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Informationen zum Dokument  BGer 8C_568/2009  Materielle Begründung
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BGer 8C_568/2009 vom 16.09.2009
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_568/2009
 
Urteil vom 16. September 2009
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
 
Gerichtsschreiber Grunder.
 
Parteien
 
J.________, vertreten durch
 
Rechtsanwalt Giuseppe Dell'Olivo-Wyss,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Kyburgerstrasse 15, 5001 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung (Invalidenrente/Revision),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 22. April 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1958 geborene J.________ war von Oktober 2001 bis Oktober 2003 als Packerin im Lager der M._______ AG erwerbstätig. In Bestätigung der Verfügung vom 28. Juli 2005 lehnte die IV-Stelle des Kantons Aargau mit Einspracheentscheid vom 9. Januar 2006 den geltend gemachten Anspruch auf Invalidenrente (Gesuch vom 18. August 2004) ab. Am 8. Dezember 2006 meldete sich die Versicherte wiederum bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Gestützt auf die Berichte des Dr. med. T.________, Facharzt für Physikalische Medizin und Rehabilitation sowie Rheumatologie, Zentrum B.________, vom 4. Januar 2007, des Dr. med. S.________, Oberarzt des Externen Psychiatrischen Dienstes (EPD), vom 24. Januar 2007 und 21. Dezember 2007 und der Frau Dr. med. H.________, Fachärztin für Allgemeinmedizin, vom 22. März 2007 sowie die Auskünfte des Regionalen Ärztlichen Dienstes (RAD) vom 8. Februar 2008 verneinte die IV-Stelle nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens erneut einen Rentenanspruch mangels Veränderung des Gesundheitszustands (Verfügung vom 30. Juni 2008).
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 22. April 2009).
 
C.
 
Mit Beschwerde lässt J.________ beantragen, unter Aufhebung des vorinstanzlichen Entscheids sei ihr eine ganze Invalidenrente zuzusprechen; eventualiter sei vor Erlass des Rentenentscheids eine interdisziplinäre Begutachtung durchzuführen.
 
Die IV-Stelle schliesst auf Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichtet auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG). Im Übrigen wendet das Bundesgericht das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG).
 
2.
 
2.1 Tritt die Verwaltung auf eine Neuanmeldung (Art. 87 Abs. 4 IVV) ein, so hat sie die Sache materiell abzuklären und sich zu vergewissern, ob die vom Versicherten glaubhaft gemachte Veränderung des Invaliditätsgrades auch tatsächlich eingetreten ist. Nach der Rechtsprechung hat sie in analoger Weise wie bei einem Revisionsfall (Art. 17 ATSG) vorzugehen. Stellt sie fest, dass der Invaliditätsgrad seit Erlass der früheren rechtskräftigen Verfügung keine Veränderung erfahren hat, so weist sie das neue Gesuch ab. Andernfalls hat sie zunächst noch zu prüfen, ob die festgestellte Veränderung genügt, um nunmehr eine anspruchsbegründende Invalidität zu bejahen, und hernach zu beschliessen. Im Beschwerdefall obliegt die gleiche materielle Prüfungspflicht auch dem Gericht (BGE 130 V 64 E. 2 S. 66, 117 V 198 E. 3a). Zur Revision darf geschritten werden, wenn die für den Rentenanspruch erheblichen tatsächlichen Verhältnisse gesundheitlicher und/oder erwerblicher Natur wesentlich geändert haben (BGE 130 V 343 E. 3.5 S. 349; SVR 2004 IV Nr. 5 S. 13 E. 2, Urteil I 574/02; Urteil I 865/06 vom 12. Oktober 2007 E. 3.2).
 
2.2 Referenzzeitpunkt für die Beurteilung einer anspruchserheblichen Änderung des Gesundheitszustandes bildet die letzte rechtskräftige Verfügung, welche auf einer materiellen Prüfung des Rentenanspruchs mit rechtskonformer Sachverhaltsabklärung, einer Beweiswürdigung und der Durchführung eines Einkommensvergleichs beruht (vgl. BGE 133 V 108 E. 5.4 S. 114 und 130 V 71 E. 3.2.3 S. 77).
 
2.3 Bei den vorinstanzlichen Feststellungen zum Gesundheitszustand und zur Arbeitsfähigkeit der versicherten Person handelt es sich grundsätzlich um Entscheidungen über eine Tatfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 S. 397 ff.). Analoges gilt auch für die Frage, ob sich eine Arbeits(un)fähigkeit in einem bestimmten Zeitraum in einem revisionsrechtlich relevanten Sinne verändert hat (erwähntes Urteil I 865/06 E. 4). Die konkrete Beweiswürdigung stellt eine Tatfrage dar. Dagegen ist die Beachtung des Untersuchungsgrundsatzes und der Beweiswürdigungsregeln nach Art. 61 lit. c ATSG Rechtsfrage (BGE 132 V 393 E. 3.2 und 4 S. 397 ff.; erwähntes Urteil I 865/06 E. 4 mit Hinweisen).
 
3.
 
3.1 Es ist unbestritten, dass sich die geklagten vielfältigen Leiden der Beschwerdeführerin, die Dr. med. T.________ im Bericht vom 4. Januar 2007 diagnostisch als konsistentes thoracospondylogenes Syndrom verbunden mit Kopfwehattacken und diffusen Weichteilschmerzen zusammenfasste, fachmedizinisch nicht objektivieren liessen. Das kantonale Gericht erwog, die Auskünfte der behandelnden Ärzte des EPD vom 27. Oktober beziehungsweise 7. Dezember 2004 seien zwar wenig aussagekräftig, hingegen gehe aus dem Bericht des Dr. med. S.________ vom 21. Dezember 2007 klar hervor, dass die Versicherte aus psychiatrischer Sicht seit Erlass des Einspracheentscheids vom 9. Januar 2006 zu 50 % arbeitsunfähig gewesen sei, weshalb kein Revisionsgrund nach Art. 17 ATSG vorliege. Der Umstand, dass die IV-Stelle in der ersten Rentenablehnungsverfügung lediglich von einer Arbeitsunfähigkeit von 30 % ausgegangen sei, stelle allenfalls einen Grund für deren Wiedererwägung dar, worauf jedoch kein gerichtlich durchsetzbarer Anspruch bestehe.
 
3.2 Der Auffassung des kantonalen Gerichts kann in rechtlicher Hinsicht nicht beigepflichtet werden. Den Berichten der Ärzte des EPD auf dem Formular "Arztbericht für Erwachsene" vom 7. Dezember 2004 sowie dem "Beiblatt zu Arztbericht" ist zu entnehmen, dass die Versicherte vom 1. November 2003 bis 25. November 2004 (Datum der letzten Untersuchung) vollständig arbeitsunfähig war und eine prognostische Beurteilung zu jenem Zeitpunkt nur erschwert möglich und von einer weiteren Chronifizierung der diagnostizierten somatoformen Schmerzstörung (ICD-10: F45.4) mit hypochondrischen Anteilen (ICD-10: F.45.2) auszugehen war. Frau Dr. med. I.________, Chefärztin Psychosomatik der Klinik W.________ (Bericht vom 3. März 2005), schätzte die Einschränkung der Arbeitsfähigkeit, bedingt durch die Angstsymptomatik und die hypochondrische Störung, bei 30 % eines Vollzeitpensums ein. Von dieser Einschätzung ging die IV-Stelle bei der Bestimmung des hypothetischen Invalideneinkommens aus, wobei sie im Zeitraum bis Erlass des rechtskräftigen Einspracheentscheids vom 9. Januar 2006 keine zusätzlichen ärztlichen Auskünfte einholte.
 
3.3 Gemäss Berichten des Dr. med. S.________ vom 24. Januar 2007 (Neubeginn der psychiatrischen Behandlung im EPD) und 21. Dezember 2007 litt die Versicherte neu zusätzlich an einer mittels der Hamilton-Depressions-Skala bestätigten mittelschweren Depression (ICD-10: F32.1) sowie differentialdiagnostisch an einer Somatisierungsstörung (ICD-10: F45.0; bestätigt im Bericht vom 21. Dezember 2007), womit entgegen den in diesem Punkt offensichtlich unrichtigen Feststellungen der Vorinstanz im Vergleich mit den dem Einspracheentscheid vom 9. Januar 2006 zugrunde gelegten ärztlichen Auskünften eine psychiatrisch relevante Änderung des Gesundheitszustands belegt ist. Ob dieser die Arbeitsfähigkeit wesentlich beeinflusste, lässt sich allerdings aufgrund der weiteren teils wenig nachvollziehbaren Angaben des Dr. med. S.________ nicht schlüssig beurteilen. Er hielt unter der Rubrik "Vollständige Arbeitsunfähigkeit" fest, "Die Patientin wurde durch den ehemaligen Assistenzarzt EPD, Dr. med. C.________, und Oberärztin Frau Dr. med. N.________, vom 1.11.03 - 17.6.05 zu 100% und seither und bis am 17.6.05 [Behandlungsabschluss im EPD] zu 50 % beurteilt. Vom 24.1.07 (Wiederaufnahme der Behandlung im EPD) - heute und auf weiteres durch den Ref. zu 50 % AUF ...". Zunächst ist unklar, ab welchem Zeitpunkt eine hälftige Arbeitsunfähigkeit bestand. Weiter ist dem Bericht vom 21. Dezember 2007 zu entnehmen, dass die Versicherte nach dem 17. Juni 2005 (Beendigung der psychiatrischen Behandlung) und vor dem 24. Januar 2007 (Neubeginn der psychiatrischen Behandlung) nicht in psychiatrischer Behandlung bei der EPD stand, weshalb die vorinstanzliche Feststellung, die Versicherte sei seit Erlass des Einspracheentscheids vom 9. Januar 2006 aus psychiatrischer Sicht stets zu 50 % arbeitsunfähig gewesen, auf unvollständigen Grundlagen beruht. Insgesamt ist der Sachverhalt hinsichtlich der Auswirkungen der von Dr. med. S.________ im Bericht vom 21. Dezember 2007 festgehaltenen Diagnosen auf die Arbeitsfähigkeit unvollständig festgestellt, weshalb der Fall an die IV-Stelle zu weiteren Abklärungen zurückzuweisen ist.
 
4.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 62 Abs. 1 Satz 1 BGG).
 
5.
 
Die IV-Stelle hat der obsiegenden Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird in dem Sinne gutgeheissen, dass der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 22. April 2009 und die Verfügung der Beschwerdegegnerin vom 30. Juni 2008 aufgehoben werden und die Sache an diese zurückgewiesen wird, damit sie, nach erfolgter Abklärung im Sinne der Erwägungen, über den Rentenanspruch neu verfüge.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 16. September 2009
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Ursprung Grunder
 
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