen begehen könnte, ist allerdings Zurückhaltung geboten. Da Präventivhaft einen schwerwiegenden Eingriff in das Recht der persönlichen Freiheit darstellt, muss sie auf einer hinreichenden gesetzlichen Grundlage beruhen, im öffentlichen Interesse liegen und verhältnismässig sein (BGE 133 I 270 E. 2.2 S. 276; 123 I 221 E. 4 S. 226). Die Aufrechterhaltung von strafprozessualer Haft wegen Fortsetzungsgefahr ist verhältnismässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur sind (BGE 133 I 270 E. 2.2 S. 276; 123 I 268 E. 2e S. 271 ff.). Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen. Schliesslich gilt auch bei der Präventivhaft - wie bei den übrigen Haftarten - dass sie nur als "ultima ratio" angeordnet oder aufrecht erhalten werden darf. Wo sie durch mildere Massnahmen ersetzt werden kann, muss von der Anordnung oder Fortdauer der Haft abgesehen und an ihrer Stelle eine dieser Ersatzmassnahmen verfügt werden (BGE 133 I 270 E. 2.2 S. 276, E. 3.3 S. 279 f.; 125 I 60 E. 3a S. 62; 124 I 208 E. 5 S. 213; 123 I 268 E. 2c S. 270 f., je mit Hinweisen).
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2.2 Nach Zürcher Strafprozessrecht kann Untersuchungshaft wegen Fortsetzungsgefahr nur angeordnet und fortgesetzt werden, wenn der Angeschuldigte eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ausserdem aufgrund bestimmter Anhaltspunkte ernsthaft befürchtet werden muss, der Angeschuldigte werde, "nachdem er bereits zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen verübt hat, erneut solche Straftaten begehen" (§ 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH). Zu prüfen ist, ob die Beschwerdeführerin bereits früher "zahlreiche Verbrechen oder erhebliche Vergehen" verübt hat und ob ernsthaft befürchtet werden muss, sie werde erneut solche Straftaten begehen. An den Nachweis entsprechender schwerer Vordelikte und drohender neuer Delinquenz ist nach herrschender Lehre und Rechtsprechung grundsätzlich ein strenger Massstab anzulegen. Zu den verübten Taten gehören strafbare Handlungen, aufgrund welcher eine Verurteilung erfolgt ist, sowie Delikte, die Gegenstand eines noch pendenten Strafverfahrens bilden. Die etwaige Vorstrafenlosigkeit der Angeschuldigten steht der Annahme der Wiederholungsgefahr damit nicht entgegen (vgl. ANDREAS DONATSCH, in: Donatsch/Schmid [Hrsg.], Kommentar zur Strafprozessordnung des Kantons Zürich, Zürich 1996 ff., § 58 N. 48-53; Niklaus Schmid, Strafprozessrecht, 4. Aufl., Zürich 2004, Rz. 701b, je mit Hinweisen auf die bundesgerichtliche Praxis).
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2.3 Diese gesetzlichen Voraussetzungen erachtet der Haftrichter als erfüllt, weil die Beschwerdeführerin am 11. Oktober 2008 wegen Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen à Fr. 50.-- verurteilt worden sei und die der Beschwerdeführerin im hängigen Verfahren zu Last gelegte Delinquenz wiederum gleicher Natur sei. Die Beschwerdeführerin habe sich durch das bisherige Verfahren nicht genügend beeindrucken und davon abhalten lassen, unmittelbar nach der Verurteilung erneut Straftaten gleicher Art zu begehen. In Anbetracht der Umstände, dass die Beschwerdeführerin eigenen Angaben zufolge täglich ca. 1 Gramm Kokain bzw. seit einem Jahr durchschnittlich einmal pro Woche Kokain konsumiere, über kein geregeltes Einkommen verfüge und mittellos sei, bestehe die ernsthafte Gefahr, dass sie im Falle einer Haftentlassung erneut straffällig würde, um ihre Sucht und ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Dass die Beschwerdeführerin von ihrem Ehemann oder den Behörden finanziell unterstützt werde, sei nicht gesichert, zumal das Ehepaar im Jahre 2007 über ein steuerbares Vermögen von Fr. 27'700.-- verfügt habe und die Beschwerdeführerin lediglich wisse, dass ihr Ehemann in einer Bar arbeite, jedoch keine Angaben über die Höhe seines Einkommens habe machen können.
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2.4
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2.4.1 Der Strafbefehl vom 11. Oktober 2008 wegen mehrfacher Widerhandlung gegen das Betäubungsmittelgesetz, mehrfacher Übertretung gegen das BetmG und Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz über die Ausländerinnen und Ausländer wurde erlassen, weil die Beschwerdeführerin am 9. Oktober 2008 auf dem Trottoir vor der Liegenschaft Kernstrasse 67 einer unbekannten weiblichen Drogenabnehmerin 2 Gramm Kokain zum Preis von Fr. 200.-- verkauft hatte; gleichentags hat sie um 18.50 Uhr in der von ihr als Untermieterin genutzten Wohnung an der nämlichen Adresse einer weiteren Drogenkonsumentin eine Portion Kokain zu Fr. 50.-- verkauft. Sie selber war im Besitz von 12 Gramm Kokain, welches zum Verkauf an nicht namentlich bekannte Betäubungsmittelkonsumenten bestimmt war. Seit ca. Juli 2008 bis zum 9. Oktober habe die Beschwerdeführerin zudem gemäss dem Strafbefehl in ihrer Wohnung Kokain geschnupft. Schliesslich wurde ihr Prostitution ohne Arbeitsbewilligung zum Vorwurf gemacht.
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2.4.2 Dieser Strafbefehl hat die Beschwerdeführerin nicht von ihrer deliktischen Tätigkeit abgehalten, obwohl sie in ihrer Aussage vom 19. Dezember 2008 zu Protokoll gegeben hat, die Polizei habe ihr gesagt, dass sie das nicht mehr tun dürfe, sonst werde sie "eingesperrt werden" (polizeiliche Einvernahme vom 19. Dezember 2008 S. 2). Auch wenn die jeweils verkauften Mengen einzeln keine schwere Widerhandlung gegen das BetmG im Sinn von Art. 19 Ziff. 2 darstellen, ist doch die Häufigkeit der deliktischen Handlungen erheblich. Dabei geht es nicht lediglich um Übertretungen gegen das BetmG, sondern um Vergehen, welche nicht als Bagatelldelikte zu qualifizieren sind. Art. 19 BetmG stellt den unbefugten Umgang mit Betäubungsmitteln unter Strafe, weil deren Genuss für die Gesundheit der Menschen als schädlich betrachtet wird. Der Gesetzgeber will dieser Gefahr für die menschliche Gesundheit unter anderem begegnen, indem er in den Abs. 1 bis 6 von Ziff. 1 der zitierten Bestimmung die Handlungen mit Strafe bedroht, die letztlich dazu führen oder führen können, dass Betäubungsmittel in Verkehr gebracht und damit für den potentiellen Konsumenten zugänglich werden (BGE 120 IV 334 E. 2a S. 337 mit Hinweis). Im Übrigen brauchen die neuen Vergehen, deren Verübung der Angeschuldigte gemäss § 58 Abs. 1 Ziff. 3 StPO/ZH überführt oder dringend verdächtig sein muss, "keineswegs besonders qualifiziert zu sein oder sich gegen hochwertige Rechtsgüter zu richten" (JÖRG REHBERG/MARKUS HOHL, Die Revision des Zürcher Strafprozessrechts von 1991, Zürich 1992, S. 32; Urteil 1P.516/1992 des Bundesgerichts vom 7. Oktober 1992, publ. in EuGRZ 1992 S. 553, E. 4e).
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2.4.3 Die Verkäufe fanden mehrmals täglich statt und der Strafbefehl zeigte keinerlei abschreckende Wirkung, hat doch die Beschwerdeführerin gemäss Vorhalt im Antrag auf Untersuchungshaft am 28. Oktober 2008 bereits wieder drei Kunden Kokain verkauft. Hinzu kommt, dass in ihrer Wohnung anlässlich der gleichentags durchgeführten Hausdurchsuchung 1 Portion Heroin und 17 Portionen Kokain sichergestellt wurden. Der Einwand der Beschwerdeführerin, das Ausmass der in den wenigen Tagen seit Fällung der ersten Vorstrafe verübten Delikte sei weder durch die Staatsanwaltschaft noch durch den Haftrichter im Detail dargelegt, überzeugt darum nicht. Selbst wenn die Verkäufe vom 28. Oktober 2008 die einzigen seit dem 11. Oktober 2008 gewesen sein sollten, zeugen sie von der Uneinsichtigkeit der Beschwerdeführerin. Ihre selber zugestandene Sucht und ihre Mittellosigkeit bieten denn auch eine Erklärung für ihr anhaltendes Delinquieren. Drogensucht und die mit ihr in Zusammenhang stehende Beschaffungskriminalität kann durchaus als Indiz für Wiederholungsgefahr gewertet werden (vgl. DONATSCH, a.a.O., § 58 N. 55). Unbehelflich ist der diesbezügliche Einwand der Beschwerdeführerin, sie sei nicht zur Geldbeschaffung gezwungen, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen, da sie mit ihrem Ehepartner über ein steuerbares Vermögen verfüge und der Ehemann Inhaber eines Gastronomiebetriebes sei. Ihr bisheriges Verhalten steht in gänzlichem Gegensatz zu diesen Behauptungen, zumal sie keine genaueren Angaben zum Einkommen des Ehemannes machen konnte. Den Bedenken und Erwägungen des Haftrichters kann darum gefolgt werden. Die Bejahung der Fortsetzungsgefahr ist aufgrund der konkreten Umstände weder konventions- noch verfassungsrechtlich zu beanstanden.
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3.
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Die Verhältnismässigkeit der Untersuchungshaft wird von der Beschwerdeführerin nicht bestritten. Diesbezüglich kann auf die Ausführungen des Haftrichters verwiesen werden (Art. 109 Abs. 3 BGG).
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4.
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Daraus ergibt sich, dass die Beschwerde abzuweisen ist. Die Beschwerdeführerin hat (sinngemäss) um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung ersucht. Diesem Antrag kann entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
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2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
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2.2 Rechtsanwalt Stephan Buchli, wird zum unentgeltlichen Rechtsbeistand ernannt und für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Bundesgerichtskasse mit Fr. 1'500.-- entschädigt.
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3.
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Dieses Urteil wird der Beschwerdeführerin, der Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 22. Januar 2009
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Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
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Féraud Scherrer
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