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Informationen zum Dokument  BGer 9C_284/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_284/2011 vom 17.05.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_284/2011
 
Urteil vom 17. Mai 2011
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichter Kernen, Bundesrichterin Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Keel Baumann.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
B.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dieter Studer,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Pensionskasse Thurgau,
 
Hauptstrasse 45, 8280 Kreuzlingen,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Berufliche Vorsorge,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
 
vom 23. Februar 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der am 27. Juli 1947 geborene B.________ arbeitete von August 1991 bis Juli 2002 am Seminar X._________ und war damit bei der Pensionskasse des Thurgauischen Staatspersonals (SPK) versichert (welche mit Wirkung auf den 1. Januar 2006 mit der Thurgauischen Lehrerpensionskasse [LPK] zur Pensionskasse Thurgau [PKTG] fusioniert hat). Von dem am Austrittsdatum vorhandenen Sparguthaben (Fr. 541'006.50) machte er für den Betrag von Fr. 300'000.- zufolge Aufnahme einer selbständigen Erwerbstätigkeit Barauszahlung geltend; den Rest liess er auf ein Konto einer Freizügigkeitsstiftung überweisen.
 
Von August 2007 bis Juli 2009 arbeitete B.________ an der Schule Y.________ und war bei der Rechtsnachfolgerin der SPK, der PKTG, versichert. Bei seinem Eintritt brachte er eine Freizügigkeitsleistung von Fr. 391'576.30 ein; des Weitern tätigte er freiwillige Einlagen. Mit Wirkung auf den 1. August 2009 liess er sich frühpensionieren (jährliche Altersrente von Fr. 34'668.60, entsprechend einem Sparguthaben von Fr. 525'278.90). Die von ihm bezogene Rente wurde zufolge Entstehung des Anspruchs auf eine Zusatzrente mit Vollendung des 63. Altersjahres, d.h. für die Zeit ab 1. August 2010, neu festgesetzt, indem zum bisherigen jährlichen Anspruch auf eine Altersrente (Fr. 34'668.60) eine wegen eines durchschnittlichen Beschäftigungsgrades von 46,62 % und einer Beitragszeit von zwei Jahren gekürzte Zusatzrente (Fr. 2'551.20) trat (Mitteilung der Pensionskasse vom 10. August 2010). Die von B.________ dagegen erhobene Einsprache hiess die Pensionskasse mit Entscheid vom 13. Oktober 2010 teilweise gut; sie beauftragte die Pensionskassenverwaltung mit der Neuberechnung der Zusatzrente aufgrund eines Beschäftigungsgrades von 61,16 % (statt 46,62 %) bei einer unveränderten Beitragszeit von zwei Jahren.
 
B.
 
Am 8. November 2010 liess B.________ Klage erheben und beantragen, die Pensionskasse sei zu verpflichten, ihm eine ungekürzte (d.h. einer Beitragszeit von mindestens zehn Jahren entsprechende) Zusatzrente auszurichten. Mit Entscheid vom 23. Februar 2011 wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau die Klage ab; es wurden keine Gerichtskosten erhoben und keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt B.________ das Rechtsbegehren stellen, es sei der kantonale Entscheid aufzuheben und ihm eine ungekürzte Zusatzrente auszurichten; die Vorinstanz sei anzuweisen, die Entschädigungsfolgen für das kantonale Verfahren neu zu regeln.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Gemäss § 38 des Reglements der PKTG 2006 (nachfolgend: Reglement PKTG) wird dem Bezüger oder der Bezügerin einer Altersrente bis zum Erreichen des ordentlichen AHV-Rentenalters eine Zusatzrente in der Höhe der maximalen AHV-Altersrente ausbezahlt, sofern und solange keine Renten der IV ausgerichtet werden (Abs. 1). Bei Teilzeitbeschäftigten wird die Zusatzrente entsprechend dem durchschnittlichen Beschäftigungsgrad in den drei dem frühesten Pensionierungstermin gemäss § 34 Absatz 1 vorausgehenden Jahren berechnet. Bei Teilpensionierten entspricht die Zusatzrente anteilsmässig der Reduktion der Besoldung (Abs. 2). Hat das Versicherungsverhältnis weniger als 10 Jahre gedauert, wird die Zusatzrente für jeden vollen fehlenden Monat um 1/120 gekürzt (Abs. 3).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob dem Beschwerdeführer hinsichtlich des Anspruchs auf eine Zusatzrente nicht nur die bei der PKTG zurückgelegte Versicherungszeit (August 2007 bis Juli 2009), sondern auch diejenige bei der SPK (August 1991 bis Juli 2002) anzurechnen ist, so dass das Versicherungsverhältnis insgesamt mehr als zehn Jahre gedauert hätte und der Beschwerdeführer keine Kürzung wegen eines unter zehnjährigen Versicherungsverhältnisses im Sinne von § 38 Abs. 3 Reglement PKTG zu gewärtigen hätte.
 
Die Vorinstanz hat dies verneint unter Hinweis auf Wortlaut, systematische Stellung sowie Sinn und Zweck der Bestimmung des § 38 Abs. 3 Reglement PKTG. Der Beschwerdeführer macht - wie bereits im kantonalen Verfahren - geltend, das Versicherungsverhältnis sei mit seiner Rückkehr an die Schule Y.________ im August 2007 wieder aufgelebt. Der Wortlaut verlange kein "ununterbrochenes" oder "nahtloses" Versicherungsverhältnis. Eine Zusammenrechnung der Versicherungszeiten sei auch von Sinn und Zweck der Bestimmung her angezeigt. Es sei nicht ersichtlich, warum er schlechter gestellt werden solle als ein Versicherter, welcher genau gleich lange Risikobeiträge geleistet habe, aber ununterbrochen bei der Beschwerdegegnerin versichert gewesen sei.
 
3.
 
3.1 Da es sich bei der PKTG um eine öffentlich-rechtliche Vorsorgeeinrichtung handelt (§ 2 Reglement PKTG), hat die Auslegung der einschlägigen Bestimmungen - anders als die Auslegung der Vorsorgereglemente privatrechtlicher Versicherungsträger - nach den gewöhnlichen Regeln der Gesetzesauslegung zu erfolgen. Danach ist in erster Linie der Wortlaut der Norm massgebend. Lässt dieser verschiedene Deutungen zu, muss nach seiner wahren Tragweite gesucht werden unter Berücksichtigung aller Auslegungselemente, namentlich des Zweckes, des - auch kontextbezogen zu ermittelnden - Sinnes und der dem Text zu Grunde liegenden Wertung (BGE 134 V 208 E. 2.2 S. 211; 133 V 314 E. 4. 1 S. 316, je mit Hinweisen).
 
3.2 Nach dem Wortlaut der Bestimmung des § 38 Abs. 3 Reglement PKTG wird die Zusatzrente bei unter zehnjähriger Dauer des Versicherungsverhältnisses gekürzt. Dem der Versicherungsdauer gewidmeten Abschnitt III des Reglements lässt sich entnehmen, dass das Versicherungsverhältnis mit dem Antritt des Arbeitsverhältnisses der versicherten Person beziehungsweise ihrer Aufnahme in die PKTG beginnt (§ 7 Reglement PKTG) und - vorbehältlich der in § 10 Abs. 2 Reglement PKTG geregelten, hier nicht weiter interessierenden Nachdeckungsfrist - mit der Auflösung des Arbeitsverhältnisses beziehungsweise mit der Auflösung des Vertrags mit der Pensionskasse endet, sofern dabei kein Rentenanspruch entsteht (§ 10 Abs. 1 Reglement PKTG). Eine identische Regelung fand sich im Reglement vom 6. Dezember 1994 der Pensionskasse des Thurgauischen Staatspersonals (§§ 8 und 11 Abs. 1 Reglement SPK). Diese Bestimmungen, welche die Versicherungsdauer von der Dauer des Arbeitsverhältnisses abhängig machen, legen den Schluss nahe, dass angesichts des Vorliegens von zwei verschiedenen Arbeitsverhältnissen auch von zwei Versicherungsverhältnissen auszugehen ist oder mit anderen Worten der Wiedereintritt wie ein Neueintritt behandelt wird.
 
3.2.1 Im Reglement wurde davon abgesehen, die Anrechnung früherer Versicherungszeiten bei Wiedereinritt zu statuieren, wie dies in den gesetzlichen oder statutarischen Bestimmungen anderer Vorsorgeeinrichtungen mitunter der Fall ist (z.B. Art. 71 Abs. 3 der nicht mehr in Kraft stehenden Verordnung vom 24. August 1994 über die Pensionskasse des Bundes [PKB-Statuten; AS 1995 S. 533 ff.]: bei bis 31. Dezember 1999 erfolgtem Wiedereintritt von Mitgliedern, die ihre Erwerbstätigkeit vor dem 1. Januar 1995 aufgegeben und auf die Ausrichtung ihrer Austrittsleistung verzichtet hatten; Art. 9 der Statuten vom 23. Mai 1991 der Pensionskasse der Stadt Olten: bei Wiedereintritt innerhalb von zwei Jahren).
 
3.2.2 In der Rechtsprechung wurde bei einem Unterbruch von 22 Monaten ein neues Arbeits- und Vorsorgeverhältnis angenommen mit der Folge, dass die beiden Dienstperioden nicht zusammenzurechnen waren und der Versicherte keine Beitragsdauer von mindestens fünf Jahren erreichte, die nach den reglementarischen Bestimmungen für den Anspruch auf einen Freizügigkeitszuschlag zur Austrittsleistung erforderlich war (Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 20/90 vom 25. Februar 1991 E. 3). Anders entschied das Eidg. Versicherungsgericht in dem in BGE 115 V 111 veröffentlichten Urteil, in welchem der Arbeitsunterbruch nur gerade zwei Monate dauerte, beim Wiedereintritt kein neuer Arbeitsvertrag abgeschlossen worden war, für die offizielle Feier des Dienstjubiläums eine Zusammenrechnung stattfand und vor dem Arbeitsunterbruch keine Austrittsabrechnung erstellt, sondern das Konto weitergeführt wurde (BGE 115 V 111 E. 3d/cc S. 114).
 
3.3 Aus der systematischen Stellung des § 38 Abs. 3 Reglement PKTG lässt sich nichts ableiten. Entgegen dem angefochtenen Entscheid bedeutet der Umstand, dass der vorangehende Absatz (§ 38 Abs. 2 Reglement PKTG) bei Teilzeitbeschäftigten auf den durchschnittlichen Beschäftigungsgrad in den drei dem frühesten Pensionierungstermin gemäss § 34 Abs. 1 Reglement PKTG vorausgehenden Jahren berechnet wird, nicht zwingend, dass auch hinsichtlich der Versicherungsdauer nur die unmittelbar vor dem Pensionierungstermin liegenden Jahre anzurechnen sind. Sodann bezieht sich die Bestimmung des § 71 Reglement PKTG, wonach die Versicherungszeit in der früheren SPK oder der früheren LPK als solche bei der PKTG gilt, auf die Personen, welche am 31. Dezember 2005 noch bei der SPK oder bei der LPK versichert waren, d.h. unmittelbar vor der Fusion am 1. Januar 2006. Der vorliegende Sachverhalt wird von dieser Übergangsbestimmung nicht erfasst.
 
3.4 Zu keinem anderen Ergebnis zu führen vermag sodann der Sinn und Zweck der Bestimmung des § 38 Abs. 3 Reglement PKTG, die finanziellen Folgen der Frühpensionierung abzufedern und auf diese Weise treue Vorsorgenehmer zu belohnen. Wohl liesse sich ebenso rechtfertigen, auch die mit Unterbrüchen treuen Versicherten in den Genuss von Leistungen kommen zu lassen. Entgegen den Vorbringen des Beschwerdeführers ist die unterschiedliche Behandlung der beiden Versichertenkategorien indessen weder gesetzes- noch verfassungswidrig. Vielmehr trägt sie dem sachlichen Umstand Rechnung, dass mit der Ausrichtung der Freizügigkeitsleistung bei Austritt aus der Vorsorgeeinrichtung vor Eintritt eines Versicherungsfalles sämtliche Ansprüche abgegolten sind und das Versicherungsverhältnis keine Nachwirkungen zeitigt (vgl. dazu E. 3.5 nachstehend).
 
3.5 Soweit der Beschwerdeführer einwendet, er habe zur Finanzierung der Zusatzrente, welche gemäss § 16 Abs. 5 Reglement PKTG durch Risikobeiträge erfolgt, beigetragen, übersieht er, dass er mit dem Austritt aus der SPK Anspruch auf eine Freizügigkeitsleistung gemäss Art. 15 FZG hatte, für welche allein das Sparguthaben massgebend war (§ 53 Abs. 1 Reglement SPK). Nachdem während des Vorsorgeverhältnisses keines der versicherten Risiken eingetreten war, verfielen die Beiträge, die der Deckung der versicherten Risiken dienten (vgl. Jürg Brühwiler, Die betriebliche Personalvorsorge in der Schweiz, 1989, S. 204 Fn. 10). Die Finanzierung der Risikoleistungen beruht nicht auf einem individuellen Gleichgewicht (Äquivalenz) zwischen den Beiträgen, die vom einzelnen Versicherten geleistet werden, und den Leistungen, die ihm zustehen (vgl. dazu Carl Helbling, Personalvorsorge und BVG, 8. Aufl. 2006, S. 216). Die Risikoleistungen bemessen sich deshalb nicht nach der Höhe der Beiträge, die im Zeitpunkt des Eintritts des versicherten Risikos geleistet wurden (für die Zusatzrente: § 38 Abs. 1 Reglement PKTG; für die Invalidenrente: § 40 Abs. 1 Reglement PKTG; vgl. auch Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 35/03 vom 17. Februar 2004 E. 3.3.6 am Ende). Entscheidend für die Finanzierung der Risikoleistungen ist der Grundsatz der kollektiven Äquivalenz, wonach innerhalb der Vorsorgeeinrichtung als Ganzes und damit für die Gemeinschaft aller Versicherten ein Gleichgewicht zwischen (Risiko-)Beiträgen und Leistungen gewährleistet sein muss (vgl. Helbling, a.a.O., S. 216 f.; Brühwiler, a.a.O., S. 204; Urteil des Eidg. Versicherungsgerichts B 35/03 vom 17. Februar 2004 E. 3.3.6). Dementsprechend werden die Risikobeiträge nicht zu einem Kapital geäufnet, sondern direkt für die Bildung des versicherungstechnisch notwendigen Vorsorgekapitals für die neuen Todes- und Invaliditätsfälle verwendet (Martin Baltiswiler, Finanzielle Sicherheit von Vorsorgeeinrichtungen, in: Finanzielle Sicherheit, Rechnungslegung und Governance für Pensionskassen, Baltiswiler/Plattner [Hrsg.], 2009, S. 14).
 
3.6 Diese Überlegungen führen übereinstimmend dazu, dass die Versicherungszeit, die der Beschwerdeführer bei der SPK zurückgelegt hat, im Rahmen der Anspruchsberechtigung auf eine Zusatzrente gemäss § 38 Abs. 3 Reglement PKTG keine Berücksichtigung findet. Demzufolge ist die Kürzung der Zusatzrente auf 24/120 - entsprechend einer 24-monatigen, von August 2007 bis Juli 2009 währenden Versicherungsdauer bei der PKTG - rechtens.
 
4.
 
Bei diesem Verfahrensausgang sind die Gerichtskosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 17. Mai 2011
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Die Gerichtsschreiberin:
 
Meyer Keel Baumann
 
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