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Informationen zum Dokument  BGer 8C_195/2011  Materielle Begründung
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BGer 8C_195/2011 vom 15.12.2011
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
8C_195/2011
 
Urteil vom 15. Dezember 2011
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Ursprung, Präsident,
 
Bundesrichterin Leuzinger, Bundesrichter Frésard, Bundesrichterin Niquille, Bundesrichter Maillard,
 
Gerichtsschreiber Holzer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
O.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Roger Zenari,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Solothurn,
 
Allmendweg 6, 4528 Zuchwil,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
 
vom 25. Januar 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Die 1972 geborene O.________ meldete sich am 17. Mai 2001 unter Hinweis auf eine am 20. Mai 2000 erlittene HWS-Distorsion bei der IV-Stelle des Kantons Solothurn zum Leistungsbezug an und beantragte eine Rente. Mit Verfügungen vom 3. März und 16. Mai 2006 sprach die IV-Stelle der Versicherten rückwirkend ab 1. Mai 2001 eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu.
 
Am 6. Februar 2008 leitete die IV-Stelle des Kantons Solothurn von Amtes wegen ein Revisionsverfahren betreffend der laufenden Rente ein. Im Zuge dieses Verfahrens fand am 30. April 2008 ein Revisionsgespräch statt. Am 4. Juli 2008 übermittelte die AXA Winterthur als Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers der IV-Stelle unter anderem die Akten einer zwischen Dezember 2007 und Mai 2008 durchgeführten privatdetektivlichen Observation der Versicherten. Aufgrund der Diskrepanzen zwischen dem beim Revisionsgespräch Ausgeführten und dem sich aus den Überwachungsakten Ergebenden brach die IV-Stelle nach Durchführung des Vorbescheidverfahrens das Revisionsverfahren mit Verfügung vom 27. November 2008 ab und hob die Invalidenrente unter Berufung auf Art. 7b Abs. 2 IVG per sofort auf.
 
B.
 
Die von O.________ hiegegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid 25. Januar 2011 ab.
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt O.________, ihr sei unter Aufhebung der Verfügung und des kantonalen Gerichtsentscheides weiterhin eine ganze Rente auszurichten.
 
Während das Bundesamt für Sozialversicherungen auf Abweisung der Beschwerde schliesst, verzichtet die IV-Stelle auf eine Vernehmlassung.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Streitig und zu prüfen ist, ob die IV-Stelle die ganze Rente der Versicherten am 27. November 2008 zu Recht mit sofortiger Wirkung aufgehoben hat.
 
3.
 
3.1 Vorinstanz und Verwaltung begründen ihren Entscheid unter anderem mit den Ergebnissen der Observation durch Privatdetektive. Die Beschwerdeführerin macht vorab geltend, diese Berichte seien als Beweismittel unzulässig, da sie von den Privatdetektiven überwacht worden sei, ohne dass ein hinreichender "Anfangsverdacht" für eine solche Observation vorgelegen habe.
 
3.2 Der von der Beschwerdeführerin gebrauchte Begriff "Anfangsverdacht" betrifft die Strafverfolgung und wird praxisgemäss im Zusammenhang mit dem privatrechtlichen und verfassungsrechtlichen Persönlichkeitsschutz nicht verwendet. Ein wichtiges Element der Interessenabwägung im Persönlichkeitsschutz ist jedoch die objektive Gebotenheit der Observation. Objektiv geboten ist eine Observation durch Privatdetektive, wenn konkrete Anhaltspunkte vorliegen, die Zweifel an den geäusserten gesundheitlichen Beschwerden oder der geltend gemachten Arbeitsunfähigkeit aufkommen lassen. Solche Anhaltspunkte können beispielsweise gegeben sein bei widersprüchlichem Verhalten der versicherten Person, oder wenn Zweifel an der Redlichkeit derselben bestehen (eventuell durch Angaben und Betrachtungen Dritter), bei Inkonsistenzen anlässlich der medizinischen Untersuchung, Aggravation, Simulation oder Selbstschädigung u.Ä. Diese Elemente können einzeln oder in Kombination zureichende Hinweise liefern, die zur objektiven Gebotenheit der Observation führen (BGE 8C_272/2011 E. 5.4.2.1).
 
3.3 Die Observation der Beschwerdeführerin wurde nicht von der IV-Stelle, sondern von der Haftpflichtversicherung des Unfallverursachers veranlasst. Rechtsprechungsgemäss ist es zulässig, dass ein Sozialversicherungsträger die Ergebnisse einer solchen Observation als Beweismittel zu den Akten nimmt (BGE 132 V 242; 129 V 323 E. 3.3.3 S. 324 ff.), ohne dass er Einblick in die gesamten Akten des Haftpflichtversicherers nehmen kann. Die Beschwerdeführerin hat nicht dargetan, dass sie die angeblich durch die Observation begangene Persönlichkeitsverletzung bei der Haftpflichtversicherung gerügt hätte. Ob sie bei dieser Ausgangslage gegen die Verwendung der Observationsergebnisse im IV-Verfahren noch einwenden darf, die Observation sei nicht objektiv geboten gewesen, braucht nicht geprüft zu werden: Wie nachstehende Erwägung zeigt, enthielten die IV-Akten bereits vor Übernahme der Observationsergebnisse hinreichende Anhaltspunkte, welche gar eine Anordnung der Observation durch die IV-Stelle hätten rechtfertigen können.
 
3.4 Wie das Bundesamt für Sozialversicherungen in seiner Vernehmlassung zutreffend ausführt, bestanden Zweifel an den geäusserten gesundheitlichen Beschwerden bereits aufgrund der Diskrepanz zwischen den nach biomechanischen Berechnungen zu erwartenden Auswirkungen des Unfalles und den von der versicherten Person geäusserten Beschwerden. Gemäss den Berechnungen des Unfallanalytikers lag die kollisionsbedingte Geschwindigkeitsänderung (Delta-v) zwischen 2,3 und 4,8 km/h. Wie Dr. med. B.________, Spezialarzt FMH für Neurologie, in seinem Bericht vom 25. November 2002 ausführte, steht die Heftigkeit der geklagten Beschwerden in keinem Verhältnis zum eher geringen Trauma. Als weiterer Anhaltspunkt, welcher Anlass zu weiteren Beweismassnahmen geben konnte, ist der Umstand zu werten, dass Dr. med. K.________, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie, in seinem Gutachten vom 25. Juni 2002 die Arbeitsunfähigkeit der Versicherten in erster Linie mit Konzentrationsstörungen begründet, diese sich aber nach eigenen Angaben selber fähig sieht, weiterhin ein Auto zu lenken (vgl. zu dieser Diskrepanz auch den Bericht des Dr. med. S.________, Facharzt FMH Psychiatrie und Psychotherapie, vom 22. Oktober 2007).
 
3.5 Aufgrund dieser Anhaltspunkte - besonders auch unter Berücksichtigung der aufgrund des Alters der Beschwerdeführerin hohen im Streit liegenden finanziellen Interessen der beteiligten Versicherungen und der dahinter stehenden Versichertengemeinschaft - erscheint die Observation der Versicherten durch Privatdetektive als objektiv hinreichend geboten. Somit war die Übernahme der Observationsergebnisse zu den Akten zulässig; dieses Beweismittel kann auch im IV-Verfahren verwendet werden.
 
4.
 
4.1 Ändert sich der Invaliditätsgrad einer Rentenbezügerin oder eines Rentenbezügers erheblich, so wird in Anwendung von Art. 17 Abs. 1 ATSG die Rente von Amtes wegen oder auf Gesuch hin für die Zukunft entsprechend erhöht, herabgesetzt oder aufgehoben (sog. Rentenrevision). Formell rechtskräftige Verfügungen und Einspracheentscheide müssen gemäss Art. 53 Abs. 1 ATSG in (prozessuale) Revision gezogen werden, wenn die versicherte Person oder der Versicherungsträger nach deren Erlass erhebliche neue Tatsachen entdeckt oder Beweismittel auffindet, deren Beibringung zuvor nicht möglich war. Zudem kann der Versicherungsträger nach Art. 53 Abs. 2 ATSG auf formell rechtskräftige Verfügungen oder Einspracheentscheide zurückkommen, wenn diese zweifellos unrichtig sind und wenn ihre Berichtigung von erheblicher Bedeutung ist.
 
4.2 Gemäss Art. 7b Abs. 2 lit. c IVG können die Leistungen der Invalidenversicherung in Abweichung von Artikel 21 Absatz 4 ATSG ohne Mahn- und Bedenkzeitverfahren gekürzt oder verweigert werden, wenn die versicherte Person solche Leistungen zu Unrecht erwirkt oder zu erwirken versucht hat. Beim Entscheid über die Kürzung oder Verweigerung von Leistungen sind nach Art. 7b Abs. 3 IVG alle Umstände des einzelnen Falles, insbesondere das Ausmass des Verschuldens und die wirtschaftliche Lage der versicherten Person, zu berücksichtigen. Art. 86bis Abs. 2 IVV bestimmt, dass in diesen Fällen die Rente während längstens drei Monaten um höchstens einen Viertel gekürzt wird. Gemäss Art. 86bis Abs. 3 IVV kann in besonders schweren Fällen die Rente verweigert werden.
 
4.3 Durch Art. 7b Abs. 2 IVG wird eine Ausnahme vom Mahn- und Bedenkzeitverfahren nach ATSG geschaffen (vgl. Botschaft zur Änderung des Bundesgesetzes über die Invalidenversicherung [5. Revision] vom 22. Juni 2005, BBl 2005 4459, S. 4560; vgl. auch Michel Valterio, Droit de l'assurance-veillesse et survivants [AVS] et de l'assurance-invalidité [AI], 2011, N. 1264). Dieser Absatz stellt indessen keinen eigenständigen Grund dar, um auf eine rechtskräftige Verfügung zurückzukommen. Ziel dieser Bestimmung ist es, versicherte Personen, die ihre Pflichten gegenüber der IV-Stelle verletzen, erleichtert sanktionieren zu können (vgl. Erwin Murer, Invalidenversicherung: Prävention, Früherfassung und Integration, 2009, S. 133). Versicherte Personen, die ihren Pflichten nicht nachkommen oder zu Unrecht Leistungen der Invalidenversicherung zu erwirken versuchen, sollen schlechtergestellt werden als jene versicherten Personen, welche sich korrekt verhalten. Dies erfolgt dadurch, dass den pflichtwidrig handelnden versicherten Personen auch solche Leistungen verweigert werden, auf die sie eigentlich Anspruch hätten. Der Entzug von Leistungen, auf die kein Anspruch besteht, stellt demgegenüber keine Sanktion dar. Nicht Sinn von Art. 7b Abs. 2 IVG ist es, die IV-Stellen von ihrer Aufgabe zu entheben, den Bestand der Leistungsansprüche versicherter Personen rechtsgenüglich abzuklären. Daraus folgt für Fälle, in denen eine IV-Stelle bei laufender Rente im Nachhinein der Ansicht ist, der Leistungsbezug erfolge zu Unrecht, diese zunächst unter Berufung auf einen Rückkommenstitel (Wiedererwägung, Revision; vgl. auch Matthias Kradolfer, Nachteilige Rechtsänderungen und Verfügungsanpassungen im Sozialversicherungsrecht, in SZS 2011, S. 361 ff., 366 f.) die Rentenzahlung herabzusetzen oder aufzuheben hat. Ist von einem Betrug der versicherten Person auszugehen, konnte die Rente bereits vor Inkrafttreten des Art. 7b IVG unter Berufung auf eine prozessuale Revision (Art. 53 Abs. 1 ATSG) aufgehoben werden. Art. 7b IVG hat an dieser Rechtslage nichts geändert (vgl. Markus Krapf, Selbsteingliederung und Sanktion in der 5. IV-Revision, in: SZS 2008, S. 122 ff., 144). Erst in einem zweiten Schritt und nur, wenn wegen einer Teilinvalidität tatsächlich Anspruch auf weitere Leistungen besteht (vgl. Erwin Murer, a.a.O. S. 138; Markus Krapf, a.a.O., S. 130), kann die Frage der Sanktionierung der versicherten Person im Rahmen von Art. 7b Abs. 2 lit. c IVG geprüft werden.
 
4.4 Mit Verfügungen vom 3. März und 16. Mai 2006 sprach die IV-Stelle der Versicherten rückwirkend ab 1. Mai 2001 eine ganze Rente der Invalidenversicherung bei einem Invaliditätsgrad von 100 % zu. Ein Rentenrevisionsverfahren wurde zwar eingeleitet, aber ausdrücklich abgebrochen. Somit gelten die rentenzusprechenden Verfügungen weiterhin. Eine Sanktionierung der Versicherten wegen unrechtmässigen Leistungsbezugs im Sinne von Art. 7b Abs. 2 lit. c IVG ist bei dieser Ausgangslage zum jetzigen Zeitpunkt nicht möglich. Ihre Beschwerde ist dementsprechend gutzuheissen und die Sanktionsverfügung vom 27. November 2008 und der kantonale Gerichtsentscheid sind aufzuheben. Die IV-Stelle wird demgemäss das abgebrochene Revisionsverfahren wieder aufzunehmen und zu prüfen haben, ob auf die rechtskräftigen Verfügungen (allenfalls auch in Anwendung von Art. 53 ATSG) zurückzukommen ist. Sollte sich nach dieser Prüfung ergeben, dass die Beschwerdeführerin nur noch Anspruch auf eine Rente wegen Teilinvalidität hat, wird die Beschwerdegegnerin die Frage einer Sanktionierung erneut zu beurteilen haben.
 
5.
 
Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 62 Abs. 1 Satz 1 BGG). Die IV-Stelle hat als unterliegende Partei die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG) und der Beschwerdeführerin eine Parteientschädigung auszurichten (Art. 68 Abs. 2 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird gutgeheissen. Der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 25. Januar 2011 und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons Solothurn vom 27. November 2008 werden aufgehoben und die IV-Stelle wird angewiesen, im Sinne der Erwägungen zu verfahren.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3.
 
Die Beschwerdegegnerin hat die Beschwerdeführerin für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4.
 
Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten und der Parteientschädigung des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn zurückgewiesen.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 15. Dezember 2011
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Ursprung
 
Der Gerichtsschreiber: Holzer
 
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