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Informationen zum Dokument  BGer 1C_184/2011  Materielle Begründung
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BGer 1C_184/2011 vom 31.10.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1C_184/2011
 
Urteil vom 31. Oktober 2011
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Reeb, Raselli,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
Polizei Basel-Landschaft, Hauptabteilung Verkehrssicherheit, Administrativmassnahmen, Brühlstrasse 43, 4415 Lausen, Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
X.________, Beschwerdegegner, vertreten durch Advokat Friedrich Schwab,
 
Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft, Rechtsdienst, Regierungsgebäude, Rathausstrasse 2, Postfach, 4410 Liestal.
 
Gegenstand
 
Warnungsentzug des Führerausweises,
 
Beschwerde gegen das Urteil vom 2. März 2011
 
des Kantonsgerichts Basel-Landschaft,
 
Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 29. Oktober 2009 stellten zwei Mitarbeitende der Polizei Basel-Landschaft anlässlich einer Kontrollfahrt auf der Autobahn A2 fest, dass X.________ rückwärts auf dem Pannenstreifen der Autobahneinfahrt Diegen in Richtung der Ortsverbindungsstrasse zurückfuhr. Gemäss Polizeirapport vom 2. November 2009 betrug die bei diesem Rückfahrmanöver zurückgelegte Strecke mindestens 100 m. Mit Strafbefehl des Statthalteramts Waldenburg vom 24. November 2009 wurde X.________ wegen einfacher Verletzung von Verkehrsregeln im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG zu einer Busse von Fr. 150.-- verurteilt. Der Strafbefehl erwuchs in Rechtskraft. Am 19. Januar 2010 verfügte die Polizei Basel-Landschaft einen Führerausweisentzug für die Dauer von vier Monaten. Zur Begründung führte sie aus, dass das Rückwärtsfahren auf dem Pannenstreifen einer Autobahneinfahrt eine mittelschwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG darstelle und dass X.________ der Führerausweis bereits am 20. November 2007 für einen Monat entzogen worden sei. Die Mindestentzugsdauer betrage deshalb gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. b SVG vier Monate.
 
Gegen die Verfügung vom 19. Januar 2010 erhob X.________ Beschwerde beim Regierungsrat. Mit Beschluss vom 17. August 2010 wies der Regierungsrat das Rechtsmittel ab. Daraufhin reichte X.________ Beschwerde beim Kantonsgericht Basel-Landschaft ein. Das Kantonsgericht hiess die Beschwerde mit Urteil vom 2. März 2011 gut. Es stellte fest, dass lediglich eine leichte Widerhandlung nach Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG vorliege und wies die Sache zur Neubeurteilung im Sinne der Erwägungen an die Polizei Basel-Landschaft zurück.
 
B.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 27. April 2011ans Bundesgericht beantragt die Polizei Basel-Landschaft im Wesentlichen, das Urteil des Kantonsgerichts sei aufzuheben und es sei X.________ der Führerausweis für die Dauer von vier Monaten zu entziehen.
 
Das Kantonsgericht hat auf eine Vernehmlassung verzichtet. Der Regierungsrat beantragt die Gutheissung der Beschwerde, der Beschwerdegegner ihre Abweisung. Das ebenfalls zur Vernehmlassung eingeladene Bundesamt für Strassen (ASTRA) beantragt die Gutheissung der Beschwerde. Während das Kantonsgericht, der Regierungsrat und die Polizei Basel-Landschaft auf eine weitere Vernehmlassung verzichtet haben, reichte der Beschwerdegegner eine zweite Stellungnahme ein.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Polizei Basel-Landschaft ist zur Beschwerde legitimiert (Art. 89 Abs. 2 lit. d BGG i.V.m. Art. 24 Abs. 2 lit. a SVG). Der Rückweisungsentscheid des Kantonsgerichts verpflichtet die Polizei Basel-Landschaft, eine ihr rechtswidrig erscheinende Verfügung zu treffen. Die Beschwerde ist deshalb gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG zulässig (BGE 137 IV 87 E. 3.3.2 S. 92; 133 V 477 E. 5.2.4 S. 484 f.; 129 I 313 E. 3.3 S. 318; je mit Hinweisen; Urteil 1C_230/2009 vom 9. März 2010 E. 1). Die übrigen Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
 
2.
 
2.1 Die Beschwerdeführerin ist der Ansicht, das Verhalten des Beschwerdegegners stelle eine mittelschwere Widerhandlung im Sinne von Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG dar. Dies treffe schon auf den ersten Teil der Autobahnauffahrt zu, wo die Höchstgeschwindigkeit 60 km/h betrage. Niemand müsse damit rechnen, dass ihm ein Fahrzeuglenker dort rückwärts fahrend entgegenkomme. Dasselbe gelte für den zweiten Teil der Autobahnauffahrt, wo die Höchstgeschwindigkeit 120 km/h betrage. Es sei bekannt, dass hier stark beschleunigt werde und zwar nicht erst ab dem Autobahnsignal. Entgegen den vorinstanzlichen Sachverhaltsfeststellungen müsse zudem davon ausgegangen werden, dass in der Rechtskurve, welche am Strassenrand mit Buschwerk versehen sei, nur eine eingeschränkte Sicht auf Fahrzeuge auf dem Pannenstreifen bestehe. Dies sei zwar anlässlich des vom Kantonsgericht durchgeführten Augenscheins festgestellt worden, habe aber im Urteil keine Berücksichtigung gefunden.
 
2.2 Die Vorinstanz legte dar, anlässlich des Augenscheins habe festgestellt werden können, dass die Autobahneinfahrt, die sich in einer Steigung befinde, eine etwa 90-gradige Rechtskurve beschreibe, wobei beim Scheitelpunkt der Kurve das Verkehrssignal "Autobahn" stehe. Im Bereich vor diesem Signal betrage die Höchstgeschwindigkeit 60 km/h. Vom Kurveneingang, d.h. vom Beginn der Autobahneinfahrt, sei die Sicht zum aufsteigenden Teil der Autobahneinfahrt durch Büsche teilweise beeinträchtigt.
 
Zum Fahrverhalten des Beschwerdegegners führte die Vorinstanz aus, dieser sei auf die Autobahneinfahrt gefahren und als er gesehen habe, dass auf der Autobahn A2 Stau herrschte, sei er auf den Pannenstreifen zur rechten Seite manövriert. In der Folge sei er ca. 100 m rückwärts auf dem Pannenstreifen in Richtung Ortsverbindungsstrasse zurückgefahren und sei auf diese eingebogen. Zu einer konkreten Gefährdung sei es dabei nicht gekommen. Es könne davon ausgegangen werden, dass der Beschwerdeführer das Manöver auf dem Pannenstreifen langsam und äusserst vorsichtig vorgenommen habe. Durch sein Verhalten habe er zwar gegen Art. 43 Abs. 3 SVG i.V.m. Art. 36 Abs. 1 und 3 SVG (recte: i.V.m. Art. 36 Abs. 1 und 3 der Verkehrsregelverordnung vom 13. November 1962 [VRV; SR 741.1]) verstossen, dabei aber nur eine geringe Gefahr im Sinne von Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG verursacht. Die Sicht sei zumindest bis zum Autobahnsignal, welches sich am Scheitelpunkt der Kurve befinde, nicht beeinträchtigt. Vom Scheitelpunkt der Kurve aus sei die Sicht zur weiterführenden, sodann ansteigend verlaufenden Autobahneinfahrt durch die Büsche zur rechten Seite in keiner Weise beeinträchtigt. Auch wenn ab diesem Punkt eine Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h gelte, könne die Sichtdistanz als ausreichend bezeichnet werden. Aufgrund der konkreten Gegebenheiten könne zudem davon ausgegangen werden, dass ein heranfahrendes Fahrzeug nach Passieren des Autobahnsignals bei Weitem noch nicht die Höchstgeschwindigkeit von 120 km/h erreiche. Im Zeitpunkt des Manövers habe wenig Verkehr geherrscht und die Strassen- und Wetterverhältnisse seien gut gewesen. Schliesslich treffe den Beschwerdeführer nur ein leichtes Verschulden, womit die Voraussetzungen für die Anwendung von Art. 16a Abs. 1 lit. a anstelle von Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG erfüllt seien.
 
2.3 In Bezug auf die Sachverhaltsrüge des Beschwerdeführers (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 SVG) ist festzustellen, dass der angefochtene Entscheid widersprüchlich ist. Die Vorinstanz hält zunächst fest, dass die Sicht vom Kurveneingang, d.h. vom Beginn der Autobahneinfahrt, zum aufsteigenden Teil der Autobahneinfahrt durch Büsche teilweise beeinträchtigt sei. Später kommt sie aber für beide Abschnitte (jenen vor dem Autobahnsignal und jenen nach dem Autobahnsignal) zum Schluss, dass die Sicht "nicht beeinträcht" bzw. "in keiner Weise beeinträchtigt" sei. Diese beiden Sachverhaltsfeststellungen scheinen kaum miteinander vereinbar. Wie sich aus den nachfolgenden Erwägungen ergibt, kann jedoch offen bleiben, wie es sich damit verhält; im Ergebnis ändern die betreffenden Feststellungen nichts am Ausgang des Verfahrens (vgl. Art. 97 Abs. 1 a.E. BGG).
 
2.4
 
2.4.1 Auf Autobahnen ist das Rückwärtsfahren untersagt (Art. 36 Abs. 1 Satz 2 VRV). Der Fahrzeugführer darf Pannenstreifen nur für Nothalte benützen (Art. 36 Abs. 3 VRV). Dass der Beschwerdegegner diese Verkehrsregeln verletzt hat, ist unbestritten.
 
2.4.2 Nach Widerhandlungen gegen Strassenverkehrsvorschriften, bei denen das Verfahren nach dem Ordnungsbussengesetz ausgeschlossen ist, wird der Führerausweis entzogen oder eine Verwarnung ausgesprochen (Art. 16 Abs. 2 SVG). Eine leichte Widerhandlung begeht, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine geringe Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft, sofern ihn dabei nur ein leichtes Verschulden trifft (Art. 16a Abs. 1 lit. a SVG). Eine mittelschwere Widerhandlung begeht, wer durch Verletzung von Verkehrsregeln eine Gefahr für die Sicherheit anderer hervorruft oder in Kauf nimmt (Art. 16b Abs. 1 lit. a SVG). Die mittelschwere Widerhandlung nach Art. 16b SVG stellt einen Auffangtatbestand dar. Sie liegt vor, wenn nicht alle privilegierenden Elemente einer leichten Widerhandlung nach Art. 16a SVG und nicht alle qualifizierenden Elemente einer schweren Widerhandlung nach Art. 16c SVG gegeben sind. Die Annahme einer leichten Widerhandlung setzt nach der Rechtsprechung voraus, dass kumulativ eine geringe Gefahr und ein leichtes Verschulden vorliegen (BGE 135 II 138 E. 2.2.2 f. S. 141 mit Hinweisen). Die strafrechtliche Qualifikation einer Verkehrsregelverletzung als einfach im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG schliesst die Annahme einer mittelschweren oder schweren Widerhandlung im Administrativverfahren nicht aus (Urteile des Bundesgerichts 1C_224/2010 vom 6. Oktober 2010 E. 4.2; 1C_156/2010 vom 26. Juni 2010 E. 4; je mit Hinweisen). Dass das Bundesgericht in einem ähnlich gelagerten Fall auf eine lediglich einfache Verkehrsregelverletzung im Sinne von Art. 90 Ziff. 1 SVG erkannte (vgl. Urteil 6B_819/2009 vom 14. Januar 2010), ist somit nicht massgebend. Eine Gefahr für die Sicherheit anderer im Sinne von Art. 16a-16c SVG ist bei einer konkreten oder auch bei einer erhöhten abstrakten Gefährdung zu bejahen. Eine erhöhte abstrakte Gefahr besteht, wenn die Möglichkeit einer konkreten Gefährdung oder Verletzung naheliegt (Urteil 1C_3/2008 vom 18. Juli 2008 E. 5.2 mit Hinweisen). Ob eine solche Gefährdung vorliegt, hängt von den jeweiligen Verhältnissen des Einzelfalls ab (Urteil 1C_156/2010 vom 26. Juni 2010 E. 4 mit Hinweisen; vgl. auch BGE 131 IV 133 E. 3.2 S. 136 mit Hinweisen).
 
2.4.3 Nach den Feststellungen der Vorinstanz verursachte der Beschwerdegegner mit seinem Manöver keine konkrete Gefährdung, sondern eine erhöhte abstrakte Gefährdung. Umstritten ist, ob diese erhöhte abstrakte Gefährdung noch als gering bezeichnet werden kann.
 
Im Urteil 6A.64/2006 vom 20. März 2007 hat das Bundesgericht bei einem Lenker, der ca. 60 bis 80 m auf dem Pannenstreifen einer Autobahn rückwärts gefahren war, um eine verpasste Ausfahrt noch befahren zu können, auf eine mittelschwere Widerhandlung erkannt (a.a.O., E. 2.3). Vorliegend ist nicht anders zu entscheiden. Eine Autobahneinfahrt, welche eine etwa 90-gradige Rechtskurve beschreibt, stellt erhöhte Anforderungen an die Fahrer. Die Mehrheit von ihnen erwartet nicht, auf ein auf dem Pannenstreifen entgegenkommendes Fahrzeug zu treffen. Ein derartiges Manöver kann leicht ungeschickte Reaktionen provozieren (vgl. BGE 133 II 58 E. 5.2 S. 61). Das trifft insbesondere im fraglichen Bereich zu, wo gleichzeitig eine Kurve befahren und beschleunigt wird. Dies gilt unabhängig davon, ob auf der Autobahn Stau herrschte und mit wie viel Verkehr auf der Autobahneinfahrt zu rechnen war (vgl. Urteil 1C_3/2008 vom 18. Juli 2008 E. 5.4, wo das Bundesgericht die Behauptung des Beschwerdeführers, zum fraglichen Zeitpunkt seien keine weiteren Fahrzeuge unterwegs gewesen, als unmassgeblich erachtete). Unmassgeblich sind auch die guten Wetter- und Sichtverhältnisse sowie der Umstand, dass der Beschwerdegegner langsam rückwärts gefahren ist. Mithin kann die von ihm geschaffene Gefahr für die Sicherheit anderer nicht mehr als gering eingestuft werden.
 
Es kann offen bleiben, ob es für die Annahme einer leichten Widerhandlung darüber hinaus noch an der zusätzlichen Voraussetzung eines nur leichten Verschuldens mangeln würde.
 
3.
 
Die Beschwerde ist gutzuheissen und der angefochtene Entscheid aufzuheben. Damit wird die Verfügung der Polizei Basel-Landschaft vom 19. Januar 2010 bestätigt, die wegen einem früheren Führerausweisentzug auf die gesetzliche Mindestentzugsdauer von vier Monaten gemäss Art. 16b Abs. 2 lit. b erkannt hatte. Die Polizei Basel-Landschaft wird einen neuen Abgabetermin für den Führerausweis festlegen müssen.
 
Bei diesem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Es ist keine Parteientschädigung zuzusprechen (Art. 68 Abs. 1-3 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen und das Urteil vom 2. März 2011 des Kantonsgerichts Basel-Landschaft aufgehoben. Dem Beschwerdegegner wird der Führerausweis für vier Monate entzogen. Die Angelegenheit wird zur Neuregelung der Kostenfolgen an das Kantonsgericht und zur neuen Festlegung eines Abgabetermins für den Führerausweis an die Polizei Basel-Landschaft zurückgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 2'000.-- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Regierungsrat des Kantons Basel-Landschaft, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Verfassungs- und Verwaltungsrecht, und dem Bundesamt für Strassen, Sekretariat Administrativmassnahmen, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 31. Oktober 2011
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Dold
 
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