BGer 6B_295/2011 | |||
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BGer 6B_295/2011 vom 26.08.2011 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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6B_295/2011
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Urteil vom 26. August 2011
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Strafrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Mathys, Präsident,
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Bundesrichter Schneider, Denys,
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Gerichtsschreiberin Pasquini.
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Verfahrensbeteiligte | |
X.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Patrick Ruppen,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Polizeigericht Visp, St. Martiniplatz 1, 3930 Visp,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Unzutreffende Rechtsmittelbelehrung,
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Beschwerde gegen die Verfügung des Kantonsgerichts des Kantons Wallis, Richter der Strafkammer, vom 17. März 2011.
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Sachverhalt:
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A.
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Die Gemeindepolizei Visp büsste X.________ mit Strafverbal vom 6. Oktober 2010 mit Fr. 150.--. Er hatte auf dem Bahnhofplatz in Visp die öffentliche Ruhe und Ordnung gestört und leistete den Anweisungen der Polizei keine Folge. Im Zeitpunkt der ihm vorgeworfenen Tat hatte er das 18. Altersjahr noch nicht vollendet. Unterdessen ist er volljährig.
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Die von X.________ gegen das Strafverbal erhobene Einsprache wies das Polizeigericht Visp mit Entscheid vom 2. Februar 2011 ab. Dieser wurde X.________ am 10. Februar 2011 zugestellt.
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B.
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Das Kantonsgericht Wallis trat mit Verfügung vom 17. März 2011 insbesondere zufolge Verspätung nicht auf die Beschwerde von X.________ ein.
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C.
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X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Er beantragt, die Verfügung des Kantonsgerichts Wallis sei aufzuheben, und die Sache sei an die Vorinstanz zurückzuweisen. Sie sei zu verpflichten, auf seine Beschwerde vom 14. März 2011 einzutreten. Eventualiter habe sie ihm eine Frist zur Einreichung der Berufungsbegründung anzusetzen, unter Kosten- und Entschädigungsfolgen.
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D.
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Das Kantonsgericht Wallis hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Das Polizeigericht Visp liess sich innert Frist nicht vernehmen.
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Erwägungen:
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1.
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Der Beschwerdeführer macht geltend, die Vorinstanz verstosse gegen das Willkürverbot und verletze den Grundsatz von Treu und Glauben (Art. 9 BV), indem sie auf seine Beschwerde gegen den erstinstanzlichen Entscheid nicht eingetreten sei.
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1.1 Die Vorinstanz erwägt, die Beschwerde sei ein subsidiäres Rechtsmittel und habe grundsätzlich keine materiellen Endentscheide zum Gegenstand. Mit dem angefochtenen Einspracheentscheid sei das inkriminierte Verhalten des Beschwerdeführers materiell beurteilt und das Verfahren vor der ersten Instanz abgeschlossen worden. Die Beschwerde sei somit nicht das zulässige Rechtsmittel dagegen. Zudem betrage die Beschwerdefrist nicht dreissig, sondern lediglich zehn Tage. Die Anfechtung des nach Angaben des Beschwerdeführers am 9. Februar 2011 [recte: 10. Februar 2011] zugestellten Entscheids sei mit der Postaufgabe der Beschwerde am 14. März 2011 deshalb nicht innert Frist erfolgt. Der anwaltlich vertretene Beschwerdeführer habe sich nicht auf die falsche Rechtsmittelbelehrung im angefochtenen Entscheid verlassen dürfen, da deren Unrichtigkeit bei Konsultierung des massgebenden Gesetzestextes hätte bemerkt werden können (angefochtener Entscheid S. 2 f.).
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1.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, der erstinstanzliche Entscheid sei mit einer unzutreffenden Rechtsmittelbelehrung versehen und ausschliesslich ihm eröffnet worden, obwohl der ersten Instanz seine anwaltliche Vertretung bekannt gewesen sei. Sein Rechtsanwalt habe vom Entscheid erst Kenntnis erlangt, nachdem die zehntägige Rechtsmittelfrist abgelaufen sei. Ausserdem könne von einem allgemein praktizierenden Anwalt einen Monat nach Inkrafttreten eines vollständig neuen Verfahrensrechts nicht erwartet werden, dass er sich damit bereits auskenne (Beschwerde S. 4 ff.).
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1.3 Einer Partei, welche sich auf eine unzutreffende Rechtsmittelbelehrung verliess und verlassen konnte, darf daraus kein Nachteil erwachsen. Allerdings geniesst nur Vertrauensschutz, wer die Unrichtigkeit der Rechtsmittelbelehrung nicht kennt und sie auch bei gebührender Aufmerksamkeit nicht hätte erkennen können. Es besteht kein Anspruch auf Vertrauensschutz, wenn der Mangel für die Rechtssuchenden bzw. ihren Rechtsvertreter schon durch Konsultierung der massgeblichen Verfahrensbestimmung ersichtlich ist. Dagegen wird nicht verlangt, dass neben den Gesetzestexten auch die einschlägige Rechtsprechung oder Literatur nachgeschlagen wird (BGE 135 III 374 E. 1.2.2.1 S. 376 mit Hinweisen). Dies gilt nicht nur für das Verfahren vor Bundesgericht, sondern auch für das kantonale Verfahren (Urteil 6B_935/2009 vom 23. Februar 2010 E. 7.2).
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Wann der Prozesspartei, die sich auf eine unrichtige Rechtsmittelbelehrung verlassen hat, eine als grob zu wertende Unsorgfalt vorzuwerfen ist, beurteilt sich nach den konkreten Umständen und nach ihren Rechtskenntnissen. Ist sie rechtsunkundig und auch nicht rechtskundig vertreten, darf sie nicht der anwaltlich vertretenen Partei gleichgestellt werden, es sei denn, sie verfüge namentlich aus früheren Verfahren über entsprechende Erfahrungen. Eine Überprüfung der in der Rechtsmittelbelehrung enthaltenen Angaben kann von einer Prozesspartei im Übrigen nur verlangt werden, wenn diese über die Kenntnisse verfügt, die es ihr überhaupt ermöglichen, die massgebende Gesetzesbestimmung ausfindig zu machen und gegebenenfalls auszulegen (BGE 135 III 374 E. 1.2.2.2 S. 376 f. mit Hinweisen).
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1.4 Der erstinstanzliche Entscheid vom 2. Februar 2011 enthält folgende Rechtsmittelbelehrung: "Gegen diesen Entscheid kann innert 30 Tagen seit Zustellung beim Kantonsgericht Wallis, 1950 Sitten, Beschwerde eingereicht werden (Art. 11 Abs. 3 des Einführungsgesetzes zur Schweizerischen Strafprozessordnung des Kantons Wallis vom 11. Februar 2009 und Art. 393 Abs. 1 lit. a StPO)".
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Diese Rechtsmittelbelehrung ist in zweierlei Hinsicht nicht zutreffend. Die erste Instanz fällte ihren Entscheid nach dem Inkrafttreten der Schweizerischen Strafprozessordnung am 1. Januar 2011 (StPO; SR 312.0). Damit ist vorliegend das neue Verfahrensrecht anwendbar (Art. 454 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 15 des Einführungsgesetzes zur Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung vom 12. November 2009 des Kantons Wallis [SGS 314.2] i.V.m. Art. 51 Abs. 1 e contrario der Schweizerischen Jugendstrafprozessordnung vom 20. März 2009 [SR 312.1]) . Gegen einen materiellen Endentscheid, wie den erstinstanzlichen Einspracheentscheid, ist grundsätzlich nicht die Beschwerde, sondern die Berufung zu erheben (Art. 394 lit. a i.V.m. Art. 398 Abs. 1 StPO). Zudem beträgt die Frist bei beiden Rechtsmitteln nicht dreissig, sondern zehn Tage, d.h. die Berufung ist innert zehn Tagen seit Eröffnung des Entscheids zu erklären (Art. 396 Abs. 1 bzw. Art. 399 Abs. 1 StPO). Während zur zweifellosen Feststellung des zulässigen Rechtsmittels die Literatur beizuziehen war, war dies hinsichtlich der Frist offensichtlich entbehrlich. Entgegen der Auffassung des Beschwerdeführers ergibt sie sich bereits aus dem Gesetzestext. Gerade weil auf den 1. Januar 2011 bekanntermassen ein neues Verfahrensrecht in Kraft getreten ist, kann sich ein Rechtsanwalt nicht allein auf eine Rechtsmittelbelehrung stützen. Dass diese durch einen Juristen verfasst wurde, wie es meistens der Fall ist, ändert hieran nichts (hierzu Urteil 1C_280/2010 vom 16. September 2010 E. 2.3). Bei Anwendung der gebotenen Sorgfalt hätte der Rechtsvertreter des Beschwerdeführers die Fehlerhaftigkeit der Rechtsmittelbelehrung erkennen können und müssen.
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Gemäss den Angaben des Beschwerdeführers ging der erstinstanzliche Entscheid jedoch nur ihm zu und sein Rechtsanwalt nahm davon erst nach Ablauf der zehntägigen Rechtsmittelfrist Kenntnis. Gegenteiliges lässt sich den Akten nicht entnehmen. Demzufolge beurteilt sich die Frage, ob dem Beschwerdeführer als grobe Unsorgfalt vorzuwerfen ist, sich auf die unzutreffende Rechtsmittelbelehrung verlassen zu haben, nach dessen eigenen Rechtskenntnissen und den konkreten Umständen (BGE 135 III 374 E. 1.2.2.2 S. 376 f. mit Hinweisen). Aus den Akten geht hervor, dass er erst vor kurzem volljährig geworden ist. Obwohl er im kantonalen Verfahren einen ablehnenden Zwischenentscheid weitergezogen hat, kann in Bezug auf ihn persönlich nicht von einschlägigen Erfahrungen ausgegangen werden, zumal er damals sowohl gesetzlich als auch anwaltlich vertreten war. In der fraglichen Belehrung sind Gesetzesartikel angegeben, was grundsätzlich die Überprüfung des zulässigen Rechtsmittels erleichtert. Es handelt sich dabei indessen nicht um die massgeblichen Bestimmungen. Unter den gegebenen Umständen kann dem Beschwerdeführer nicht vorgeworfen werden, die Belehrung nicht überprüft, sondern sich darauf verlassen zu haben. Folglich hat die Vorinstanz Art. 9 BV verletzt, indem sie infolge verpasster Rechtsmittelfrist nicht auf seine Eingabe vom 14. März 2011 eingetreten ist.
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Es ist nicht bekannt, an welchem Tag der Rechtsanwalt des Beschwerdeführers vom erstinstanzlichen Entscheid Kenntnis nahm, da dieser ausführt, das genaue Datum nicht mehr eruieren zu können (Beschwerde S. 7). Unter diesen Umständen kann zugunsten des Beschwerdeführers nicht ausgeschlossen werden, dass seine Eingabe vom 14. März 2011 innert der zehntägigen Frist ab Kenntnisnahme des erstinstanzlichen Entscheids durch den Rechtsanwalt des Beschwerdeführers eingereicht worden ist.
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2.
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Die Beschwerde ist gutzuheissen. Die Verfügung des Kantonsgerichts Wallis vom 17. März 2011 ist aufzuheben, und die Sache ist zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
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Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und Abs. 4 BGG). Der Kanton Wallis hat den Beschwerdeführer angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird gutgeheissen. Die Verfügung des Kantonsgerichts Wallis, Richter der Strafkammer, vom 17. März 2011 wird aufgehoben und die Sache zur neuen Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2.
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Es werden keine Kosten erhoben.
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3.
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Der Kanton Wallis hat den Beschwerdeführer mit Fr. 3'000.-- zu entschädigen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien und dem Kantonsgericht des Kantons Wallis, Richter der Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 26. August 2011
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Mathys
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Die Gerichtsschreiberin: Pasquini
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