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Informationen zum Dokument  BGer 6B_430/2010  Materielle Begründung
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BGer 6B_430/2010 vom 16.08.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_430/2010
 
Urteil vom 16. August 2010
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Schneider, Wiprächtiger, Mathys,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Gerichtsschreiberin Horber.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________, vertreten durch Rechtsanwalt Markus Bürgi,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
1. X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Kurt Schwander,
 
Beschwerdegegner,
 
2. Staatsanwaltschaft des Kantons Thurgau, Staubeggstrasse 8, 8510 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Sexuelle Handlungen mit einem Kind; Willkür, Grundsatz in dubio pro reo,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 24. November 2009.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 24. April 2006 erstattete B.________ Strafanzeige gegen X.________ wegen sexueller Belästigung zum Nachteil ihrer am 26. Juli 1992 geborenen Tochter A.________. Dieser habe am 14. Februar 2006 im Anschluss an ein von ihm geleitetes Fitnesstraining ihrer Tochter den Bauch massiert, unter das T-Shirt gegriffen und mit beiden Händen ihre Brüste angefasst. Als sich ihre Tochter zu ihm gedreht habe, um ihm zu sagen, dass er dies sein lassen solle, habe er versucht, sie zu küssen. Mit Verfügung vom 13. September 2007 stellte das kantonale Untersuchungsrichteramt die Strafuntersuchung gegen X.________ ein. Die Anklagekammer des Kantons Thurgau hiess am 18. Dezember 2007 die durch A.________ gegen die Einstellungsverfügung erhobene Beschwerde gut und wies das kantonale Untersuchungsrichteramt an, die Strafuntersuchung fortzusetzen.
 
B.
 
Das Bezirksgericht Frauenfeld sprach X.________ mit Urteil vom 11. März 2009 der sexuellen Handlung mit einem Kind schuldig und verurteilte ihn zu einer bedingten Geldstrafe von 90 Tagessätzen zu Fr. 150.-- sowie zu einer Busse von Fr. 2'400.--. Es verpflichtete ihn zudem zur Bezahlung von Schadenersatz in der Höhe von Fr. 14'000.-- zuzüglich 5 % Zins seit dem 5. Oktober 2007 sowie zur Bezahlung einer Genugtuungssumme von Fr. 2'500.-- zuzüglich 5 % Zins seit dem 14. Februar 2006.
 
C.
 
Das Obergericht des Kantons Thurgau sprach X.________ am 24. November 2009 von den Vorwürfen der sexuellen Handlung mit einem Kind frei und verwies die Schadenersatz- sowie Genugtuungsforderungen auf den Zivilweg. Es wurde ihm zudem eine Entschädigung durch den Staat in der Höhe von Fr. 16'300.-- zugesprochen.
 
D.
 
Gegen dieses Urteil erhebt A.________ Beschwerde in Strafsachen. Sie beantragt, das angefochtene Urteil sei aufzuheben, und X.________ sei der sexuellen Handlung mit einem Kind schuldig zu sprechen und angemessen zu bestrafen. Er sei zudem zu verpflichten, ihr eine Genugtuung von Fr. 2'500.-- zuzüglich 5 % Zins seit dem 14. Februar 2006 zu bezahlen und die Anwaltskosten zuzüglich 5 % Zins seit dem 5. Oktober 2007 zu übernehmen. Eventualiter sei die Angelegenheit zur Neubeurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
E.
 
Vernehmlassungen wurden keine eingeholt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Vorinstanz spricht den Beschwerdegegner abweichend von der ersten Instanz in Anwendung des Grundsatzes "in dubio pro reo" vom Vorwurf der sexuellen Handlung mit einem Kind frei. Es seien einige unüberwindbare Zweifel vorhanden, dass sich der Sachverhalt wie durch die Erstinstanz dargelegt zugetragen habe. Zwar sei es durchaus möglich, dass die von der Beschwerdeführerin erhobenen Vorwürfe zuträfen. Jedoch spreche einiges für die Glaubhaftigkeit der Aussagen des Beschwerdegegners.
 
1.2 Die Beschwerdeführerin rügt eine willkürliche Beweiswürdigung durch die Vorinstanz und eine Verletzung des Grundsatzes "in dubio pro reo". So bestünden bei einer willkürfreien Beweiswürdigung keine unüberwindbaren Zweifel an der Schuld des Beschwerdegegners.
 
2.
 
2.1 Betreffend Beweiswürdigung ist die Kognition des Bundesgerichts auf Willkür im Sinne von Art. 9 BV beschränkt. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung liegt eine solche vor, wenn der angefochtene Entscheid auf einer offensichtlich unhaltbaren oder widersprüchlichen Beweiswürdigung beruht bzw. im Ergebnis offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Dass das angefochtene Urteil mit der Darstellung des Beschwerdeführers nicht übereinstimmt oder eine andere Lösung oder Würdigung auch vertretbar erscheint oder gar vorzuziehen wäre, genügt praxisgemäss für die Begründung von Willkür nicht (BGE 134 I 140 E. 5.4 mit Hinweisen). Willkür liegt nur vor, wenn nicht bloss die Begründung eines Entscheides, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist (BGE 135 V 2 E. 1.3 mit Hinweisen).
 
2.2 Der Grundsatz "in dubio pro reo" besagt als Beweiswürdigungsregel, dass sich der Richter nicht von einem Sachverhalt überzeugt erklären darf, wenn bei objektiver Betrachtung erhebliche und unüberwindliche Zweifel bestehen, ob sich der Sachverhalt so verwirklicht hat. Inwiefern dieser Grundsatz verletzt sein soll, prüft das Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt der Willkür, das heisst, es greift nur ein, wenn das Sachgericht die beschuldigte Person verurteilte, obgleich bei objektiver Würdigung des Beweisergebnisses offensichtlich erhebliche beziehungsweise schlechterdings nicht zu unterdrückende Zweifel an deren Schuld fortbestehen. Bloss abstrakte und theoretische Zweifel sind nicht massgebend, weil solche immer möglich sind und absolute Gewissheit nicht verlangt werden kann (BGE 127 I 38 E. 2a mit Hinweisen).
 
3.
 
3.1 Die Beschwerdeführerin rügt, die Vorinstanz würdige zu Unrecht die Konstanz ihrer Kernaussagen nicht als wichtiges Indiz für ihre Glaubwürdigkeit. Die Mutmassung der Vorinstanz, sie habe die Strafanzeige vor der zweiten Einvernahme nochmals studiert, sei willkürlich, und es fehle ein Nachweis hierfür. Zudem sei es aktenwidrig, wenn die Vorinstanz behaupte, das Gespräch zwischen ihr und dem Lebenspartner ihrer Mutter - C.________ - am Abend vor der zweiten Befragung habe dazu gedient, ihre Erinnerung aufzufrischen. Es sei nur darüber gesprochen worden, wie sie sich an der Befragung verhalten solle. Dies bestätige C.________ anlässlich der untersuchungsrichterlichen Einvernahme.
 
Weiter macht die Beschwerdeführerin geltend, die Vorinstanz stelle fälschlicherweise eine Verbindung zwischen dem Vorfall mit der Haushälterin und dem sexuellen Übergriff her. Daraus, dass sie irrtümlicherweise angenommen habe, der Beschwerdegegner habe die Haushälterin geküsst, dürfe nicht geschlossen werden, sie habe auch bezüglich der Berührung an ihrer Brust etwas missverstanden. Dies seien zwei völlig verschiedene Sachverhalte. Die Vorinstanz folgere zu Unrecht, es bestehe die Möglichkeit, sie habe auch bezüglich der sexuellen Belästigung gewisse Tatsachen falsch interpretiert.
 
3.2 Die Vorinstanz würdigt die Konstanz der Kernaussagen vor dem Hintergrund, dass der Vorfall in der Familie diskutiert und anschliessend die Strafanzeige zusammen verfasst worden sei. Die wesentlichen Tatumstände, wie durch die Beschwerdeführerin anlässlich ihrer Befragungen geschildert, seien darin enthalten. Bei dem angeblichen Tatgeschehen handle es sich zudem um einen einfachen Vorfall von sehr kurzer Dauer. Überdies habe die Beschwerdeführerin nur zum eigentlichen Tathergang klare und konstante Aussagen machen können. Auf die Frage, wie es überhaupt dazu gekommen sei, dass sie auf dem Schoss des Beschwerdegegners gesessen habe, habe sie keine hinreichende Antwort geben können und diesbezüglich widersprüchlich ausgesagt. Die Ansicht der Erstinstanz, die Konstanz der Kernaussagen sei ein wichtiges Indiz für deren Glaubhaftigkeit, treffe daher nicht zu.
 
Die Vorinstanz weist zudem darauf hin, dass die Beschwerdeführerin zum gleichen Zeitpunkt, in welchem sie ihrer Schwester den sexuellen Übergriff anvertraute, in voller Überzeugung und zu Unrecht behauptet habe, der Beschwerdegegner habe die Haushälterin geküsst. Auf Nachfrage habe die Beschwerdeführerin dann anlässlich der zweiten Befragung zugeben müssen, den Vorfall nicht wirklich beobachtet zu haben. Es handle sich vielmehr um eine Mutmassung ihrerseits. Die Ansicht der Erstinstanz, die Beschwerdeführerin habe die Situation missverstanden, weshalb ihr nicht vorgeworfen werden könne, die Unwahrheit gesagt zu haben, könne zwar nachvollzogen werden. Jedoch sei zumindest nicht auszuschliessen, dass die Beschwerdeführerin auch bezüglich des behaupteten sexuellen Übergriffs gewisse Tatsachen mit eigenen Vorstellungen vermischt oder falsch interpretiert habe.
 
3.3 Es trifft zu, dass die Vorinstanz zum Teil mutmasst. Beispielsweise erwägt sie, es sei denkbar, dass die Beschwerdeführerin die Strafanzeige nochmals studiert oder mit C.________ am Vorabend den Vorfall abermalig besprochen habe. Jedoch deklariert sie dies als Möglichkeit und nicht als Tatsache und leitet daraus (alleine) nicht ab, dass die Glaubhaftigkeit ihrer Aussagen zu relativieren sei. Auch behauptet sie nicht, die Beschwerdeführerin habe den angeblichen sexuellen Übergriff gleichermassen wie den vermeintlichen Kuss des Beschwerdegegners mit der Haushälterin erfunden oder diesbezüglich Tatsachen mit eigenen Vorstellungen vermischt. Vielmehr gibt sie zu bedenken, dass diese Möglichkeit bestehe. Auch wenn die Vorinstanz in mancher Hinsicht Mutmassungen anstellt, gelangt sie im Ergebnis zu einer vertretbaren Schlussfolgerung. So zeigt sie verschiedentlich Unklarheiten und Widersprüche auf, die es ihrer Ansicht nach nicht erlauben, den Sachverhalt als klar erwiesen zu erachten (vgl. insbesondere Urteil des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 24. November 2009 E. 4k und 5d). Die Beschwerdeführerin unterlässt es in ihrer Beschwerdeschrift, zu diesen Widersprüchen Stellung zu nehmen. Hingegen bringt sie mehrmals vor, wie ihre Aussagen richtigerweise zu würdigen gewesen wären. Derartige appellatorische Vorbringen vermögen keine Willkür darzutun. Dass und inwiefern das vorinstanzliche Beweisergebnis nicht vertretbar sein sollte, zeigt sie nicht auf. Solches ist auch nicht ersichtlich.
 
4.
 
4.1 Die Beschwerdeführerin rügt zudem, die Vorinstanz habe das rechtliche Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV verletzt. Die Vorinstanz bezeichne ihre Reaktion auf den angeblichen Versuch des Beschwerdegegners, sie zu küssen, als sonderbar. Eine entsprechende Begründung fehle. Dies verletze den Grundsatz, wonach die Parteien Anspruch auf eine ausreichende Begründung haben.
 
4.2 Aus dem Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 29 Abs. 2 BV) folgt unter anderem die grundsätzliche Pflicht der Behörden, ihren Entscheid zu begründen. Die Begründung muss so abgefasst sein, dass der Betroffene den Entscheid gegebenenfalls sachgerecht anfechten kann. Sie muss kurz die wesentlichen Überlegungen nennen, von denen sich das Gericht hat leiten lassen und auf die sich sein Entscheid stützt (BGE 134 I 83 E. 4.1 mit Hinweisen).
 
4.3 Diesen Anforderungen wird der angefochtene Entscheid gerecht, indem er nachvollziehbar darlegt, aus welchen Überlegungen die Vorinstanz zu ihrem Entscheid gelangt. Sie begründet zwar nicht, inwiefern sie die Reaktion der Beschwerdeführerin sonderbar findet, jedoch ist diese Feststellung wohl als Bemerkung am Rande zu verstehen. Insbesondere stützt sich die Vorinstanz in ihrer Beweiswürdigung nicht massgeblich auf diesen einen Punkt, sondern nennt etliche weitere Gründe, weshalb der Sachverhalt als unklar zu betrachten sei. Somit begründet sie ihren Entscheid, den Beschwerdegegner freizusprechen, hinreichend. Eine Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör, insbesondere der Begründungspflicht, ist nicht ersichtlich.
 
5.
 
Auf den Antrag der Beschwerdeführerin auf Genugtuung sowie Schadenersatz ist nicht einzutreten. Er wird im Zusammenhang mit der Verurteilung des Beschwerdegegners begründet. Es bleibt aber beim vorinstanzlichen Freispruch.
 
6.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die bundesgerichtlichen Kosten der Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Dem Beschwerdegegner ist keine Parteientschädigung zuzusprechen, da er im bundesgerichtlichen Verfahren keine besonderen Aufwendungen hatte (Art. 68 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 16. August 2010
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Favre Horber
 
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