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Informationen zum Dokument  BGer 1B_396/2010  Materielle Begründung
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BGer 1B_396/2010 vom 03.02.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_396/2010
 
Urteil vom 3. Februar 2011
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Raselli, Merkli,
 
Gerichtsschreiber Störi.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer, vertreten durch
 
Advokat Dr. Andreas Noll,
 
gegen
 
Straf- und Jugendgericht des Kantons
 
Basel-Landschaft, Präsidentin, Poststrasse 3,
 
4410 Liestal.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung,
 
Beschwerde gegen den Beschluss vom 28. September 2010 des Kantonsgerichts Basel-Landschaft,
 
Abteilung Zivil- und Strafrecht.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Das Bezirksstatthalteramt Liestal verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 8. Juli 2009 wegen Betrugs, Widerhandlung gegen das Waffengesetz sowie unlauteren Wettbewerbs zu einer bedingten Geldstrafe von 180 Tagessätzen à 30 Franken und einer Busse von 2'000 Franken. Es verurteilte ihn zudem, der Firma A.________ 7'336.40 Franken und Dr. B.________ 2'241.65 Franken zu bezahlen. Die Forderungen der Firma A.________ von 3'053.20 Franken und der C.________ AG von 10'000 Franken zuzüglich 5 % Zins seit dem 1. Mai 2007 verwies es auf den Zivilweg. Die Forderungen der Firma A.________ über 1'849 Franken, der C.________ AG über 11'694.15 Franken sowie die den zugesprochenen Betrag übersteigende Forderung von Dr. B.________ wies es ab. Die Forderung des Rechtsvertreters von X.________, Rechtsanwalt Andreas Noll, auf Zusprechung einer Parteientschädigung von 6'049.60 Franken verwies es auf den Zivilweg.
 
X.________ erhob gegen diesen Strafbefehl am 20. Juli 2009 Einsprache. Am 11. Mai 2010 ersuchte er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung. Am 15. Juni 2010 wies die Präsidentin des Strafgerichts dieses Gesuch ab, im Wesentlichen mit der Begründung, X.________ drohe keine unbedingte Freiheitsstrafe von über 18 Monaten und der Sachverhalt sei nicht besonders kompliziert.
 
X.________ erhob gegen diese Verfügung Beschwerde ans Kantonsgericht mit den Anträgen, sie aufzuheben und ihm die Offizialverteidigung für das gerichtliche Verfahren zu bewilligen. Er machte im Wesentlichen geltend, bei den adhäsionsweise geltend gemachten Zivilforderungen gehe es um sehr komplexe zivilrechtliche Fragestellungen.
 
Das Kantonsgericht wies die Beschwerde am 28. September 2010 ab.
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen beantragt X.________, die Entscheide der Strafgerichtspräsidentin und des Kantonsgerichts aufzuheben und ihm unentgeltliche Rechtspflege zu gewähren. Eventuell sei die Sache an die Strafgerichtspräsidentin, subeventuell ans Kantonsgericht zurückzuweisen. Ausserdem ersucht er um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung für das bundesgerichtliche Verfahren.
 
C.
 
Die Strafgerichtspräsidentin und das Kantonsgericht verzichten auf Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Der angefochtene Entscheid über die Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung im Verfahren vor dem Strafgericht schliesst das Verfahren gegen den Beschwerdeführer nicht ab. Es handelt sich um einen selbstständig eröffneten Zwischenentscheid, gegen den die Beschwerde in Strafsachen zulässig ist, wenn er einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann (Art. 78 ff., Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG). Das ist nach der Rechtsprechung bei der Verweigerung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung regelmässig der Fall (BGE 133 IV 335 E. 4; 129 I 129 E. 1.1). Vorliegend beansprucht der Beschwerdeführer die unentgeltliche Verbeiständung vorab zur Abwehr der adhäsionsweise geltend gemachten zivilrechtlichen Forderungsklagen. Da die unsachgemässe Führung von Zivilverfahren den Verlust berechtigter bzw. die Anerkennung unberechtigter Forderungen nach sich ziehen kann, ist die Voraussetzung des nicht wieder gutzumachenden Nachteils im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG ohne Weiteres erfüllt. Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass, sodass auf die Beschwerde einzutreten ist.
 
2.
 
2.1 Nach Art. 29 Abs. 3 BV hat die bedürftige Partei unabhängig vom kantonalen Verfahrensrecht Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint. Soweit es zur Wahrung ihrer Rechte notwendig ist, hat sie zudem Anspruch auf einen unentgeltlichen Rechtsbeistand. Nach der langjährigen, bereits unter der alten Bundesverfassung entwickelten Rechtsprechung besteht dieser Anspruch unabhängig von der Rechtsnatur der Entscheidungsgrundlagen bzw. des in Frage stehenden Verfahrens für jedes staatliche Verfahren, in welches der Gesuchsteller einbezogen wird, oder dessen er zur Wahrung seiner Rechte bedarf (BGE 128 I 225 E. 2.3; 121 I 60 E. 2a/bb; 119 Ia 264 E. 3a; vgl. auch BGE 130 I 269 E. 2.3).
 
2.2 Das Kantonsgericht hat im angefochtenen Entscheid (E. 4 S. 5 ff.) erwogen, die §§ 18 und 19 der basel-landschaftlichen Strafprozessordnung vom 3. Juni 1999 (StPO/BL) gewährten dem Angeschuldigten unter keinen Umständen über die notwendige Verteidigung hinaus unentgeltliche Rechtspflege. Es hat damit die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für die Abwehr von im Strafverfahren adhäsionsweise geltend gemachten Zivilklagen prinzipiell ausgeschlossen. Das ist nach der dargestellten Rechtsprechung des Bundesgerichts zu Art. 29 Abs. 3 BV (oben E. 2.1) offenkundig verfassungswidrig. Dass für die adhäsionsweise Beurteilung der Zivilforderungen nach § 43 Abs. 2 StPO/BL die richterliche Fragepflicht besteht, ändert daran nichts. Die Partei trifft trotzdem eine Mitwirkungspflicht (§ 43 Abs. 1 StPO/BL), weshalb nicht von vornherein ausgeschlossen werden kann, dass sie zur Wahrung ihrer Rechte auf anwaltliche Unterstützung angewiesen ist. Allerdings erleichtert die Offizialmaxime die Verfahrensführung, sodass an die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung für die Abwehr von Adhäsionsklagen ein strengerer Massstab angelegt werden kann, als wenn sich der Beklagte gegen derartige Ansprüchen in einem (reinen) Zivilprozess zur Wehr setzen müsste (BGE 122 I 8 E. 2c S. 10; 129 III 242 nicht publ. E. 6.2).
 
2.3 Das Kantonsgericht hat somit Art. 29 Abs. 3 BV verletzt, indem es das Gesuch des Beschwerdeführers um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung bereits aus prinzipiellen Erwägungen ausschloss. Es erwähnt zwar beiläufig (E. 4.3 S. 7), in Bezug auf die im Strafbefehl beurteilten Zivilforderungen sei die vom Beschwerdeführer geltend gemachte Komplexität zu verneinen. Es bleibt für diese Einschätzung indessen jede Begründung schuldig, sodass völlig offen ist, ob die Voraussetzungen für die Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege und Verbeiständung in concreto erfüllt sind oder nicht. Die Sache ist daher zur materiellen Beurteilung des Gesuchs an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
2.4 Ist somit der angefochtene Entscheid im Ergebnis verfassungswidrig, kann offen bleiben, ob er auf einer willkürfreien Auslegung der kantonalen Strafprozessordnung beruht. An der Klärung dieser Frage besteht offensichtlich kein Interesse mehr, da diese von der am 1. Januar 2011 in Kraft getretenen (AS 2010 1881) Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007 (SR 312.0; StPO) abgelöst wurde und das Verfahren nach der Rückweisung nach neuem Recht fortzuführen sein wird (Art. 448 Abs. 1, Art. 453 Abs. 2 StPO).
 
3.
 
Die Beschwerde ist somit gutzuheissen und die Sache an das Kantonsgericht zurückzuweisen, welches als neurechtliche Beschwerdeinstanz (§ 15 Abs. 2 des Einführungsgesetzes des Kantons Basel-Landschaft zur Schweizerischen Strafprozessordnung vom 12. März 2009; EG StPO) im Sinn von Art. 20 StPO wohl weiterhin zur Beurteilung von Beschwerden gegen die Ablehnung von Gesuchen um unentgeltliche Rechtspflege durch das erstinstanzliche Gericht - dem Strafgericht (§ 14 EG StPO) - zuständig sein wird. Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 4 BGG). Hingegen hat der Kanton Basel-Landschaft dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG); damit wird sein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen, der angefochtene Entscheid des Kantonsgerichts vom 28. September 2010 aufgehoben und die Sache an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2.
 
Es werden keine Kosten erhoben.
 
3.
 
Der Kanton Basel-Landschaft hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, dem Straf- und Jugendgericht des Kantons Basel-Landschaft und dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Zivil- und Strafrecht, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 3. Februar 2011
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Der Gerichtsschreiber:
 
Fonjallaz Störi
 
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