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Informationen zum Dokument  BGer 4A_349/2010  Materielle Begründung
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BGer 4A_349/2010 vom 29.09.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
4A_349/2010
 
Urteil vom 29. September 2010
 
I. zivilrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Klett, Präsidentin,
 
Bundesrichterinnen Rottenberg Liatowitsch, Kiss,
 
Gerichtsschreiberin Sommer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Dieter Kehl, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Y.________ Rechtsschutz-Versicherungs-AG,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Oskar Müller,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Rechtsschutzversicherungsvertrag,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Thurgau vom 4. Mai 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Im November 1999 schloss X.________ (Beschwerdeführerin) mit der Y.________ Rechtsschutz-Versicherungs-AG (Beschwerdegegnerin) eine Verkehrsrechtsschutz-Einzelversicherung ab. Während des laufenden Versicherungsvertrags erlitt die Beschwerdeführerin am 21. Dezember 2003 sowie am 5. Oktober 2006 einen Verkehrsunfall. Die Beschwerdegegnerin verweigerte gegenüber dem von der Beschwerdeführerin beauftragten Rechtsanwalt eine Kostengutsprache, weil die Beschwerdeführerin vertragliche Obliegenheiten verletzt habe.
 
B.
 
Die Beschwerdeführerin erhob mit Weisung vom 30. Oktober 2008 beim Bezirksgericht Frauenfeld Klage. Sie beantragte die Feststellung, dass bei der Beschwerdegegnerin bis zu einem Maximalbetrag von Fr. 250'000.-- für die Durchsetzung ihrer Ansprüche aus den Unfällen vom 21. Dezember 2003 und 5. Oktober 2006 gegen die Haftpflichtversicherer A.________ und B.________, die C.________ (Invaliditätskapital), die SUVA, die IV, die Pensionskasse D.________ und die Krankentaggeldversicherung E.________ Kostendeckung bestehe. Mit Urteil vom 13. Mai 2009 wies das Bezirksgericht die Klage ab.
 
Dagegen erhob die Beschwerdeführerin Berufung an das Obergericht des Kantons Thurgau. Dieses erachtete die Berufung für unbegründet und wies die Klage am 4. Mai 2010 ebenfalls ab.
 
C.
 
Die Beschwerdeführerin beantragt mit Beschwerde in Zivilsachen, das Urteil des Obergerichts vom 4. Mai 2010 aufzuheben. Es sei festzustellen, dass bei der Beschwerdegegnerin bis zu einem Maximalbetrag von Fr. 250'000.-- für die Durchsetzung ihrer Ansprüche aus den Unfällen vom 21. Dezember 2003 und 5. Oktober 2006 gegen die Haftpflichtversicherer A.________ und B.________, die C.________ (Invaliditätskapital), die SUVA, die IV, die Pensionskasse D.________ und die Krankentaggeldversicherung E.________ Kostendeckung bestehe.
 
Die Beschwerdegegnerin beantragt, das angefochtene Urteil in Abweisung der Beschwerde zu bestätigen. Die Vorinstanz schliesst auf Abweisung der Beschwerde.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit Beschwerde in Zivilsachen können Rechtsverletzungen nach Art. 95 und 96 BGG gerügt werden. Die Beschwerde ist hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten. In der Beschwerdeschrift ist in gedrängter Form darzulegen, inwiefern der angefochtene Akt Recht verletzt (Art. 42 Abs. 2 BGG). Unerlässlich ist, dass die Beschwerde auf die Begründung des angefochtenen Entscheids eingeht und im Einzelnen aufzeigt, worin eine Verletzung von Bundesrecht liegt. Der Beschwerdeführer soll in der Beschwerdeschrift nicht bloss die Rechtsstandpunkte, die er im kantonalen Verfahren eingenommen hat, erneut bekräftigen, sondern mit seiner Kritik an den als rechtsfehlerhaft erachteten Erwägungen der Vorinstanz ansetzen (vgl. BGE 134 II 244 E. 2.1 S. 245 f.; 134 V 53 E. 3.3; 133 IV 286 E. 1.4 S. 287).
 
2.
 
Die Vorinstanz befand, die Beschwerdeführerin habe mehrere vertragliche Obliegenheiten verletzt, so indem sie die Schadensfälle deutlich verspätet gemeldet habe, ihrer Pflicht zur Information, Auskunft und Mitwirkung nicht nachgekommen sei, unrechtmässig einen selbst gewählten Rechtsvertreter mandatiert und die Eigenregulierung durch die Beschwerdegegnerin abgelehnt habe. Aufgrund dieser Obliegenheitsverletzungen sei die Beschwerdegegnerin gestützt auf die entsprechende Regelung von Art. 8 der Allgemeinen Versicherungsbedingungen (AVB) berechtigt, ihre Leistungen gänzlich abzulehnen.
 
Die Beschwerdeführerin macht im Hauptstandpunkt geltend, sie habe keine Obliegenheiten verletzt (dazu Erwägung 3), und im Eventualstandpunkt bringt sie vor, auch allfällige Obliegenheitsverletzungen würden die Beschwerdegegnerin nicht zur Leistungsablehnung berechtigen (dazu Erwägung 4).
 
3.
 
3.1 Den Hauptstandpunkt begründet die Beschwerdeführerin damit, dass die Eigenregulierung - entgegen Art. 161 der Verordnung über die Beaufsichtigung von privaten Versicherungsunternehmen vom 9. November 2005 (Aufsichtsverordnung, AVO; SR 961.011), der klarstellt, dass Rechtsschutzversicherungen in rechtlichen Angelegenheiten Dienstleistungen erbringen dürfen - gar nicht zulässig sei, weshalb die Beschwerdeführerin eo ipso auch keine Obliegenheit verletzt habe. Die Eigenregulierungsklausel nach Art. 6 AVB sei ungültig. Die Interessen von Rechtsschutzversicherung und Rechtsschutzversicherten seien per se gegenläufig. Art. 6 AVB und Art. 161 AVO seien widerrechtlich und sittenwidrig (Art. 20 Abs. 2 OR i.V.m. Art. 398 OR), weil sie Untreue infolge unvermeidlichen Interessenkonflikts zur Folge hätten bzw. zuliessen. Unvereinbar seien sie auch mit dem VVG insgesamt (insb. mit Art. 1 VVG), weil sie rechts- und systemwidrig Dienstleistungen als Versicherungsleistungen zuliessen, sowie mit Art. 1 Abs. 2 VAG, weil sie damit Rechtsmissbrauch ermöglichten.
 
3.2 Auf diese Rüge kann nicht eingetreten werden. Die Beschwerdeführerin bestreitet einzig eine Obliegenheitsverletzung durch Ablehnung der Eigenregulierung. Die anderen Obliegenheitsverletzungen, welche die Vorinstanz festgestellt hat, ficht sie nicht an. Stattdessen beharrt sie auf ihrer Behauptung, die Beschwerdegegnerin habe auf die Geltendmachung anderer Obliegenheitsverletzungen stillschweigend verzichtet. Die Vorinstanz hat diese Behauptung aber anhand der Akten als klar falsch ausgewiesen. Damit setzt sich die Beschwerdeführerin mit keinem Wort auseinander und lässt das Urteil der Vorinstanz insoweit unangefochten. Somit bleibt es - selbst wenn eine Obliegenheitsverletzung durch Ablehnung der Selbstregulierung verneint werden würde - auf jeden Fall bei der Feststellung, dass die Beschwerdeführerin die weiteren Obliegenheitsverletzungen begangen hat. Dass die anderen Obliegenheitsverletzungen keine selbständige Bedeutung haben sollen, wird nicht begründet und ist in keiner Weise ersichtlich. Es liegen somit ohnehin mehrere Obliegenheitsverletzungen vor (verspätete Schadensmeldungen, Verletzung der Pflicht zur Information, Auskunft und Mitwirkung, eigenmächtige Mandatierung eines selbst gewählten Rechtsvertreters), welche die entsprechende Rechtsfolge (Leistungsverweigerung) nach sich ziehen. Bei dieser Sach- und Rechtslage hat die Beschwerdeführerin kein Rechtsschutzinteresse, dass darüber befunden wird, ob sie auch gegen die Pflicht, der Beschwerdegegnerin die Eigenregulierung zu ermöglichen, verstossen hat bzw. ob eine solche Pflicht gültig vereinbart werden konnte.
 
4.
 
4.1 Im Eventualstandpunkt wiederholt die Beschwerdeführerin - ohne weitere Begründung - lediglich ihre im kantonalen Verfahren eingenommene Ansicht, dass eine Leistungsverweigerung oder -kürzung nur zulässig wäre, wenn und soweit allfällige Obliegenheitsverletzungen einen Schaden der Beschwerdegegnerin bewirkt hätten. Einen solchen mache die Beschwerdegegnerin aber nicht geltend. Somit sei Art. 8 AVB rechtswidrig. Verletzt sei Art. 45 VVG.
 
4.2 Nach Art. 8 AVB berechtigt die schuldhafte Verletzung vertraglicher Obliegenheiten durch den Versicherten die Beschwerdegegnerin, ihre Leistungen abzulehnen. Soweit keine zwingenden gesetzlichen Vorschriften entgegenstehen, können die Parteien die Rechtsfolgen einer Obliegenheitsverletzung frei vereinbaren (Alfred Maurer, Schweizerisches Privatversicherungsrecht, 3. Aufl. 1995, S. 308). Diese Freiheit findet ihre Grenze an der zwingenden Vorschrift von Art. 45 VVG. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung tritt ein wegen Obliegenheitsverletzung vereinbarter Rechtsnachteil nicht ein, "wenn die Verletzung den Umständen nach als eine unverschuldete anzusehen ist." Art. 8 AVB stimmt mit dem in Art. 45 VVG statuierten Schulderfordernis überein, indem er den Rechtsnachteil der Leistungsverweigerung nur bei schuldhafter Obliegenheitsverletzung vorsieht.
 
Ein Kausalitätserfordernis, wie es in der von der Beschwerdeführerin zitierten Literatur vertreten wird (Stephan Fuhrer, Kürzung von Versicherungsleistungen, in: Personen-Schaden-Forum 2007, S. 189 ff., S. 203; Roland Schaer, in: Gebäudeversicherung, Systematischer Kommentar, Basel 2009, 6. Kap. N. 24 in fine; Roland Schaer, Modernes Versicherungsrecht, Bern 2007, § 21 N. 18 f., mit nicht einschlägigem Hinweis auf das Urteil 4C.314/1992 vom 11. Dezember 2001, in welchem Fall ein Kausalitätserfordernis in den AVB gerade vereinbart war [vgl. E. 3a]), schreibt Art. 45 Abs. 1 VVG indes nicht vor. Somit kann vereinbart werden, dass die Rechtsnachteile auch dann eintreten, wenn die Obliegenheitsverletzung sich nicht ausgewirkt hat (Maurer, a.a.O., S. 309; Jürg Nef, in: Basler Kommentar, Bundesgesetz über den Versicherungsvertrag, 2001, N. 15 zu Art. 45 VVG). Dasselbe gilt, wenn der Vertrag diesbezüglich schweigt (Nef, a.a.O., N. 16 zu Art. 45 VVG). Im Hinblick darauf, dass diese Regelung in der Doktrin als oft zu hart bewertet wird (so insb. Maurer, a.a.O., S. 309), hat der Gesetzgeber im Zuge der Änderung des VVG vom 17. Dezember 2004 betreffend die Folgen einer Verletzung der Anzeigepflicht bei Vertragsschluss das Kausalitätserfordernis eingeführt (siehe Art. 6 VVG; Botschaft vom 9. Mai 2003 zu einem Gesetz betreffend die Aufsicht über Versicherungsunternehmen [Versicherungsaufsichtsgesetz, VAG] und zur Änderung des Bundesgesetzes über den Versicherungsvertrag, BBl 2003 3806; BGE 4A_163/2010 vom 2. Juli 2010 E. 2.2). Er hat aber - in Kenntnis der in der Literatur aufgeworfenen Problematik - darauf verzichtet, Art. 45 VVG dahingehend zu ergänzen, dass vereinbarte Rechtsnachteile von Obliegenheitsverletzungen allgemein an das Kausalitätserfordernis geknüpft werden müssen. Darauf hat die Vorinstanz zutreffend hingewiesen. Die Beschwerdeführerin setzt sich mit dieser entscheidenden Begründung der Vorinstanz mit keinem Wort auseinander, weshalb sich ihre Rüge nicht nur als unbegründet, sondern auch als mangelhaft motiviert erweist (Art. 42 Abs. 2 BGG; vgl. Erwägung 1).
 
Eine Verletzung von Art. 45 VVG ist nicht dargetan. Die Beschwerdeführerin macht über die Verletzung von Art. 45 VVG hinaus nicht geltend, Art. 8 AVB sei die Gültigkeit wegen Ungewöhnlichkeit zu versagen (dazu BGE 135 III 1 E. 2.1 mit Hinweisen), weshalb sich eine entsprechende Prüfung von vornherein erübrigt.
 
5.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Dem Ausgang des Verfahrens entsprechend wird die Beschwerdeführerin kosten- und entschädigungspflichtig (Art. 66 Abs. 1 und Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'500.-- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdeführerin hat die Beschwerdegegnerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Thurgau schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 29. September 2010
 
Im Namen der I. zivilrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Die Gerichtsschreiberin:
 
Klett Sommer
 
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