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Informationen zum Dokument  BGer 8C_997/2009  Materielle Begründung
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BGer 8C_997/2009 vom 04.05.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_997/2009
 
Urteil vom 4. Mai 2010
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard,
 
Gerichtsschreiberin Weber Peter.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
D.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA), Fluhmattstrasse 1, 6004 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Luzern
 
vom 20. Oktober 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1975 geborene D.________ war als Hilfsgipser der A.________ AG bei der Schweizerischen Unfallversicherungsanstalt (SUVA) gegen die Folgen von Unfällen versichert. Am 20. Januar 2006 kam es nach einer Meinungsverschiedenheit auf dem Parkplatz des Restaurants N.________ zu einer tätlichen Auseinandersetzung zwischen ihm und seinem Cousin. Beim Versuch zu flüchten, rannte er, ohne auf den Verkehr zu achten, über die angrenzende Strasse, wurde dort von einem Fahrzeug erfasst und vor ein zweites geschleudert, wobei er multiple Verletzungen erlitt. Die SUVA anerkannte ihre Leistungspflicht für die Folgen dieses Ereignisses und erbrachte die gesetzlichen Leistungen. Sie kürzte jedoch die Geldleistungen mit Verfügung vom 27. März 2008, bestätigt mit Einspracheentscheid vom 15. Mai 2008, wegen Beteiligung an einer Schlägerei um 50 %.
 
B.
 
Die hiegegen erhobene Beschwerde wies das Verwaltungsgericht des Kantons Luzern mit Entscheid vom 20. Oktober 2009 ab.
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentliche-rechtlichen Angelegenheiten lässt der Versicherte beantragen, in Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides seien ihm die gesetzlichen Leistungen ungekürzt auszurichten. Gleichzeitig wird um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege ersucht.
 
Während die SUVA auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet das Bundesamt für Gesundheit auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
 
1.2 Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob die SUVA zu Recht ihre Geldleistungen um 50 % kürzte.
 
3.
 
Im Einspracheentscheid und im kantonalen Gerichtsentscheid werden die massgebenden Bestimmungen über die Kürzung von Leistungen der obligatorischen Unfallversicherung bei aussergewöhnlichen Gefahren und Wagnissen gemäss Art. 39 UVG, insbesondere Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV, wo eine mindestens hälftige Herabsetzung der Geldleistungen bei Beteiligung an Raufereien und Schlägereien vorgesehen ist, sowie die hiezu ergangene Rechtsprechung zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
 
4.
 
4.1 Es steht fest und ist unbestritten, dass der Beschwerdeführer sich am 20. Januar 2006 an einer Schlägerei/Rauferei im Sinne von Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV beteiligt hatte. Die Verletzungen, welche er an diesem Tag erlitt, sind jedoch nicht auf die direkte körperliche Gewalt bei der Schlägerei zurückzuführen, sondern auf einen unmittelbar anschliessenden Verkehrsunfall. Zu diesem kam es, als der Versicherte im Anschluss an die Schlägerei aus Angst vor seinem Cousin das Weite suchte und dabei ohne die gebotene Aufmerksamkeit die Fahrbahn der Strasse betrat. Der Beschwerdeführer macht dazu im Wesentlichen geltend, eine Kürzung nach Art. 49 UVV sei lediglich für die unmittelbaren Folgen der Schlägerei, nicht jedoch für die Folgen der anschliessenden Verkehrsunfälle zulässig. Das Überqueren der Strasse und das Erfasstwerden von einem Motorfahrzeug gehörten nicht zu den spezifischen Gefahren der Handlung im Sinne von Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV.
 
4.2 Mit der Vorinstanz setzt eine Leistungskürzung nach Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV gemäss geltender Rechtsprechung voraus, dass zwischen dem als Beteiligung an einer Rauferei oder Schlägerei zu qualifizierenden Verhalten und dem Unfall ein natürlicher und adäquater Kausalzusammenhang besteht. Die Beurteilung der Adäquanz im Besonderen hat retrospektiv zu erfolgen. Es ist zu fragen, ob und inwiefern die objektiv unter Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV fallende Handlung als eine wesentliche Ursache des Unfalles erscheint. Dies ist dann zu bejahen, wenn die spezifischen Gefahren des allenfalls zu sanktionierenden Verhaltens des Versicherten sich beim Unfallereignis konkret ausgewirkt haben und nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge geeignet sind, einen Unfall von der Art des eingetretenen herbeizuführen. Dabei ist auch ein gewisser zeitlicher Konnex notwendig (in BGE 132 V 27 nicht publizierte E. 1.2 des Urteil U 325/05 vom 5. Januar 2006, publiziert in SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45 E. 1.2 mit weiteren Hinweisen).
 
4.3 Der Tatbestand der Beteiligung an einer Rauferei oder Schlägerei im Sinne von Art. 49 Abs. 2 lit. a UVV kann zeitlich nicht als beendet gelten, solange nicht alle daran Beteiligten klar erkennbar mit dem verbal oder handgreiflich ausgefochtenen Streit aufgehört haben und nicht mit einer Fortsetzung bei nächster Gelegenheit gerechnet werden muss (SVR 2006 UV Nr. 13 S. 46, U 325/05 E. 1.3 mit Hinweis). Es ist natürlich und nachvollziehbar und entspricht der allgemeinen Lebenserfahrung, dass eine Person, die sich an einer Schlägerei beteiligt hat, mitunter durch Flucht einer Eskalation zu entkommen versucht, um allenfalls gravierende oder sogar tödliche Verletzungen zu verhindern. Trotzdem muss gemäss Rechtsprechung bei Verwirklichung einer damit verbundenen, voraussehbaren Unfallgefahr die vorausgehende Auseinandersetzung als eine hiefür adäquate Ursache betrachtet werden (SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45, U 325/05 E. 1.3 mit weiteren Hinweisen). So wurde im genannten Entscheid ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der Beteiligung an einem Raufhandel und den Verletzungen einer versicherten Person bejaht, welche diese sich zuzog, nachdem sie verletzt auf ihr Hotelzimmer gebracht worden war und dieses, als sie alleine war, aus Angst vor weiteren Nachsetzungen über den Balkon zu verlassen versuchte, wobei sie abstürzte (vgl. SVR 2006 UV Nr. 13 S. 45, U 325/05 E. 2.2.2).
 
4.4 Wie das kantonale Gericht zutreffend erwogen hat, erscheint im Lichte dieser Rechtsprechung der Kausalzusammenhang zwischen der Schlägerei und den Verletzungen, welche sich der Versicherte auf der Flucht durch die Motorfahrzeugunfälle zugezogen hat, als adäquat. Wer unmittelbar nach einer Schlägerei auf der Flucht ohne auf den Verkehr zu achten die Fahrbahn einer Hauptstrasse überquert, muss nach der allgemeinen Lebenserfahrung und dem gewöhnlichen Lauf der Dinge ohne weiteres damit rechnen, von einem Auto angefahren zu werden. Dabei ist unerheblich, dass der mehr als 30 m vom Tatort entfernte Unfallort nicht sichtbar war, wie behauptet wird. Entgegen den Vorbringen des Versicherten ist dieser Kausalitätsverlauf zudem nicht vergleichbar mit demjenigen, welcher dem (nicht veröffentlichten) Urteil U 42/77 vom 2. August 1978 (vgl. auch RKUV 1996 Nr. U 250 S. 181, U 131/95 E. 3b) zugrunde lag, in dem ein adäquater Kausalzusammenhang zwischen der Provokation und dem Sturz verneint wurde. Jener Versicherte flüchtete, nachdem er den Ehemann seiner Geliebten provoziert hatte, nachts vor diesem in einen nahe gelegenen Wald, wo er eine fünfzehn Meter hohe Felswand hinunterstürzte und sich verletzte. Abgesehen vom entfernteren zeitlichen Konnex zwischen dem tadelnswerten Handeln und der Verletzung im Vergleich zum vorliegenden Fall, ist die Gefahr, nachts in einem Wald eine Felswand herunterzustürzen, ungleich geringer als jene, von einem Fahrzeug angefahren zu werden, wenn man beim Versuch nach einer Schlägerei zu fliehen ohne die gebotene Aufmerksamkeit auf die Fahrbahn einer Hauptstrasse hinausrennt.
 
4.5 Nachdem die erlittenen Verletzungen zwar mittelbare, aber noch adäquat kausale Folge der Schlägerei, an welcher sich der Versicherte beteiligt hatte, waren, erweist sich die Kürzung der Geldleistungen um die Hälfte als rechtens, womit der vorinstanzliche Entscheid zu bestätigen ist.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Die Gerichtskosten werden dem unterliegenden Beschwerdeführer auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung (im Sinne der vorläufigen Befreiung von den Gerichtskosten und der unentgeltlichen Verbeiständung) kann entsprochen werden, da die Bedürftigkeit mit Blick auf die letztinstanzlich eingereichten Unterlagen ausgewiesen ist, die Beschwerde nicht als aussichtslos zu bezeichnen und die Vertretung durch einen Rechtsanwalt geboten war (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
 
3.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
 
4.
 
Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger wird als unentgeltlicher Anwalt des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihm für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'800.- ausgerichtet.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Luzern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 4. Mai 2010
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Ursprung Weber Peter
 
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