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Informationen zum Dokument  BGer 6B_605/2010  Materielle Begründung
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BGer 6B_605/2010 vom 12.11.2010
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
6B_605/2010
 
Urteil vom 12. November 2010
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Favre, Präsident,
 
Bundesrichter Wiprächtiger,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Gerichtsschreiber Keller.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, vertreten durch Rechtsanwalt Hans Suppiger,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern, Zentralstrasse 28, 6002 Luzern,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Vorschriftswidriges Überholen mit Personenwagen (Rechtsüberholen); Kostenfolgen,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Obergerichts des Kantons Luzern, II. Kammer, vom 12. Mai 2010.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der Amtsstatthalter von Willisau sprach X.________ am 21. Juli 2009 des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall mit Fremdschaden, begangen durch Nichtgenügen der Meldepflicht, sowie des vorschriftswidrigen Überholens mit Personenwagen (Rechtsüberholen) schuldig und bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 750.--. Zudem auferlegte er ihm die Verfahrenskosten von Fr. 1'543.-- (Untersuchungsgebühr Fr. 1000.-- und Auslagen Fr. 543.--).
 
B.
 
Gegen diesen Entscheid erhob X.________ Einsprache beim Amtsgericht Willisau. Dieses sprach ihn am 4. Februar 2010 des vorschriftswidrigen Überholens mit Personenwagen (Rechtsüberholen) schuldig, sprach ihn hingegen vom Vorwurf des pflichtwidrigen Verhaltens nach Unfall frei. Es bestrafte ihn mit einer Busse von Fr. 500.--, bestätigte die Verfahrenskosten des Amtsstatthalters von Fr. 1'543.-- und auferlegte ihm eine reduzierte Gerichtsgebühr von Fr. 800.--.
 
C.
 
X.________ erhob in Bezug auf die Kostenauflage Kassationsbeschwerde beim Obergericht des Kantons Luzern. Dieses wies mit Entscheid vom 12. Mai 2010 die Beschwerde ab und bestätigte den Kostenspruch des Amtsgerichts Willisau. Zusätzlich auferlegte es ihm die Gebühren des obergerichtlichen Verfahrens von Fr. 800.--.
 
D.
 
X.________ erhebt subsidiäre Verfassungsbeschwerde beim Bundesgericht. Er beantragt, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben, und es sei ihm zulasten des Kantons Luzern für das vorinstanzliche Beschwerdeverfahren eine angemessene Anwaltskostenentschädigung zuzusprechen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen zulasten der Staatsanwaltschaft des Kantons Luzern.
 
E.
 
Es wurden keine Vernehmlassungen eingeholt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen gemäss Art. 78 ff. BGG kann grundsätzlich jede Rechtsverletzung geltend gemacht werden, die bei der Anwendung von materiellem Strafrecht oder Strafprozessrecht begangen wird (BGE 134 I 36 E. 1.4.3). Dies gilt auch für die Verletzung von Verfassungsrecht (Art. 95 BGG). Die subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist somit ausgeschlossen (Art. 113 BGG). Die vorliegende subsidiäre Verfassungsbeschwerde ist als Beschwerde in Strafsachen entgegenzunehmen.
 
2.
 
Der Beschwerdeführer fuhr gemäss unbestrittenem Sachverhalt am 13. Januar 2009 um 17.30 Uhr mit seinem Personenwagen auf der Autobahn N2 in Richtung Sursee/Fahrtrichtung Süden. Im Streckenbereich Buchs/Uffikermoos ereignete sich zwischen seinem Fahrzeug und dem auf dem Überholstreifen fahrenden Personenwagen von A.________ eine Streifkollision, indem der Beschwerdeführer den auf die Normalspur wiedereinbiegenden A.________ rechts überholen wollte. Hierbei entstand an den beiden Fahrzeugen ein Sachschaden von insgesamt rund Fr. 800.--. Der Beschwerdeführer fuhr ohne anzuhalten weiter.
 
Gegenstand des vorliegenden Verfahrens bildet einzig die vorinstanzliche Kostenverlegung.
 
3.
 
3.1
 
3.1.1 Der Beschwerdeführer macht eine Verletzung des Willlkürverbots nach Art. 9 BV geltend. Es sei aktenwidrig und willkürlich, wenn die Vorinstanz feststelle, es seien beim Freispruch bezüglich pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall keine Mehrkosten entstanden, die durch den Staat verursacht worden seien. Es sei der Amtsstatthalter und damit der Staat gewesen, der mit der Bestrafung in diesem Punkt Anlass zum Weiterzug an das Obergericht gegeben habe, zumal er den Sachverhalt bezüglich des Unfalls anerkannt habe (Beschwerde, S. 5 f.).
 
3.1.2 Entgegen der Vorinstanz sei eine Kostenausscheidung vorzunehmen, da kein einheitlicher Sachverhaltskomplex vorliege. Die beiden Tatvorwürfe stünden in keinem Zusammenhang und seien klar unterscheidbar. Wenn im Rechtsmittelverfahren nur noch ein Tatbestand (von ursprünglich mehreren) zu beurteilen sei, könnten die Kosten bei einem Freispruch nicht deshalb dem Beschwerdeführer überbunden werden, weil dieser Tatbestand Teil eines Sachverhaltskomplexes bilde. Es fehle mit anderen Worten eine Begründung, weshalb in diesem Fall keine Kostenausscheidung vorgenommen werde. Die Vorinstanz verletze deshalb auch den Anspruch auf rechtliches Gehör (Beschwerde, S. 6 f.).
 
3.1.3 Die angebliche Reduktion der Gerichtsgebühren, die ziffernmässig nicht ersichtlich sei, liege einzig darin begründet, dass das Amtsgericht selber nicht von seiner Kostenüberbindung überzeugt gewesen sei. Wenn ihm die Vorinstanz trotz Freispruchs einen Grossteil der Gerichts- sowie die Anwaltskosten überbinde, verletze sie die Unschuldsvermutung gemäss Art. 6 Ziff. 2 EMRK, weil hieraus ein indirekter Schuldvorwurf abzulesen sei (Beschwerde, S. 9 f.).
 
3.2 Die Vorinstanz verweist auf den grossen Ermessensspielraum bezüglich Kostenauflage. Grundsätzlich würden die Kosten nach Massgabe des Obsiegens bzw. Unterliegens auferlegt. Gemäss Praxis sei differenziert zu entscheiden, wenn klar voneinander trennbare Untersuchungs- oder Anklagepunkte vorlägen. Die hier in Frage stehende Streifkollision sowie die angebliche Meldepflichtverletzung stünden in unmittelbar sachrelevantem Zusammenhang. Es liege daher ein einheitlicher Sachverhaltskomplex vor, weshalb sich die Ermittlungen auf den Vorfall als Ganzes ausgerichtet hätten. Entsprechend seien bezüglich der angeblichen Meldepflichtverletzung keine zusätzlichen Mehrkosten entstanden, die nach dem Verursacherprinzip vom Staat zu tragen wären. Die erste Instanz habe dem Teilerfolg des Beschwerdeführers mit einer Reduktion der ordentlichen Gerichtsgebühr um die Hälfte hinreichend Rechnung getragen. Die Kostenbegründung enthalte weder einen direkten noch indirekten strafrechtlichen Schuldvorwurf (angefochtenes Urteil, S. 5 f.).
 
3.3 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts verstösst eine Kostenauflage bei Freispruch oder Einstellung des Verfahrens gegen den Grundsatz der Unschuldsvermutung (Art. 32 Abs. 1 BV, Art. 6 Ziff. 2 EMRK), wenn dem Angeschuldigten in der Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt vorgeworfen wird, er habe sich strafbar gemacht bzw. es treffe ihn ein strafrechtliches Verschulden. Wird eine Kostenauflage wegen Verletzung des Grundsatzes der Unschuldsvermutung angefochten, prüft das Bundesgericht frei, ob die Begründung des Kostenentscheids direkt oder indirekt den Vorwurf einer strafrechtlichen Schuld enthält. Die Voraussetzungen der Kostenauflage werden demgegenüber durch die kantonalen Strafprozessordnungen umschrieben. Deren Anwendung überprüft das Bundesgericht nur unter dem Gesichtspunkt einer Verletzung des Willkürverbots gemäss Art. 9 BV (Urteil 6B_143/2010 vom 22. Juni 2010 E. 2.1 mit Hinweis auf BGE 116 la 162 E. 2f).
 
3.4 Der erstinstanzlichen Kostenbegründung ist, wie die Vorinstanz zu Recht ausführt, weder ein direkter noch indirekter Vorwurf einer strafrechtlichen Schuld zu entnehmen. Auch das vorinstanzliche Urteil liefert keine diesbezüglichen Hinweise. Der Umstand der blossen Kostenüberbindung kann - entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers - für sich allein keinen indirekten Schuldvorwurf begründen. Eine Verletzung der Unschuldsvermutung liegt nicht vor.
 
3.5
 
3.5.1 Die Voraussetzungen der Kostenauflage sind in § 275 StPO/LU geregelt. Nach Abs. 1 dieser Bestimmung trägt die Verfahrenskosten, wer zu einer Strafe oder Massnahme verurteilt oder von einer gerichtlichen Verfügung betroffen wird. Nach Abs. 3 kann der Angeklagte unter anderem von den Kosten ganz oder teilweise befreit werden, wenn er nicht im vollen Umfang der Anschuldigung verurteilt wird und auch § 277 StPO/LU (Kostenauflage durch schuldhafte und erhebliche Verletzung von Rechtspflichten) nicht angewendet wird (Ziff. 1) oder wenn und soweit er die Kosten nicht veranlasst hat (Ziff. 2).
 
3.5.2 Die vorinstanzliche Begründung, die Untersuchungen hätten in direktem Konnex mit dem Unfallereignis gestanden, wobei aufgrund des einheitlichen Sachverhaltskomplexes keine trennbaren Untersuchungs- und Anklagepunkte vorgelegen hätten, ist nicht zu beanstanden. Den Verzicht auf eine Kostenausscheidung begründet die Vorinstanz entgegen dem Beschwerdeführer mit dem nachvollziehbaren Argument, dass durch den Vorwurf des pflichtwidrigen Verhaltens nach Verkehrsunfall keine Mehrkosten entstanden sind. Diese Praxis beanstandete das Bundesgericht in einem jüngeren, den Kanton Aargau betreffenden Fall nicht. Demnach ist bei einem einheitlichen Sachverhaltskomplex vom Grundsatz der vollständigen Kostenauflage nur abzuweichen, wenn die Strafuntersuchung im freisprechenden Punkt zu Mehrkosten geführt hat (Urteil 6B_766/2009 vom 8. Januar 2010). Es besteht keine Veranlassung, vorliegend anders zu entscheiden.
 
4.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen. Bei diesem Ausgang des Verfahrens trägt der Beschwerdeführer die Kosten (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Luzern, II. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 12. November 2010
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Favre Keller
 
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