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Informationen zum Dokument  BGer 9C_251/2009  Materielle Begründung
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BGer 9C_251/2009 vom 15.05.2009
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_251/2009
 
Urteil vom 15. Mai 2009
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
 
Gerichtsschreiber Traub.
 
Parteien
 
S.________, Beschwerdeführerin,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, St. Gallerstrasse 13, 8500 Frauenfeld, Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
 
vom 18. Februar 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1949 geborene S.________ bezog seit September 1996 aufgrund eines Härtefalls eine halbe Invalidenrente bei einem Invaliditätsgrad von 44 Prozent. Nachdem die Rechtsgrundlage der Härtefallrente (aArt. 28 Abs. 1bis IVG) mit der 4. IVG-Revision auf Anfang 2004 aufgehoben worden war, richtete die IV-Stelle des Kantons Thurgau vorerst weiterhin eine halbe Invalidenrente aus (Besitzstandsgarantie; Schreiben vom 13. November 2003, 21. Januar 2004 und 31. Oktober 2005). Mit Verfügung vom 12. September 2008 stellte die Verwaltung fest, es bestehe kein wirtschaftlicher Härtefall, weshalb mit Wirkung ab November 2008 (bei gleich gebliebenem Invaliditätsgrad von 44 Prozent) noch eine Viertelsrente geschuldet sei.
 
B.
 
S.________ erhob gegen die Verfügung vom 12. September 2008 Beschwerde beim Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau mit den Rechtsbegehren, die angefochtene Verfügung sei aufzuheben und der wirtschaftliche Härtefall auch ab dem 1. November 2008 bis auf Weiteres zu anerkennen; es sei ihr "weiterhin eine Ergänzungsleistung zur ¼ IV-Rente auszurichten". Eventuell sei die Sache zur ergänzenden Abklärung und anschliessenden neuen Verfügung an die Verwaltung zurückzuweisen.
 
Das kantonale Gericht trat auf die Beschwerde nicht ein. Zur Begründung führte es unter Hinweis auf die Formulierung des Rechtsbegehrens sowie auf eine unbenutzt abgelaufene Frist zur Verbesserung der Beschwerde aus, hinsichtlich der Anerkennung eines weiterdauernden wirtschaftlichen Härtefalls bestehe - ohne Antrag auf Zusprechung einer Härtefallrente - kein Feststellungsinteresse; bezüglich der anbegehrten Ergänzungsleistung fehle es derweil am Anfechtungsobjekt (Entscheid vom 18. Februar 2009).
 
C.
 
S.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit den Rechtsbegehren, der kantonale Beschwerdeentscheid sei aufzuheben und die Vorinstanz sei zu verpflichten, auf die Beschwerde einzutreten und diese materiell zu beurteilen. Ausserdem sei das kantonale Gericht zu verpflichten, die Kosten für das erstinstanzliche Gerichtsverfahren neu zu verlegen.
 
Das kantonale Gericht äussert sich zur Beschwerde, ohne einen Antrag zu stellen. Die IV-Stelle und das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Stellungnahme.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob das kantonale Gericht mit Blick auf die vorinstanzlich gestellten Beschwerdeanträge zu Recht nicht auf das Rechtsmittel eingetreten sei.
 
1.1 Die Vorinstanz begründet ihren Nichteintretensentscheid damit, das Rechtsmittel genüge den rechtlichen Anforderungen (Art. 61 lit. b ATSG) nicht. Nach Ablauf der gesetzten Frist zur Verbesserung des Hauptantrages (auf Anerkennung des wirtschaftlichen Härtefalls über den 1. November 2008 hinaus und weitere Ausrichtung einer "Ergänzungsleistung zur ¼ IV-Rente") sei androhungsgemäss auf dieses Rechtsbegehren abzustellen. Da kein Antrag auf eine Härtefallrente gestellt worden sei, könne die Beschwerdeführerin aus einer weiterdauernden Anerkennung des Härtefalls keinen praktischen Nutzen ziehen; sie habe daher kein schutzwürdiges Interesse an einer entsprechenden Feststellung und folglich auch kein Beschwerderecht. Was die anbegehrte Zusprechung einer Ergänzungsleistung im Sinne des ELG anbelange, so fehle es am Anfechtungsobjekt.
 
1.2 Die Beschwerdeführerin nimmt den Rechtsstandpunkt ein, der wahre Sinn des Rechtsbegehrens, nämlich auf Weiterausrichtung der Härtefallrente, habe sich ohne weiteres aus den Verfahrensakten und dem Gesamtzusammenhang ergeben. Der einschlägige Beschwerdewille folge schon daraus, dass in der Beschwerdeschrift vom 14. Oktober 2008 ausdrücklich die Aufhebung der Verfügung vom 12. September 2008 (betreffend Verneinung der wirtschaftlichen Härte und Ablösung der bisherigen halben Besitzstandsrente durch eine ordentliche Viertelsrente) verlangt werde. Die Vorinstanz habe mit dem Nichteintretensentscheid Bundesrecht verletzt.
 
1.3 Rechtsbegehren sind nach Treu und Glauben auszulegen, insbesondere im Lichte der dazu gegebenen Begründung (BGE 123 IV 125 E. 1 S. 127; Urteil 4P.266/2006 vom 13. Dezember 2006 E. 1.3). Nach der Rechtsprechung schadet eine sichtlich ungewollte oder unbeholfene Wortwahl der am Recht stehenden Person ebenso wenig wie eine nicht geglückte oder rechtsirrtümliche Ausdrucksweise. Es genügt, wenn der Beschwerde insgesamt entnommen werden kann, was die beschwerdeführende Person verlangt (SVR 2004 IV Nr. 25 S. 75 E. 3.2.1 mit Hinweisen, I 138/02).
 
1.4
 
1.4.1 Nach aArt. 28 Abs. 1bis IVG hatte der Versicherte bereits bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 Prozent Anspruch auf eine halbe Rente. Zur Wahrung des Besitzstandes wird nach Wegfall dieser Bestimmung bei einem Invaliditätsgrad von mindestens 40 und weniger als 50 Prozent übergangsrechtlich weiterhin eine halbe (statt eine Viertels-) Rente ausbezahlt, wenn u.a. die wirtschaftliche Voraussetzung des Härtefalls nach bisherigem Recht erfüllt ist und die Viertelsrente und die jährliche Ergänzungsleistung zusammen niedriger sind als die halbe Rente (Schlussbestimmungen der Änderung vom 21. März 2003 [4. IV-Revision], lit. d Abs. 2). Die Beurteilung der Frage, ob eine Härtefallrente beansprucht werden kann, richtete sich u.a. nach Ergänzungsleistungsrecht (vgl. den auf den 1. Januar 2004 aufgehobenen Art. 28bis IVV, wonach ein Härtefall vorliegt, wenn die vom ELG anerkannten Ausgaben die nach ELG anrechenbaren Einnahmen übersteigen). Auch wenn dieser Umstand bei der Formulierung des Rechtsbegehrens in der vorinstanzlichen Beschwerdeschrift eine Rolle gespielt haben mag, kann jenes nicht in guten Treuen dahingehend verstanden werden, es würden Leistungen nach ELG verlangt. Wo das aus Sicht der beschwerdeführenden Partei Vernünftige - hier ein Antrag auf ungeschmälerte Weiterführung der bisherigen Härtefallrente - naheliegt, darf nicht das Unvernünftige - also das Ersuchen um eine gar nicht Verfahrensgegenstand bildende andersartige Leistung - unterstellt werden. Das fragliche Rechtsbegehren ist zwar terminologisch unzutreffend, aber inhaltlich unmittelbar verständlich. Der Verzicht des kantonalen Gerichts auf jeglichen Einbezug des materiellrechtlichen und verfahrensmässigen Kontextes führt zu einer Formstrenge, die durch kein schutzwürdiges Interesse gerechtfertigt ist. Überspitzter Formalismus ist eine besondere Form der Rechtsverweigerung (BGE 134 II 244 E. 2.4.2 S. 248; 130 V 177 E. 5.4.1 S. 183).
 
1.4.2 Einer Aufforderung des Gerichts zur Präzisierung des Rechtsbegehrens hätte es somit von vornherein nicht bedurft. Dementsprechend ist unerheblich, dass - einerseits - es die Vorinstanz unterlassen hat, mit der Nachfristansetzung ausdrücklich Nichteintreten anzudrohen (vgl. Art. 61 lit. b Satz 2 ATSG), und - anderseits - die Replik der Beschwerdeführerin vom 20. November 2008 keine einschlägige Stellungnahme enthält.
 
1.5 Der angefochtene Entscheid verletzt Bundesrecht (Art. 61 lit. b ATSG; vgl. Art. 9 BV und Art. 2 Abs. 1 ZGB); er wird aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zur materiellen Behandlung zurückgewiesen.
 
2.
 
2.1 Tritt die Vorinstanz auf ein Rechtsmittel zu Unrecht nicht ein, so sind die Gerichtskosten für das bundesgerichtliche Verfahren an sich der gegnerischen Verfahrenspartei aufzuerlegen (vgl. etwa in BGE 134 V 162 nicht veröffentlichte E. 7 des Urteils 9C_853/2007 vom 15. April 2008; Urteil 1C_26/2009 vom 27. Februar 2009 E. 3). Bei qualifizierter Verletzung der Pflicht zur Justizgewährleistung richtet sich die Verlegung der Gerichtskosten und der Parteientschädigung hingegen nach dem Verursacherprinzip (Art. 66 Abs. 1 zweiter Satz, Art. 66 Abs. 3 und Art. 68 Abs. 4 BGG; BGE 129 V 335 E. 4 S. 342; SVR 2006 KV Nr. 3 S. 6 E. 7 mit Hinweisen, K 27/04 [willkürliche Auslegung gerichtsorganisatorischer Vorschriften]; RKUV 1999 Nr. U 331 S. 128 E. 4). Dies gilt auch bei überspitztem Formalismus als besonderer Form der Rechtsverweigerung (oben E. 1.4.1; Urteil 9C_867/2008 vom 6. April 2009 E. 8; vgl. aber Urteil 8C_145/2007 vom 8. Januar 2009 E. 5).
 
Abweichend vom Grundsatz der Kostenbefreiung von Gemeinwesen (Art. 66 Abs. 4 BGG) hat somit der Kanton Thurgau die Gerichtskosten zu tragen und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung zu bezahlen.
 
2.2 Im Übrigen wird die Vorinstanz im Rahmen ihres materiellen Entscheids die Kostenfolgen des bisherigen kantonalen Beschwerdeverfahrens der neuen Verfahrenslage entsprechend zu regeln haben.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau vom 18. Februar 2009 aufgehoben. Die Sache wird an die Vorinstanz zurückgewiesen, damit sie im Sinne der Erwägungen verfahre und über die Beschwerde gegen die Verfügung vom 12. September 2008 entscheide.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Kanton Thurgau auferlegt.
 
3.
 
Der Kanton Thurgau hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2000.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. Mai 2009
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Meyer Traub
 
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