BGer 9C_118/2010 | |||
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BGer 9C_118/2010 vom 22.04.2010 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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9C_118/2010
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Urteil vom 22. April 2010
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II. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
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Bundesrichter Seiler, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
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Gerichtsschreiber Fessler.
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Verfahrensbeteiligte | |
P.________,
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vertreten durch Rechtsanwältin Karin Caviezel,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Graubünden,
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Ottostrasse 24, 7000 Chur,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung
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(Invalidenrente, Invalideneinkommen),
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Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden
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vom 1. Dezember 2009.
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Sachverhalt:
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A.
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Der 1971 geborene P.________, von Beruf Werkzeugmacher, liess sich wegen eines Rückenleidens im Zeitraum von August 2001 bis Juni 2002 zum PC-LAN-Supporter umschulen. Anschliessend absolvierte er ein bis Ende Januar 2004 dauerndes Praktikum am Spital X.________ mit begleitender beruflicher Weiterbildung. Die Invalidenversicherung erbrachte für beide Massnahmen die gesetzlichen Leistungen. Danach arbeitete P.________ weiter im Spital X.________ als IT-Helpdesk-Support. Eine Verschlechterung des Gesundheitszustandes im August 2006 führte zu einem Rehabilitationsaufenthalt in der Klinik Y.________ im Oktober 2006 und machte schliesslich eine (zweite) Operation am Rücken im Juli 2007 notwendig. Es erfolgte eine Umplatzierung im Betrieb, indem P.________ neu als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik eingesetzt wurde, wobei das Arbeitspensum 60 % betrug.
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Im Januar 2008 meldete sich P.________ erneut bei der Invalidenversicherung an und beantragte Wiedereinschulung und eine Rente. Im Rahmen der Abklärungen durch die IV-Stelle des Kantons Graubünden wurde er am 4. November 2008 von Dr. med. N.________, Spezialarzt Orthopädische Chirurgie FMH und Medizin, gutachtlich untersucht. Nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens verneinte die IV-Stelle mit Verfügung vom 2. April 2009 den Anspruch auf Eingliederungsmassnahmen beruflicher Art; mit einer weiteren Verfügung vom 12. Juni 2009 sprach sie dem Versicherten für die Zeit vom 1. August 2007 bis 30. September 2008 eine Viertelsrente zu.
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B.
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Die Beschwerde des P.________ gegen die Verfügung vom 12. April 2009 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden als Versicherungsgericht ab (Dispositiv-Ziffer 1), wobei es zufolge Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege von der Erhebung von Gerichtskosten absah und die Rechtsanwältin des Versicherten zu Lasten der Gerichtskasse entschädigte (Dispositiv-Ziffer 2 und 3a; Entscheid vom 1. Dezember 2009).
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C.
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P.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen mit dem Rechtsbegehren, Dispositiv-Ziffer 1 des Entscheids vom 1. Dezember 2009 sei aufzuheben und ihm über den 30. September 2008 hinaus unbefristet eine Viertelsrente zuzusprechen, eventualiter die Sache zu weiterer Abklärung und anschliessendem Erlass einer neuen Verfügung an die IV-Stelle zurückzuweisen, unter Gewährung der unentgeltlichen Prozessführung und Verbeiständung.
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Die IV-Stelle und das kantonale Gericht beantragen die Abweisung der Beschwerde. Das Bundesamt für Sozialversicherungen verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
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1.
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Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden. Es kann unter Berücksichtigung der den Parteien obliegenden Begründungs- resp. Rügepflicht eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen oder mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 und 1.4.2 S. 254; Urteil 9C_493/2009 vom 18. September 2009 E. 1 mit Hinweisen).
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2.
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Im Sozialversicherungsverfahren gilt der Untersuchungsgrundsatz. Der rechtserhebliche Sachverhalt ist von Amtes wegen unter Mitwirkung der Versicherten resp. der Parteien zu ermitteln (Art. 43 Abs. 1 ATSG und Art. 61 lit. c ATSG). In diesem Sinne rechtserheblich sind alle Tatsachen, von deren Vorliegen es abhängt, ob über den streitigen Anspruch so oder anders zu entscheiden ist (Fritz Gygi, Bundesverwaltungsrechtspflege, 2. Aufl. 1983, S. 43 und 273; Urteil 9C_214/2009 vom 11. Mai 2009 E. 3.2). Die Verletzung des Untersuchungsgrundsatzes stellt ebenso wie ein unvollständig abgeklärter Sachverhalt eine Verletzung von Bundesrecht nach Art. 95 lit. a BGG dar (Urteile 9C_1038/2009 vom 18. März 2010 E. 3.3 und 9C_575/2009 vom 6. November 2009 E. 3.1).
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3.
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Die Vorinstanz hat für die Zeit ab 1. Oktober 2008 durch Einkommensvergleich (Art. 16 ATSG in Verbindung mit Art. 28a Abs. 1 IVG) einen Invaliditätsgrad von 25 % (= [[Fr. 74'572.15 - Fr. 55'914.10]/ Fr. 74'572.15] x 100 %) ermittelt, was für den Anspruch auf eine Invalidenrente nicht ausreicht (Art. 28 Abs. 2 IVG). Das Valideneinkommen entspricht dem Verdienst ohne gesundheitliche Beeinträchtigung als IT-Helpdesk-Supporter, das Invalideneinkommen dem Lohn als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik, welche Funktion der Versicherte ab einem aus den Akten nicht klar ersichtlichen Zeitpunkt nach der Rückenoperation im Juli 2007 versah, bei einem gemäss Gutachten des Dr. med. N.________ vom 15. Dezember 2008 zumutbaren Arbeitspensum von 75 %. Tatsächlich arbeitete der Beschwerdeführer lediglich zu 60 % (5,2 Std. täglich), wobei er eine Leistung von 50 % (4,3 Std.) erbrachte. Versuche, das Arbeitspensum zu steigern, scheiterten nach Angaben des Vorgesetzten (Gesprächsprotokoll vom 18. September 2008).
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Der Invaliditätsgrad von 25 % erklärt sich damit, dass der Beschwerdeführer als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik auf der gleichen Basis entlöhnt wurde wie in der vorher ausgeübten Funktion als IT-Helpdesk-Support, sodass sich gemäss Vorinstanz für die Bemessung des Invalideneinkommens lediglich noch die Frage stelle, welches Arbeitspensum im neuen Tätigkeitsbereich zumutbar sei
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4.
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4.1 Übt die versicherte Person nach Eintritt der gesundheitlichen Beeinträchtigung eine Erwerbstätigkeit aus, gilt grundsätzlich der damit erzielte Verdienst als Invalideneinkommen, wenn besonders stabile Arbeitsverhältnisse gegeben sind, weiter anzunehmen ist, dass sie die ihr verbliebene Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpft, und wenn das Einkommen aus der Arbeitsleistung als angemessen und nicht als Soziallohn erscheint (BGE 129 V 472 E. 4.2.1 S. 475 mit Hinweisen; Urteil 9C_772/2009 vom 12. Januar 2010 E. 2).
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4.2 Die Vorinstanz hat implizit die Voraussetzungen für die Anwendung dieses Verfahrens der Invaliditätsbemessung bejaht, was in der Beschwerde sinngemäss bestritten wird. Zu prüfen ist somit, ob der Versicherte erst mit einem Arbeitspensum von 75 % die verbliebene Arbeitsfähigkeit in zumutbarer Weise voll ausschöpfte (E. 4.2.1), ob eine Erhöhung des tatsächlich geleisteten Arbeitspensums von 60 % betrieblich möglich ist, was auch die Stabilität des Arbeitsverhältnisses betrifft (E. 4.2.2.1), und ob das ausbezahlte Salär eine Soziallohnkomponente enthält (E. 4.2.2.2).
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4.2.1 Zur Arbeitsfähigkeit hat die Vorinstanz festgestellt, gemäss Gutachten des Dr. med. N.________ vom 15. Dezember 2008 sei dem Versicherten die seit Oktober 2007 resp. Januar 2008 ausgeübte Tätigkeit als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik zu 75 % bei ganztägiger Präsenz zumutbar. Die beantragte Abklärung der funktionellen Leistungsfähigkeit in Bezug auf diese Arbeit sei weder notwendig noch sinnvoll. Was dagegen in der Beschwerde vorgebracht wird, ist nicht stichhaltig. Insbesondere ist die Kritik an der Expertise unbegründet. Sollte sich die Einschätzung des orthopädischen Gutachters tatsächlich auf die Tätigkeit als IT-Helpdesk-Supporter beziehen, wäre mit Bezug auf die körperlich leichtere Arbeit als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik, welche gemäss Vorbringen in der vorinstanzlichen Beschwerde vorwiegend am Telefon im eigenen Büro erfolgte, sogar von einer höheren Arbeitsfähigkeit auszugehen. Nicht ersichtlich ist sodann, inwiefern es von Bedeutung ist, ob sich eine gemäss Dr. med. N.________ mögliche Steigerung der Arbeitsfähigkeit nach einer nochmaligen operativen Revision der LWS, deren Zumutbarkeit bestritten wird, auf das aktuelle Pensum von ca. 60 % bezieht oder allgemein zu gelten hat. Schliesslich hat die Vorinstanz auch dargelegt, weshalb nach ihrer Auffassung von einer Evaluation der funktionellen Leistungsfähigkeit in Bezug auf die Tätigkeit als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik abgesehen werden kann. Die Vorbringen in der Beschwerde geben zu keinen Weiterungen Anlass.
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4.2.2
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4.2.2.1 Unbestrittenermassen hatte der Wechsel der Funktion vom IT-Helpdesk-Support zum Mitarbeiter Helpdesk IT Technik keine Auswirkungen auf den Verdienst. Der Grundlohn blieb unverändert. Die Vorinstanz hat daraus gefolgert, für die Bemessung des Invalideneinkommens stelle sich daher lediglich noch die Frage, welches Arbeitspensum im neuen Tätigkeitsbereich zumutbar sei, was gleichzeitig dem Invaliditätsgrad entspreche. Das setzt indessen voraus, dass eine Erhöhung des tatsächlich ausgeübten Arbeitspensums von 60 % auf 75 % überhaupt möglich ist. Diesbezüglich bestehen aufgrund der Akten jedoch erhebliche Zweifel. An der Besprechung mit dem zuständigen Sachbearbeiter der IV-Stelle am 18. September 2008 hatte sich der Arbeitgeber in dem Sinne geäussert, dass eine Erhöhung des Pensums auf 80 % wegen der akuten Rückfallgefahr für den Betrieb nicht in Betracht falle und wohl zu einer Auflösung des Arbeitsverhältnisses führte.
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4.2.2.2 Selbst wenn aber der Arbeitgeber bereit wäre, das nach seiner Auffassung bei einem grösseren Arbeitspensum bestehende erhöhte Krankheitsrisiko in Kauf zu nehmen, ist keinesfalls sicher, dass er den Arbeitnehmer weiterhin ansatzmässig gleich hoch entlöhnte wie vorher als IT-Helpdesk-Support. Die Stellenbeschreibungen vom 15. Februar 2006 und 1. Juli 2008 zeigen, dass die Tätigkeit als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik nicht nur körperlich weniger streng ist, sondern auch weniger fachliche Qualifikation voraussetzt und weniger Verantwortung umfasst als die Tätigkeit als IT-Helpdesk-Support. Es ist somit nicht auszuschliessen, ja sogar davon auszugehen, dass der nach Änderung der Funktion ausbezahlte Lohn eine Soziallohnkomponente enthielt.
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4.3 Die Sache ist somit nicht spruchreif. Der vorinstanzliche Entscheid beruht in Bezug auf das Invalideneinkommen auf einem unvollständig abgeklärten Sachverhalt, was Bundesrecht verletzt (E. 2). Die IV-Stelle wird im dargelegten Sinne weitere Abklärungen vorzunehmen haben. Ergibt sich, dass das Invalideneinkommen nicht dem tatsächlichen Verdienst als Mitarbeiter Helpdesk IT Technik im angestammten Betrieb gleichgesetzt werden kann, muss es auf tabellarischer Grundlage oder allenfalls anhand von konkreten, dem Anforderungsprofil entsprechenden Tätigkeiten ermittelt werden (BGE 129 V 472 und BGE 124 V 321). Danach wird die IV-Stelle über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Invalidenrente ab 1. Oktober 2008 neu verfügen.
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5.
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Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend hat die IV-Stelle die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG) und dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Dessen Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist somit gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Graubünden als Versicherungsgericht vom 1. Dezember 2009 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Graubünden vom 12. Juni 2009 werden aufgehoben, soweit damit der Anspruch auf eine Invalidenrente ab 1. Oktober 2008 verneint wird. Die Sache wird an die Verwaltung zurückgewiesen, damit sie nach weiteren Abklärungen im Sinne der Erwägungen über den Anspruch des Beschwerdeführers auf eine Rente der Invalidenversicherung ab 1. Oktober 2008 neu verfüge.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der IV-Stelle des Kantons Graubünden auferlegt.
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3.
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Die IV-Stelle des Kantons Graubünden hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
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4.
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Das Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden hat die Gerichtskosten und die Parteientschädigung für das vorangegangene Verfahren neu festzusetzen.
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5.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Graubünden als Versicherungsgericht, der Ausgleichskasse des Kantons Graubünden und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 22. April 2010
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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Meyer Fessler
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