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Informationen zum Dokument  BGer 6B_64/2010  Materielle Begründung
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BGer 6B_64/2010 vom 26.02.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_64/2010
 
Urteil vom 26. Februar 2010
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger, Bundesrichterin
 
Jacquemoud-Rossari,
 
Gerichtsschreiber Keller.
 
Parteien
 
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Roger Gebhard,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen, 8200 Schaffhausen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Mehrfache falsche Anschuldigung; falsches Zeugnis,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 18. Dezember 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
A.a Am 5. Juli 2007 erstattete X.________ bei der Schaffhauser Polizei Strafanzeige wegen Körperverletzung gegen unbekannte Polizeibeamten. In der Folge wurden zwei Strafverfahren gegen die beiden Polizisten A.________ und B.________ wegen Verdachts der einfachen Körperverletzung etc. zum Nachteil von X.________ eingeleitet. Diese Strafverfahren stellte das Untersuchungsrichteramt des Kantons Schaffhausen am 14. Mai 2008 ein.
 
A.b Gegen den Einstellungsentscheid erhob der Polizist A.________ Einsprache bei der Staatsanwaltschaft des Kantons Schaffhausen und beantragte, er sei nicht schuldig zu erklären. Im Einsprache-Entscheid vom 11. Juni 2008 bestätigte die Staatsanwaltschaft die Einstellungsverfügung und stellte zusätzlich die Nichtschuld von A.________ fest.
 
A.c Am 8. August 2008 eröffnete das Untersuchungsrichteramt gegen X.________ ein Untersuchungsverfahren wegen falscher Anschuldigung und Abgabe eines falschen Zeugnisses zum Nachteil der Polizisten A.________ und B.________. Mit Strafbefehl vom 29. Dezember 2008 verurteilte das Untersuchungsrichteramt X.________ zu einer bedingten Geldstrafe von 150 Tagessätzen zu Fr. 50.--, bei einer Probezeit von vier Jahren, als Zusatzstrafe zum Urteil des Gerichtspräsidiums Laufenburg vom 18. Dezember 2007 wegen SVG-Widerhandlungen.
 
A.d Gegen den Strafbefehl erhob X.________ Einsprache. Das Kantonsgericht Schaffhausen bestätigte am 13. Mai 2009 den Schuldspruch sowie die Sanktion gemäss Strafbefehl.
 
B.
 
X.________ erklärte Berufung an das Obergericht des Kantons Schaffhausen. Dieses wies die Berufung am 18. Dezember 2009 ab und bestätigte das Urteil des Kantonsgerichts Schaffhausen.
 
C.
 
X.________ führt Beschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt, der angefochtene Entscheid sei aufzuheben, und er sei freizusprechen bzw. die Sache zur Freisprechung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Ihm sei zudem die unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren und Rechtsanwalt Roger Gebhard als unentgeltlicher Rechtsvertreter beizugeben.
 
D.
 
Die Staatsanwaltschaft beantragt, die Beschwerde sei abzuweisen. Die Vorinstanz hält an den Erwägungen im angefochtenen Entscheid fest und beantragt sinngemäss die Abweisung der Beschwerde.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Vorinstanz geht von folgendem Sachverhalt aus:
 
Der Beschwerdeführer wurde am frühen Morgen des 26. Juni 2007 stark angetrunken, halb auf dem Trottoir, halb auf der Strasse liegend, durch C.________ vorgefunden. Er wies eine Verletzung am Hinterkopf auf und blutete am Kopf. Die herbeigerufenen Polizisten A.________ und B.________ brachten den fortwährend schimpfenden Beschwerdeführer in die Notfallabteilung des Kantonsspitals Schaffhausen, wo die oberflächliche Schürfwunde am Kopf durch D.________ behandelt wurde. Er wirkte stark alkoholisiert, fluchte auf Englisch und wehrte sich gegen eine Wundversorgung. Anschliessend wurde er zur Ausnüchterung auf den Polizeiposten verbracht und dort am 27. Juni 2007 entlassen.
 
1.2 Der Beschwerdeführer bezichtigte die Polizisten, ihn am frühen Morgen des 26. Juni 2007 mit Nachdruck in den Polizeiwagen gestossen und dabei am Kopfscheitel verletzt zu haben. Auf dem Polizeiposten sei er überdies mit den Armen an einen Stuhl gefesselt worden, so dass er nicht habe aufstehen können. Ein Polizist habe ihn an den Beinen, ein anderer um den Hals im Würgegriff festgehalten. Ferner sei er mit nach hinten überstrecktem Nacken längere Zeit mit dem Rücken über die Stuhlkante festgehalten worden, habe Schmerzen gehabt und keine Luft bekommen. In der Gefängniszelle habe er starke Schmerzen gehabt, trotzdem habe sich niemand um ihn gekümmert. Nach seiner Entlassung aus dem Gefängnis habe man im Kantonsspital Schaffhausen einen Bruch am Halswirbel sowie einen Rippenbruch links festgestellt.
 
1.3 Im Laufe des Strafverfahrens gegen die Polizisten A.________ und B.________ ergab sich, dass der Beschwerdeführer anlässlich seiner Anzeigeerstattung und in seiner Eigenschaft als Zeuge falsche Angaben gemacht hatte. Die Verletzungen rührten gemäss Zeugenaussagen nicht von den beiden Polizisten her. Vielmehr hätten sie schon bestanden, als der Beschwerdeführer auf der Strasse liegend gefunden worden sei.
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung der Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 32 Abs. 2 BV sowie von 6 Ziff. 3 lit. d EMRK geltend. Es sei ihm nie das Recht eingeräumt worden, als Angeschuldigter Fragen an die Belastungszeugen zu stellen. Als die Belastungszeugen C.________ und D.________ befragt worden seien, habe er noch als Geschädigter bzw. Opfer, nicht jedoch als Beschuldigter gegolten. Im später gegen ihn eingeleiteten Verfahren wegen falscher Anschuldigung und falschen Zeugnisses seien die beiden Zeugen nicht mehr befragt worden. Er habe von der Möglichkeit, Ergänzungsfragen zu stellen, keinen Gebrauch gemacht, da er dieses Verfahrensrecht nicht gekannt habe. Ein amtlicher Verteidiger sei ihm nicht bestellt und ein diesbezügliches Gesuch abgelehnt worden. Die Untersuchungsbehörden und Gerichte hätten ihn auch nie auf die Möglichkeit einer Konfrontation mit den Belastungszeugen aufmerksam gemacht. Die Vorinstanz verletze seinen Anspruch auf rechtliches Gehör, wenn sie auf die Aussagen der Belastungszeugen abstelle.
 
2.2 Die Vorinstanz verweist auf die Vorschrift der Schaffhauser Strafprozessordnung, wonach in der Berufungsverhandlung eine Beweisabnahme nur aus besonderen Gründen stattfinde (Art. 322 Abs. 1 StPO/SH). Der Beschwerdeführer habe im erstinstanzlichen Verfahren keine Anträge auf Zeugeneinvernahme gestellt und im Berufungsverfahren nicht dargelegt, welche besonderen Umstände eine Einvernahme der Zeugen vor Obergericht als geboten erscheinen liessen. Da umfangreiche Befragungen der Zeugen vorlägen, sei eine hinreichende Gesamtwürdigung der Sache möglich, weshalb von einer Einvernahme abzusehen sei.
 
2.3 Nach der Verfahrensgarantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK hat der Angeschuldigte Anspruch darauf, dem Belastungszeugen Fragen zu stellen. Dieser Anspruch ist ein besonderer Aspekt des Rechts auf ein faires Verfahren nach Art. 6 Ziff. 1 EMRK. Eine belastende Zeugenaussage ist somit grundsätzlich nur verwertbar, wenn der Beschuldigte wenigstens einmal während des Verfahrens angemessen und hinreichend Gelegenheit hatte, das Zeugnis in Zweifel zu ziehen und Fragen an den Zeugen zu stellen, wobei als Zeugenaussagen auch in der Voruntersuchung gemachte Aussagen vor Polizeiorganen gelten. Der Beschuldigte muss namentlich in der Lage sein, die Glaubhaftigkeit einer Aussage zu prüfen und den Beweiswert in kontradiktorischer Weise auf die Probe und in Frage zu stellen (zum Ganzen BGE 133 I 33 E. 3.1).
 
Nach konstanter Rechtsprechung des Bundesgerichts untersteht das Recht, Belastungs- und Entlastungszeugen zu befragen, dem (kantonalen) Verfahrensrecht. Der Beschuldigte hat einen Antrag auf Befragung eines Zeugen den Behörden rechtzeitig und formgerecht einzureichen. Stellt er seinen Beweisantrag nicht rechtzeitig, kann er den Strafverfolgungsbehörden nachträglich nicht vorwerfen, sie hätten durch Verweigerung der Konfrontation oder ergänzender Fragen an Belastungszeugen seinen Grundrechtsanspruch verletzt (Urteil des Bundesgerichts 6B_10/2009 vom 6. Oktober 2009 E. 2.2.4 mit Hinweisen). Ob ein Antrag auf Befragung von Belastungszeugen unter dem Aspekt von Treu und Glauben rechtzeitig vorgebracht wurde, hängt von den konkreten Umständen des Einzelfalls ab.
 
Der Beschwerdeführer stellte den Antrag auf Durchführung von Konfrontationseinvernahmen erstmals in der Berufungsschrift an die Vorinstanz.
 
2.4 Das Bundesgericht führte im oben erwähnten Urteil aus, dass ein nicht spätestens in der erstinstanzlichen Verhandlung gestellter Antrag auf Konfrontationseinvernahmen verspätet sei, wenn der Beschwerdeführer nach Treu und Glauben zur Antragsstellung Anlass gehabt hätte. Dass das kantonale Prozessrecht erlaubt, Zeugeneinvernahmen auch im zweitinstanzlichen Verfahren durchzuführen, stehe dem nicht entgegen (Urteil 6B_10/2009 vom 6. Oktober 2009 E. 2.2.5).
 
Im zu beurteilenden Fall war der Beschwerdeführer bis und mit erstinstanzlichem Verfahren anwaltlich nicht vertreten. Er macht ausserdem zu Recht geltend, dass er von den Untersuchungsbehörden und dem erstinstanzlichen Kantonsgericht nicht darauf hingewiesen wurde, in seiner Eigenschaft als Angeschuldigter den Belastungszeugen Ergänzungsfragen stellen zu können. Es kann daher nicht davon ausgegangen werden, der Beschwerdeführer hätte nach Treu und Glauben Anlass gehabt, bis Abschluss des erstinstanzlichen Verfahrens den Antrag auf Konfrontationseinvernahmen zu stellen. Der im vorinstanzlichen Verfahren nunmehr anwaltlich vertretene Beschwerdeführer rügte umgehend die fehlende Konfrontationsmöglichkeit mit den Belastungszeugen in der ausführlichen Berufungsbegründung (pag. 156 der Vorakten). Die Vorinstanz thematisiert hierzu einzig die verfahrensrechtliche Möglichkeit einer zweitinstanzlichen Zeugenbefragung und erachtet sie im konkreten Fall als nicht gegeben. Die Vorinstanz verletzt die Verfahrensgarantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK, indem unter den vorliegenden Umständen dem Beschwerdeführer die Konfrontation mit den Belastungszeugen verweigert wurde.
 
3.
 
3.1 Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, des Willkürverbots sowie von Art. 303 StGB, weil er im Verfahren betreffend Feststellung der Nichtschuld des Polizeibeamten A.________ nie die Möglichkeit gehabt habe sich zu äussern. Er wendet sich ferner gegen den Schuldspruch der falschen Anschuldigung (Art. 303 StGB) sowie des falschen Zeugnisses (Art. 307 StGB) und rügt eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo" sowie des Anspruchs auf Beurteilung durch einen unabhängigen Richter (Art. 6 Ziff. 1 EMRK).
 
3.2 Infolge Gutheissung der Beschwerde in Strafsachen wegen Verletzung der Verfahrensgarantie von Art. 6 Ziff. 3 lit. d EMRK braucht über diese weiteren vorgebrachten Beschwerdegründe nicht entschieden zu werden, da die Beschwerde gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben ist.
 
4.
 
Die Beschwerde ist gutzuheissen. Das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 18. Dezember 2009 ist aufzuheben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Gerichtskosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 i.V.m. Abs. 4 BGG), und hat der Kanton Schaffhausen dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Infolge Obsiegens wird das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das angefochtene Urteil des Obergerichts des Kantons Schaffhausen vom 18. Dezember 2009 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Schaffhausen hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Schaffhausen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 26. Februar 2010
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Favre Keller
 
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