BGer 9C_660/2010 | |||
| |||
Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch) | |||
BGer 9C_660/2010 vom 20.10.2010 | |
Bundesgericht
| |
Tribunal fédéral
| |
Tribunale federale
| |
{T 0/2}
| |
9C_660/2010
| |
Urteil vom 20. Oktober 2010
| |
II. sozialrechtliche Abteilung
| |
Besetzung
| |
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
| |
Bundesrichter Borella, Bundesrichterin Pfiffner Rauber,
| |
Gerichtsschreiber Ettlin.
|
Verfahrensbeteiligte | |
B.________,
| |
vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Lind,
| |
Beschwerdeführer,
| |
gegen
| |
IV-Stelle des Kantons Aargau,
| |
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
| |
Beschwerdegegnerin.
| |
Gegenstand
| |
Invalidenversicherung,
| |
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
| |
vom 25. Mai 2010.
| |
Sachverhalt:
| |
A.
| |
Der 1968 geborene B.________ meldete sich am 28. November 2007 bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Gestützt auf die beigezogenen Unterlagen, namentlich den RAD-Untersuchungsbericht vom 30. März 2009 des Dr. med. K.________, Facharzt für Innere Medizin und Rheumatologie, und die getroffenen beruflichen Abklärungen, verfügte die IV-Stelle des Kantons Aargau am 13. Juli 2009 die Ablehnung des Anspruchs auf eine Invalidenrente, da der Invaliditätsgrad 35 % betrage.
| |
B.
| |
Die hiegegen erhobene Beschwerde, mit welcher B.________ die Zusprechung einer Viertelsrente ab Dezember 2007, eventuell die Rückweisung der Sache an die Vorinstanz zu weiteren Abklärungen beantragen liess, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau mit Entscheid vom 25. Mai 2010 ab.
| |
C.
| |
B.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und lässt die vorinstanzlichen Rechtsbegehren erneuern. Zudem sei ihm die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
| |
Die IV-Stelle beantragt die Abweisung der Beschwerde, derweil die Vorinstanz und das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Stellungnahme verzichten.
| |
Erwägungen:
| |
1.
| |
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur gerügt werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
| |
2.
| |
Die Vorinstanz hat die Bestimmung von Art. 16 ATSG über die Bemessung des Invaliditätsgrades bei erwerbstätigen Versicherten nach der Einkommensvergleichsmethode zutreffend wiedergegeben, sodass darauf verwiesen wird. Zu ergänzen ist, dass nach Art. 28 Abs. 2 IVG bei einem Invaliditätsgrad ab 40 % Anspruch auf eine Viertelsrente besteht.
| |
3.
| |
Zu prüfen ist der Invaliditätsgrad, wobei die ärztliche Beurteilung der Arbeitsfähigkeit in der angestammten Beschäftigung des Baufacharbeiters und in einer Verweistätigkeit nicht strittig ist, sondern allein die Höhe der Vergleichseinkommen.
| |
3.1 Auf der nicht medizinischen beruflich-erwerblichen Stufe der Invaliditätsbemessung charakterisieren sich als Rechtsfragen die gesetzlichen und rechtsprechungsgemässen Regeln über die Durchführung des Einkommensvergleichs (BGE 130 V 343 E. 3.4 S. 348; 128 V 29 E. 1 S. 30; 104 V 135 E. 2a und b S. 136 f.). Die Feststellung der beiden hypothetischen Vergleichseinkommen ist Tatfrage, soweit sie auf konkreter Beweiswürdigung beruht, hingegen Rechtsfrage, soweit sich der Entscheid nach der allgemeinen Lebenserfahrung richtet. Letzteres betrifft etwa die Fragen, ob Tabellenlöhne anwendbar sind und welches die massgebliche Tabelle ist (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 8C_255/2007 vom 12. Juni 2008 E. 1.2, nicht publ. in: BGE 134 V 322) sowie die Wahl der zutreffenden Stufe (Anforderungsniveau 1, 2, 3 oder 4; Urteile I 860/06 vom 7. November 2007 E. 3.2; I 732/06 vom 2. Mai 2007 E. 4.2.2) und des zu berücksichtigenden Wirtschaftszweigs oder Totalwertes (vgl. Urteil 9C_395/2008 vom 9. Oktober 2008 E. 5.3). Demgegenüber beschlägt der Umgang mit den Zahlen in der massgeblichen LSE-Tabelle eine Tatfrage. Schliesslich ist die Frage, ob ein (behinderungsbedingt oder anderweitig begründeter) Leidensabzug vorzunehmen sei, eine Rechtsfrage, während jene nach der Höhe des Abzuges eine typische Ermessensfrage darstellt, deren Beantwortung letztinstanzlicher Korrektur nur mehr dort zugänglich ist, wo das kantonale Gericht das Ermessen rechtsfehlerhaft ausgeübt hat (BGE 132 V 393 E. 3.3 S. 399; Urteil 9C_678/2008 vom 29. Januar 2009 E. 3.2).
| |
3.2 Das kantonale Gericht hat gestützt auf einen Einkommensvergleich einen Invaliditätsgrad von 33 % ermittelt. Zur Bestimmung des hypothetischen Einkommens ohne Invalidität (Valideneinkommen) verwendete es vorab die Tabellen gemäss der Schweizerischen Lohnstrukturerhebung (LSE) 2008 des Bundesamtes für Statistik. Als massgebend erachtete die Vorinstanz die Tabelle T1, Baugewerbe, Anforderungsniveau 4. In einer entsprechenden Tätigkeit hätte der Beschwerdeführer laut angefochtenem Entscheid für das Jahr 2008 ein Erwerbseinkommen von Fr. 64'272.- erzielen können. Hinzu komme das in der nebenberuflichen Reinigungstätigkeit bei der Firma X._________ AG im Jahr 2006 verdiente und der Lohnentwicklung bis 2008 angepasste Gehalt von Fr. 16'901.-. Insofern stützte sich die Vorinstanz nicht auf einen statistischen Lohn. Gesamthaft bezifferte sie das Valideneinkommen auf Fr. 81'173.-.
| |
4.
| |
4.1
| |
4.1.1 Der Beschwerdeführer wendet zu Recht nicht ein, das Abstellen auf Tabellenlöhne zur Bestimmung des Valideneinkommens in der Haupttätigkeit sei rechtsfehlerhaft. Denn ein Arbeitsplatzwechsel wäre nach den verbindlichen Feststellungen im angefochtenen Entscheid auch im Gesundheitsfall nötig geworden, nachdem der ehemalige Arbeitgeber den Betrieb altershalber aufgegeben hat (Urteil 9C_5/2009 vom 16. Juli 2009 E. 2.3, publ. in: SVR 2009 IV Nr. 58 S. 181). Der Versicherte beanstandet sodann die als Berechnungsgrundlage gewählte Baubranche nicht, sondern allein das Anforderungsniveau 4: Der beruflichen Qualifikation als Baufacharbeiter gemäss Landesmantelvertrag des Schweizerischen Bauhauptgewerbes (LMV) sei mit dem Anforderungsniveau 3 Rechnung zu tragen. Für diese Sichtweise spricht ein Vergleich der statistischen Löhne nach LSE mit jenen gemäss LMV. Laut Tabelle T1, LSE 2008, Baubranche, Anforderungsniveau 3, betrug der Zentralwert des monatlichen Bruttolohns bei Männern Fr. 5'602.-, wogegen im Anforderungsniveau 4 der Lohn von Fr. 5'150.- ausgewiesen ist (inkl. 13. Monatslohn). Der LMV 2008 vom 14. April 2008 sah für die Lohnklasse A (Baufacharbeiter ohne Berufsausweis; vgl. Art. 42 Abs. 1 LMV 2008) - welcher der Beschwerdeführer angehörte - je nach Lohnzone einen Basislohn zwischen Fr. 5'048.- und Fr. 5'192.- vor. Hinzu kommt der 13. Monatslohn zwischen Fr. 420.70 bis Fr. 432.70 je Monat (Art. 49 LMV 2008), womit die gesamtarbeitsvertraglichen Löhne annähernd jenen im Anforderungsniveaus 3, LSE, entsprechen. Der Einordnung des Versicherten in das Anforderungsniveau 3 (Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt) steht allerdings der fehlende branchenspezifische Berufsabschluss entgegen. Der angefochtene Entscheid lässt nebstdem nicht den Schluss zu, der Beschwerdeführer sei mit anspruchsvolleren Arbeiten betraut gewesen, die Berufs- und Fachkenntnisse voraussetzten (vgl. etwa Urteile 9C_882/2009 vom 1. April 2010 E. 6.3, 8C_9/2009 vom 10. November 2009 E. 4.1). In diesem Zusammenhang wurde etwa im erwähnten Urteil 9C_5/2009 (E. 2.3) bei einem in der Baubranche tätigen Vorarbeiter das Anforderungsniveau 3 für massgeblich erachtet. Wie es sich mit der Einordnung abschliessend verhält, braucht indes nicht entschieden zu werden; denn wie zu zeigen ist, ändert selbst das Einkommen im Anforderungsniveau 3 der Baubranche von Fr. 69'913.- am Verfahrensausgang nichts (E. 4.3 hienach).
| |
4.1.2 Der Versicherte kritisiert sodann mit Bezug auf das vor Eintritt des Gesundheitsschadens erzielte und dem Validenlohn angerechnete Nebeneinkommen (Reinigung) die ausschliessliche Berücksichtigung des Jahreslohnes 2006. Es sei auf den Durchschnitt der Einkommen der Jahre 2005 und 2006 abzustellen. Nur auf diese Weise liessen sich zufällige Lohnschwankungen - beispielsweise wegen Krankheit - ausgleichen. Dem steht allerdings entgegen, dass der Beschwerdeführer gemäss den Angaben der X._________ AG im Jahr 2006, anders als im Jahr zuvor, nicht krankheitshalber arbeitsunfähig gewesen ist. Der Nebenerwerb des Jahres 2006 basiert somit auf einem vollen Leistungsvermögen. Darüber hinaus ist mit Blick auf das Argument der Lohnschwankungen nicht ersichtlich, weshalb zwar das Einkommen im Jahr 2005 von Fr. 17'515.- in die Durchschnittsrechnung einzubeziehen wäre, nicht jedoch jenes von 2004 in der Höhe von Fr. 13'874.-. Der Durchschnitt der Löhne 2004 bis 2006 beträgt Fr. 15'869.30 und liegt unter dem verwendeten Jahreslohn 2006 von Fr. 16'219.-. Der sich auf eine konkrete Beweiswürdigung stützende und der Lohnentwicklung bis 2008 angepasste Nebenerwerb in der Höhe von Fr. 16'901.- ist nach dem Gesagten nicht qualifiziert unrichtig (E. 3.1 hievor). Soweit der Beschwerdeführer eine Gehörsverletzung rügt, weil das vorinstanzliche Gericht das Abstellen auf den Jahreslohn 2006 nicht begründe, ist ihm entgegenzuhalten, dass der Lohn unmittelbar vor Eintritt des Gesundheitsschadens regelmässig Ausgangspunkt für den Validenlohn ist (ULRICH MEYER, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2010, S. 301 f.), woran sich das kantonale Gericht gehalten hat. Zudem hat er in der vorinstanzlichen Beschwerde für seine abweichende Auffassung keine Gründe dargelegt. Von einer Verletzung des rechtlichen Gehörs kann nicht die Rede sein.
| |
4.2 Das Invalideneinkommen gestützt auf den Tabellenlohn (LSE) von Fr. 59'979.- ist letztinstanzlich nicht beanstandet. Ferner hat die Vorinstanz ihr Ermessen bei der Festlegung des leidensbedingten Abzuges mit 10 % - entgegen beschwerdeführerischem Einwand - rechtsfehlerfrei ausgeübt. Die Frage, ob und in welchem Ausmass Tabellenlöhne herabzusetzen sind, hängt nach der Rechtsprechung von sämtlichen persönlichen und beruflichen Umständen des konkreten Einzelfalles ab (leidensbedingte Einschränkung, Alter, Dienstjahre, Nationalität/Aufenthaltskategorie und Beschäftigungsgrad). Die beschwerdeweise verlangte Reduktion von 25 % vom statistischen Lohn nach LSE bildet die oberste Abzugsgrenze (BGE 126 V 75 E. 5b/aa-cc S. 79 f.), weshalb sie regelmässig den Fällen vorzubehalten ist, bei welchen die Reduktionskriterien gehäuft erfüllt sind. Dies trifft hier nicht zu. Namentlich enthalten die Akten keine Hinweise darauf, dass die medizinisch begründete Leistungseinschränkung in der ärztlichen Umschreibung des Anforderungsprofils unzureichend Niederschlag gefunden hätte. Der Abzug von 10 % vom Tabellenlohn stellt auch unter diesem Aspekt keinen Ermessensfehler dar (Urteil 9C_874/2009 vom 29. Januar 2010 E. 4). Ein Ermessensmissbrauch liegt schliesslich nicht schon dann vor, falls in ähnlichen Verhältnissen gerichtlich ein höherer Abzug bestätigt worden ist, weshalb der Hinweis auf das Urteil 8C_689/2008 vom 1. April 2009 (E. 5.3.3) daran nichts ändert. Der Beschwerdeführer übersieht bei seiner Kritik am 10%igen Abzug, dass die Vorinstanz nur ein einziges Kriterium (Behinderung) berücksichtigte und andere Kriterien lohnerhöhend wären (Vollzeitarbeit, Niederlassung C), weshalb insgesamt sicher nicht Willkür bei der Festlegung des Abzuges vorliegt. In Anbetracht des schlüssig begründeten Kürzungsmasses im vorinstanzlichen Entscheid dringt die gerügte Gehörsverletzung auch in diesem Punkt nicht durch. Die vorinstanzliche Begründungsdichte erlaubte ohne weiteres eine sachgerechte, substanziierte Anfechtung des kantonalen Ermessensentscheids (vgl. BGE 131 III 26 E. 12.2.2 S. 31; 129 I 232 E. 3.2 S. 236; 126 I 97 E. 2b S. 102 E. 2b; 124 V 180 E. 1a S. 181 mit Hinweisen).
| |
4.3 Dem Valideneinkommen gemäss angefochtenem Entscheid von Fr. 81'173.- steht ein Invalideneinkommen von Fr. 53'981.- (Fr. 59'979.- - Fr. 5'997.90 [10 % von Fr. 59'979.-]) gegenüber, was die Erwerbseinbusse von 33,4 % ergibt. Selbst wenn das Valideneinkommen anhand des Lohnes im Anforderungsniveau 3 von Fr. 86'814.- (Fr. 69'913.- + Fr. 16'901.-) der Invaliditätsgradbemessung zugrunde gelegt würde (vgl. E. 4.1.2 i.f. hievor), läge die gesundheitsbedingte Lohneinbusse bei 38 %. Die Beschwerde ist so oder anders unbegründet.
| |
5.
| |
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 Abs. 1 und Abs. 4 lit. a BGG). Da der Beschwerdeführer bedürftig ist, die Beschwerde nicht aussichtslos und die Vertretung geboten war (BGE 125 V 201 E. 4a S. 202 und 371 E. 5b S. 372, je mit Hinweisen), kann dem Gesuch um unentgeltliche Prozessführung und Verbeiständung entsprochen werden. Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG aufmerksam gemacht, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten haben wird, wenn sie später dazu im Stande ist.
| |
Demnach erkennt das Bundesgericht:
| |
1.
| |
Die Beschwerde wird abgewiesen.
| |
2.
| |
Dem Beschwerdeführer wird die unentgeltliche Rechtspflege gewährt.
| |
3.
| |
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt, indes vorläufig auf die Gerichtskasse genommen.
| |
4.
| |
Rechtsanwältin Barbara Lind wird als unentgeltliche Anwältin des Beschwerdeführers bestellt, und es wird ihr für das bundesgerichtliche Verfahren aus der Gerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 2'800.- ausgerichtet.
| |
5.
| |
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
| |
Luzern, 20. Oktober 2010
| |
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
| |
des Schweizerischen Bundesgerichts
| |
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
| |
Meyer Ettlin
| |
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR). |