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Informationen zum Dokument  BGer 1C_326/2010  Materielle Begründung
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BGer 1C_326/2010 vom 19.01.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1C_326/2010
 
Urteil vom 19. Januar 2011
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Reeb, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch Fürsprecher Gregor Marcolli,
 
gegen
 
Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern, Administrative Verkehrssicherheit,
 
Schermenweg 5, Postfach, 3001 Bern.
 
Gegenstand
 
Anordnung von Verkehrsunterricht,
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 2. Dezember 2009 der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 28. September 2008 überschritt X.________ mit seinem Personenwagen die Höchstgeschwindigkeit ausserorts von 80 km/h um 25 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge).
 
Deswegen verwarnte ihn das Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern (im Folgenden: Strassenverkehrsamt) mit Verfügung vom 19. November 2008.
 
Am 19. Februar 2009 überschritt X.________ in Aarwangen die Höchstgeschwindigkeit innerorts von 50 km/h um 16 km/h (nach Abzug der Sicherheitsmarge).
 
Wegen dieses Vorfalls entzog ihm das Strassenverkehrsamt mit Verfügung vom 8. Mai 2009 den Führerausweis für die Dauer von einem Monat. Überdies verpflichtete es ihn zum Besuch von einem Tag Verkehrsunterricht.
 
B.
 
Gegen die Anordnung von Verkehrsunterricht erhob X.________ Beschwerde bei der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern (im Folgenden: Rekurskommission). Am 2. Dezember 2009 wies diese die Beschwerde ab.
 
C.
 
X.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Antrag, der Entscheid der Rekurskommission und die Verfügung des Strassenverkehrsamtes, soweit ihn dieses zu Verkehrsunterricht verpflichtet hat, seien aufzuheben.
 
D.
 
Das Strassenverkehrsamt hat auf Gegenbemerkungen verzichtet.
 
Die Rekurskommission hat sich vernehmen lassen mit dem Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
 
Das Bundesamt für Strassen beantragt unter Hinweis auf den angefochtenen Entscheid und die Vernehmlassung der Rekurskommission die Abweisung der Beschwerde.
 
X.________ hat zur Vernehmlassung der Rekurskommission Stellung genommen. Er hält an der Beschwerde fest.
 
E.
 
Mit Verfügung vom 6. September 2010 hat der Präsident der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung der Beschwerde aufschiebende Wirkung zuerkannt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid betrifft eine Angelegenheit des öffentlichen Rechts. Die Beschwerde ist somit gemäss Art. 82 lit. a BGG zulässig.
 
Ein Ausnahmegrund nach Art. 83 BGG liegt nicht vor.
 
Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist nach Art. 86 Abs. 1 lit. d i.V.m. Abs. 2 BGG zulässig.
 
Der Beschwerdeführer hat vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen. Er ist durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt und hat ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung. Er ist daher gemäss Art. 89 Abs. 1 BGG zur Beschwerde befugt.
 
Der angefochtene Entscheid stellt einen gemäss Art. 90 BGG anfechtbaren Endentscheid dar.
 
Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
 
2.
 
2.1 Der Beschwerdeführer bringt vor, wie dem angefochtenen Entscheid (S. 5 lit. E) zu entnehmen sei, habe das Strassenverkehrsamt am 20. November 2009 eine Vernehmlassung eingereicht. Diese sei dem Beschwerdeführer nie zur Kenntnis gebracht worden. Folglich habe er sich dazu auch nicht äussern können. Damit habe die Vorinstanz seinen Anspruch auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV verletzt (Beschwerde S. 16 ff. Art. 12).
 
2.2 Der Anspruch einer Partei, im Rahmen eines Gerichtsverfahrens zu replizieren, bildet einen Teilgehalt des Anspruchs auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV. Im Anwendungsbereich von Art. 6 Ziff. 1 EMRK ist es den Gerichten nicht gestattet, einer Partei das Äusserungsrecht zu eingegangenen Stellungnahmen bzw. Vernehmlassungen der übrigen Verfahrensparteien, unteren Instanzen und weiteren Stellen abzuschneiden. Die Partei ist vom Gericht nicht nur über den Eingang dieser Eingaben zu orientieren. Sie muss ausserdem die Möglichkeit zur Replik haben. Unerheblich ist dabei, ob eine Eingabe neue Tatsachen oder Argumente enthält und ob sie das Gericht tatsächlich zu beeinflussen vermag. Es ist Sache der Parteien zu beurteilen, ob ein Dokument einen Kommentar erfordert. Art. 29 Abs. 2 BV gebietet, dass die Gerichte diese Grundsätze auch ausserhalb von Art. 6 Ziff. 1 EMRK beachten. Art. 29 Abs. 2 BV und Art. 6 Ziff. 1 EMRK kommt im Hinblick auf das Replikrecht in gerichtlichen Verfahren dieselbe Tragweite zu (BGE 133 I 98 E. 2.1 S. 99; 100 E. 4.3 ff. S. 102 ff.; je mit Hinweisen).
 
2.3 Das Strassenverkehrsamt hat am 20. November 2009 der Vorinstanz ihre vom gleichen Tag datierende Vernehmlassung zur Beschwerde eingereicht. Die Vorinstanz hat die Vernehmlassung dem Beschwerdeführer unstreitig nicht zur Kenntnis gebracht. Vielmehr hat sie am 2. Dezember 2009 und damit kurz nach Eingang der Vernehmlassung den angefochtenen Entscheid gefällt.
 
Im Lichte der angeführten Rechtsprechung liegt darin eine klare Verletzung des Anspruchs des Beschwerdeführers auf rechtliches Gehör nach Art. 29 Abs. 2 BV. Dazu, dem Beschwerdeführer die Vernehmlassung zur Kenntnis zu bringen und ihm damit die Möglichkeit zur Stellungnahme zu geben, hätte die Vorinstanz umso mehr Anlass gehabt, als die Verfügung des Strassenverkehrsamtes vom 8. Mai 2009 insbesondere in Bezug auf die Anordnung von Verkehrsunterricht sehr knapp begründet war und das Strassenverkehrsamt eine nähere Begründung erst mit der Vernehmlassung nachschob.
 
2.4 Die Vorinstanz verweist (Vernehmlassung S. 2) auf ihr Schreiben vom 9. Juni 2009 an den Anwalt des Beschwerdeführers.
 
Darin bestätigte sie diesem den Eingang der Beschwerde und teilte mit, sie habe diese zur Vernehmlassung an das Strassenverkehrsamt weitergeleitet. Dem fügte sie hinzu: "Sobald uns diese (gemeint: die Vernehmlassung) vorliegt, wird ihre Beschwerde an einer der nächsten Sitzungen der Rekurskommission behandelt werden."
 
Daraus musste der Beschwerdeführer nicht schliessen, dass ihm die Vorinstanz die Vernehmlassung nicht einmal zur Kenntnis bringen und ihm damit die Möglichkeit, sich dazu zu äussern, von vornherein abschneiden werde. Vielmehr durfte der Beschwerdeführer annehmen, dass der Vorinstanz die (E. 2.2) angeführte Rechtsprechung bekannt war und sie ihm damit die Vernehmlassung ohne Weiteres zustellen werde. Zur Annahme, dass die Vorinstanz ohne Zustellung der Vernehmlassung kurz nach deren Eingang entscheiden werde, hatte der Beschwerdeführer umso weniger Anlass, als nach Art. 8 Abs. 1 des Geschäftsreglements der Rekurskommission diese tagt, sooft es der Geschäftsgang erfordert, in der Regel einmal im Monat. Wenn ihm die Vorinstanz mitteilte, über die Beschwerde werde nach Eingang der Vernehmlassung "an einer der nächsten Sitzungen" entschieden, hätte es bis zum Entscheid der Vorinstanz somit - ausgehend vom Regelfall von einer Sitzung monatlich - gegebenenfalls noch mehrere Monate dauern können. Der Beschwerdeführer durfte daher damit rechnen, nach Kenntnisnahme der Vernehmlassung für allfällige Bemerkungen dazu noch hinreichend Zeit zu haben. Grund zur unverzüglichen Intervention bei der Vorinstanz hätte der Beschwerdeführer im Hinblick auf sein Äusserungsrecht allenfalls dann gehabt, wenn ihm diese im Schreiben vom 9. Juni 2009 klar mitgeteilt hätte, sie werde gleich nach Eingang der Vernehmlassung entscheiden, ohne ihm diese vorher zuzustellen. So verhält es sich jedoch nicht.
 
2.5 Die Beschwerde ist danach im vorliegenden Punkt begründet.
 
Die Heilung der Verletzung des Anspruchs auf rechtliches Gehör im bundesgerichtlichen Verfahren kommt schon deshalb nicht in Betracht, weil die Kognition des Bundesgerichts enger ist als jene der Vorinstanz (vgl. BGE 126 I 68 E. 2 S. 72 mit Hinweisen). Gemäss Art. 86 i.V.m. Art. 66 des Gesetzes vom 23. Mai 1989 des Kantons Bern über die Verwaltungsrechtspflege (VRPG; BSG 155.21) kann mit Beschwerde vor Vorinstanz die unrichtige oder unvollständige Feststellung des Sachverhalts gerügt werden (lit. a); ebenso die Unangemessenheit (lit. c; vgl. THOMAS MERKLI UND ANDERE, Kommentar zum Gesetz über die Verwaltungsrechtspflege des Kantons Bern, 1997, N. 1 zu Art. 85 und N. 2 zu Art. 86 VRPG). Das Bundesgericht prüft demgegenüber den Sachverhalt nur auf Willkür hin (Art. 97 BGG) und eine Kontrolle der Angemessenheit steht ihm nicht zu (Urteil 8C_664/2007 vom 14. April 2008 E. 8.1 mit Hinweisen; HANSJÖRG SEILER, in: Kommentar zum Bundesgerichtsgesetz, 2007, N. 49 zu Art. 95 BGG mit Hinweisen). Letzteres ist hier wesentlich, weil es sich bei Art. 40 Abs. 3 der Verordnung vom 27. Oktober 1996 über die Zulassung von Personen und Fahrzeugen zum Strassenverkehr (VZV; SR 741.51), der die Anordnung von Verkehrsunterricht regelt, um eine "Kann-Bestimmung" handelt.
 
2.6 Die Sache ist in Gutheissung der Beschwerde an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit sie dem Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme zur Vernehmlassung des Strassenverkehrsamtes vom 20. November 2009 gebe und alsdann neu entscheide.
 
Bei diesem Ergebnis erübrigt sich die Behandlung der weiteren in der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten erhobenen Rügen.
 
3.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Kanton hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern vom 2. Dezember 2009 aufgehoben und die Sache an diese zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Bern hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Strassenverkehrs- und Schifffahrtsamt des Kantons Bern, der Rekurskommission des Kantons Bern für Massnahmen gegenüber Fahrzeugführern und dem Bundesamt für Strassen schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 19. Januar 2011
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Fonjallaz Härri
 
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