BGer 1B_424/2010 | |||
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BGer 1B_424/2010 vom 13.01.2011 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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1B_424/2010
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Urteil vom 13. Januar 2011
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I. öffentlich-rechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
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Bundesrichter Reeb, Merkli,
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Gerichtsschreiber Störi.
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Verfahrensbeteiligte | |
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Rechtsanwältin Petra Oehmke,
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gegen
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Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich, Molkenstrasse 15/17, Postfach, 8026 Zürich.
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Gegenstand
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Haftentlassung,
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Beschwerde gegen die Verfügung vom 22. November 2010 des Bezirksgerichts Zürich, Haftrichter.
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Sachverhalt:
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A.
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Die Staatsanwaltschaft Zürich-Sihl verdächtigt X.________, am 13. November 2009, um ca. 19.30 Uhr, einen Raubüberfall auf das Hotel Y.________ in Zürich verübt zu haben. X.________ wurde bei diesem Vorfall vom Rezeptionisten Z.________ überwältigt und der Polizei übergeben. Der Haftrichter des Bezirksgerichts Zürich versetzte X.________ am 16. November 2009 in Untersuchungshaft.
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Am 15. November 2010 stellte X.________ ein Haftentlassungsgesuch, welches von der Haftrichterin des Bezirksgerichts Zürich am 22. November 2010 abgewiesen wurde.
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B.
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Mit Beschwerde in Strafsachen vom 23. Dezember 2010 beantragt X.________, ihn umgehend oder eventuell bis Ende Januar 2011 aus der Haft zu entlassen.
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Der Haftrichter verzichtet auf Vernehmlassung. Der Staatsanwalt beantragt, die Anträge von X.________ auf Haftentlassung abzuweisen.
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In seiner Stellungnahme hält X.________ an der Beschwerde fest.
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Erwägungen:
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1.
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Die Beschwerde in Strafsachen nach den Art. 78 ff. BGG ist gegeben. Der Antrag auf Aufhebung des angefochtenen Entscheids und Haftentlassung ist zulässig (BGE 132 I 21 E. 1). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde eingetreten werden kann.
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Das Haftprüfungsverfahren gegen den Beschwerdeführer wurde von der Haftrichterin im angefochtenen Entscheid nach der bis Ende 2010 in Kraft stehenden Strafprozessordnung des Kantons Zürich vom 4. Mai 1919 (aStPO/ZH) geführt. Am 1. Januar 2011 trat die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (SR 312.0; StPO) in Kraft (AS 2010 1881), welche die kantonalen Strafprozessordnungen ablöst. Nach der massgebenden Übergangsbestimmung Art. 453 Abs. 1 StPO beurteilt sich indessen die Beschwerde gegen den hier angefochtenen Haftentscheid nach bisherigem Recht.
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2.
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Untersuchungshaft konnte im Kanton Zürich (u.a.) angeordnet werden, wenn der Angeschuldigte eines Vergehens oder Verbrechens dringend verdächtig war und die Gefahr bestand, dass er in Freiheit versuchen würde, sich der weiteren Verfolgung durch Flucht zu entziehen (§ 58 aStPO/ZH). Lag ausser dem allgemeinen Haftgrund des dringenden Tatverdachts Fluchtgefahr vor, stand einer Inhaftierung auch unter dem Gesichtswinkel der persönlichen Freiheit von Art. 10 Abs. 2 BV grundsätzlich nichts entgegen. Dringender Tatverdacht auf einen Raub und Fluchtgefahr vermögen im Übrigen die Anordnung von Untersuchungshaft auch nach neuem Recht zu rechtfertigen (Art. 221 Abs. 1 StPO).
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2.1 Unbestritten ist in tatsächlicher Hinsicht, dass der Beschwerdeführer am 13. November 2009 mit einer Gasschusspistole bewaffnet den Rezeptionisten des Hotels Y.________ überfiel und, als dieser sich zur Wehr setzte, im Handgemenge aus nächster Nähe vier Reizgaspatronen auf ihn abfeuerte und ihm mehrere Faustschläge ins Gesicht versetzte. Auch wenn der damals mittellose und drogensüchtige Beschwerdeführer selber zum Tatablauf und zu seinen Beweggründen keine Aussagen macht, liegt es nahe, dass er mit dem Überfall versuchte, sich Mittel für sein weiteres Fortkommen bzw. Drogen zu beschaffen. Er ist damit jedenfalls dringend verdächtig, mit einer gefährlichen Waffe einen Raubversuch unternommen und damit ein schweres Verbrechen begangen zu haben, für welches Art. 140 Ziff. 2 StGB eine Strafdrohung zwischen einem und zehn Jahren Freiheitsstrafe vorsieht. Ob der Beschwerdeführer beim Überfall "seine besondere Gefährlichkeit" im Sinn von Art. 140 Ziff. 3 StGB offenbarte und er damit eine Verurteilung nach dieser weiter qualifizierten Strafbestimmung zu gewärtigen hat, deren unterer Strafrahmen bei zwei Jahren Freiheitsstrafe liegt, ist für die Beurteilung des vorliegenden Haftentlassungsgesuchs nicht entscheidend und kann daher offen bleiben.
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2.2 Nach der Rechtsprechung des Bundesgerichts genügt die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe für sich allein nicht für die Annahme von Fluchtgefahr. Eine solche darf nicht schon angenommen werden, wenn die Möglichkeit der Flucht in abstrakter Weise besteht. Vielmehr müssen konkrete Gründe dargetan werden, die eine Flucht nicht nur als möglich, sondern als wahrscheinlich erscheinen lassen. Die Höhe der zu erwartenden Freiheitsstrafe kann immer nur neben anderen, eine Flucht begünstigenden Tatsachen herangezogen werden (BGE 125 I 60 E. 3a; 117 Ia 69 E. 4a; 108 Ia 64 E. 3; 107 Ia 3 E. 6). Die Möglichkeit, dass die drohende Strafe bedingt ausgesprochen werden könnte, ist bei der Beurteilung der Untersuchungshaft auf ihre Verhältnismässigkeit hin grundsätzlich nicht zu berücksichtigen (BGE 133 I 270 E. 3.4.2; 125 I 60 E. 3d; 124 I 208 E. 6).
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Der Beschwerdeführer hat keinerlei beachtliche Bindungen zur Schweiz, er ist kurze Zeit vor dem Überfall eingereist und verfügt hier weder über einen Wohnort noch eine Arbeitsstelle noch familiäre oder andere gefestigte soziale Kontakte. Es ist daher ernsthaft zu befürchten, dass er sich nach einer Freilassung in sein Heimatland oder ein anderes europäisches Land - z.B. Deutschland, wo er sich nach seinem Vorstrafenregister auch schon aufgehalten hat - absetzen und so den ordnungsgemässen Gang des Strafverfahrens und den Vollzug einer allfälligen erheblichen Freiheitsstrafe zumindest erschweren könnte. Es ist daher nicht zu beanstanden, dass der Haftrichter Fluchtgefahr annahm.
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3.
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3.1 Nach Art. 5 Ziff. 3 EMRK und Art. 31 Abs. 3 Satz 2 BV darf eine an sich gerechtfertigte Untersuchungshaft die mutmassliche Dauer der zu erwartenden Freiheitsstrafe nicht übersteigen (BGE 105 Ia 26 E. 4b mit Hinweisen).
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3.1.1 Die Rüge, das Strafverfahren werde nicht mit der verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung geführt, ist im Haftprüfungsverfahren nur soweit zu beurteilen, als die Verfahrensverzögerung geeignet ist, die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage zu stellen und zu einer Haftentlassung zu führen. Dies ist nur der Fall, wenn sie besonders schwer wiegt und zudem die Strafverfolgungsbehörden, z.B. durch eine schleppende Ansetzung der Termine für die anstehenden Untersuchungshandlungen, erkennen lassen, dass sie nicht gewillt oder nicht in der Lage sind, das Verfahren nunmehr mit der für Haftfälle verfassungs- und konventionsrechtlich gebotenen Beschleunigung voranzutreiben und zum Abschluss zu bringen.
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3.1.2 Ist die gerügte Verzögerung des Verfahrens weniger gravierend, kann offen bleiben, ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes vorliegt. Es genügt diesfalls, die zuständige Behörde zur besonders beförderlichen Weiterführung des Verfahrens anzuhalten und die Haft gegebenenfalls allein unter der Bedingung der Einhaltung bestimmter Fristen zu bestätigen. Ob eine Verletzung des Beschleunigungsgebotes gegeben ist, kann in der Regel denn auch erst der Sachrichter unter der gebotenen Gesamtwürdigung (BGE 124 I 139 E. 2c) beurteilen, der auch darüber zu befinden hat, in welcher Weise - z.B. durch eine Strafreduktion - eine allfällige Verletzung des Beschleunigungsgebotes wieder gutzumachen ist (BGE 128 I 149 E. 2.2; Entscheid 1B_295/2007 vom 22. Januar 2008 E. 2.2.1).
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3.2 Das Strafverfahren gegen den Beschwerdeführer betrifft ein einzelnes, wenig komplexes Tatgeschehen. Die Sachbeweise konnten am Tatort sichergestellt werden, und der einzige Tatzeuge war von Anfang an bekannt und stand den Strafverfolgungsbehörden zur Verfügung. Insofern handelt es sich um eine relativ einfache Untersuchung. Sie wurde von der Staatsanwaltschaft eher zögerlich in Angriff genommen, hat sie doch beispielsweise den Beschwerdeführer nach einer ersten Hafteinvernahme am Tag nach der Tat erst am 11. Januar 2010, mithin fast zwei Monate später, erstmals zur Sache einvernommen. Objektiv zeitraubend war an sich nur die Erstellung der verschiedenen von der Staatsanwalt nach pflichtgemässem Ermessen eingeholten Gutachten. Hierzu ist festzustellen, dass das Waffengutachten und die Gutachten zum Alkohol- und Drogenkonsum des Beschwerdeführers vor der Tat im Januar 2010 und damit (gerade noch) innert vertretbarer Frist in Auftrag gegeben und auch erstattet (Waffengutachten am 11. Mai 2010, chemisch-toxikologisches Gutachten am 18. Januar 2010, Ergänzungsgutachten am 17. Februar und am 16. Juni 2010) wurden. Schwer nachvollziehbar ist hingegen, dass die Staatsanwaltschaft erst am 2. Juni 2010 und damit am Tag der Schlusseinvernahme ein psychiatrisches Gutachten in Auftrag gab. Sie begründete dieses Vorgehen mit der "feststehenden Alkoholisierung im Zeitpunkt der Tat" (Protokollnotiz der Schlusseinvernahme S. 7) und damit mit einem Umstand, der seit der Erstattung des entsprechenden Gutachtens am 2. Februar 2010, mithin seit vier Monaten, bekannt war. An der Schlusseinvernahme ergab sich diesbezüglich nichts Neues, und auch der Umstand, dass der Beschwerdeführer seit Jahren regelmässig Drogen (Heroin und Pervitin) konsumierte, war längst bekannt. Dr. Tur erstattete sein psychiatrisches Gutachten am 18. Oktober 2010; er hat damit seinen Auftrag vergleichsweise zügig erfüllt. Nicht zu beanstanden ist, dass die Staatsanwaltschaft ein zweites Gutachten in Auftrag gab, nachdem sie das erste als nicht schlüssig erachtete, auch wenn mit diesem erst zwischen März und Mai 2011 gerechnet werden kann.
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Zusammenfassend ergibt sich, dass die Staatsanwaltschaft das Verfahren eher schleppend führte und nicht mit der für einen Haftfall gebotenen Beschleunigung vorantrieb; das gilt insbesondere für die klarerweise verspätete Einholung des psychiatrischen Gutachtens. Allerdings sind die von der Staatsanwaltschaft zu vertretenden Verfahrensverzögerungen nicht derart schwerwiegend, dass sie die Rechtmässigkeit der Untersuchungshaft in Frage stellen könnten, und es gibt keine Hinweise dafür, dass sie nicht gewillt oder in der Lage wäre, das Verfahren nunmehr ohne weitere Verzögerungen zur Anklage zu bringen. Die abschliessende Beurteilung, ob die Staatsanwaltschaft das Beschleunigungsverbot verletzte und wie diese Verletzung zu sanktionieren wäre, ist daher dem Sachrichter zu überlassen.
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3.3 Der Beschwerdeführer befindet sich seit dem 13. November 2009 und damit seit rund 14 Monaten in Polizei- und Untersuchungshaft. Je nach Feststellung der konkreten Tatumstände (ging der Beschwerdeführer beim Handgemenge mit dem Rezeptionisten besonders rücksichtslos vor, wie ihm die Staatsanwaltschaft vorwirft, oder handelte er eher unbedarft als besonders gefährlich, wie die Verteidigerin annimmt) und deren rechtlicher Würdigung (Raub nach Art. 140 Ziff. 2 oder Ziff. 3 StGB) sowie der Berücksichtigung der persönlichen Umstände (war der Beschwerdeführer zufolge eines psychotischen Schubs ganz oder teilweise unzurechnungsfähig und hat er, was zufolge der lückenhaften ausländischen Vorstrafenregisterauszüge nicht eindeutig feststeht, einschlägige Vorstrafen), nähert sich die erstandene Untersuchungshaft langsam aber sicher der zu erwartenden Strafe, jedenfalls wenn der Beschwerdeführer bis zur erstinstanzlichen Hauptverhandlung in Haft bleiben soll. Um Überhaft zu vermeiden, muss diesfalls das Verfahren, wie bereits die Haftrichterin im angefochtenen Entscheid festhielt, mit besonderer Beförderung vorangetrieben werden.
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4.
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Die Beschwerde ist somit abzuweisen. Dementsprechend würde der Beschwerdeführer an sich kostenpflichtig (Art. 66 Abs. 1 BGG). Er hat indessen ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gestellt, welches gutzuheissen ist, da die Beschwerde nicht von vornherein aussichtslos war und die Mittellosigkeit des Beschwerdeführers ausgewiesen scheint (Art. 64 Abs. 1 und 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird gutgeheissen:
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2.1 Es werden keine Kosten erhoben.
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2.2 Rechtsanwältin Petra Oehmke wird für das bundesgerichtliche Verfahren als amtliche Verteidigerin eingesetzt und mit Fr. 1'500.-- aus der Kasse des Bundesgerichts entschädigt.
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3.
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Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft IV des Kantons Zürich und dem Bezirksgericht Zürich, Haftrichter, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 13. Januar 2011
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Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
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Fonjallaz Störi
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