BGer 9C_690/2011 | |||
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BGer 9C_690/2011 vom 20.12.2011 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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9C_690/2011
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Urteil vom 20. Dezember 2011
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II. sozialrechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichterin Pfiffner Rauber, als Instruktionsrichterin,
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Gerichtsschreiber Fessler.
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Verfahrensbeteiligte | |
IV-Stelle des Kantons St. Gallen,
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Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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K.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Daniel Speck,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung (Prozessvoraussetzung, Invalidenrente, Revision),
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Beschwerde gegen den Entscheid
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des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
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vom 14. Juni 2011.
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Sachverhalt:
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A.
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Mit Verfügung vom 12. April 2006 sprach die IV-Stelle des Kantons St.Gallen dem 1976 geborenen K.________ eine ganze Invalidenrente ab 1. Mai 2005 samt einer Kinderrente zu. Nachdem die IV-Stelle im Rahmen des im März 2009 eingeleiteten Revisionsverfahrens im Sinne einer vorsorglichen Massnahme die Ausrichtung der Rente mit sofortiger Wirkung ab 1. Dezember 2009 eingestellt hatte, hob sie mit Verfügung vom 16. Dezember 2010 diejenige vom 12. April 2006 auf und stellte fest, es bestehe kein Rentenanspruch.
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B.
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In Gutheissung der Beschwerde des K.________ hob das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen mit Entscheid vom 14. Juni 2011 die Verfügung vom 16. Dezember 2010 auf und wies die Sache zu ergänzenden medizinischen Abklärungen im Sinne der Erwägungen und zu entsprechender neuer Verfügung an die IV-Stelle zurück.
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C.
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Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der Entscheid vom 14. Juni 2011 sei insofern zu korrigieren, als dieser als Grund für eine prozessuale Revision einzig ein Delikt zulassen wolle; eventualiter sei der Entscheid vollumfänglich aufzuheben und die Verfügung vom 16. Dezember 2010 zu bestätigen.
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K.________ beantragt die Abweisung der Beschwerde, soweit darauf einzutreten ist. Kantonales Versicherungsgericht und Bundesamt für Sozialversicherungen haben auf eine Vernehmlassung verzichtet.
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Erwägungen:
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1.
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1.1 Der vorinstanzliche Entscheid (Dispositiv-Ziffer 1) weist die Sache zu ergänzenden medizinischen Abklärungen im Sinne der Erwägungen und zu neuer Verfügung betreffend die prozessual revisionsweise Aufhebung der Verfügung vom 12. April 2006 (Art.53 Abs. 1 ATSG) an die IV-Stelle zurück. Eintreten auf deren Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten setzt somit alternativ voraus, dass der Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil bewirken kann oder dass deren Gutheissung sofort einen Endentscheid herbeiführen und damit einen bedeutenden Aufwand an Zeit oder Kosten für ein weitläufiges Beweisverfahren ersparen würde (Art. 93 Abs. 1 lit. a und b BGG; BGE 133 V 477 E. 4 S. 480 ff.).
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1.2 Die Rückweisung der Sache an die IV-Stelle zu weiterer oder ergänzender Abklärung und neuer Entscheidung stellt nur, aber immerhin insoweit einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG dar, als die Verwaltung durch materielle Vorgaben rechtlicher Natur wesentlich in ihrem Beurteilungsspielraum eingeschränkt wird und davon in der Folge nicht mehr abgewichen werden kann (BGE 133 V 477 E. 5.2 S. 483 ff.; SVR 2010 IV Nr. 55 S.169, 9C_764/2009 E. 1.3).
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2.
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2.1 Die Vorinstanz hat zur Frage des Rückkommens auf die Verfügung vom 12. April 2006 erwogen, die im Internet aufgefundenen Bilder (von Auftritten des Versicherten als Musiker während des Abklärungsverfahrens) sollten eine zumutbarerweise ausgeübte Erwerbstätigkeit beweisen. Die Erwerbstätigkeit sei allerdings keine für beide Parteien unbekannte und in diesem Sinne qualifizierte neue Tatsache. Der Versicherte habe den Umstand gekannt, ihn aber verschwiegen. Über den Wortlaut von Art. 53 Abs. 1 ATSG hinaus sei (auch) die Einwirkung durch Verbrechen und Vergehen als prozessualer Revisionsgrund zu qualifizieren. Für dieses Verfahren sei (somit) einzig von Bedeutung, ob bis zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 12.April 2006 eine strafrechtlich relevant verschwiegene Arbeitsfähigkeit bestanden habe, welche den Anspruch auf eine ganze Rente ausgeschlossen hätte.
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2.2 Wie die IV-Stelle richtig vorbringt, können diese aufgrund der Verweisung in Dispositiv-Ziffer 1 des angefochtenen Entscheids sie bindenden Erwägungen (BGE 113 V 159; vgl. auch Urteile 9C_210/2011 vom 21. April 2011 E. 1.2 und 4A_5/2008 vom 22. Mai 2008 E. 1.1-1.3) nur in dem Sinne verstanden werden, dass die Vorinstanz eine prozessuale Revision der Verfügung vom 12. April 2006 einzig wegen Einwirkung durch Verbrechen oder Vergehen, nicht aber wegen Entdeckung neuer Tatsachen oder Beweismittel als zulässig erachtet (vgl. SVR 2010 IV Nr. 55 S. 169, 9C_764/2009 E. 3.1). Nach dieser Rechtsauffassung könnte bei einem Freispruch im Strafprozess auf die Verfügung vom 12. April 2006 nicht prozessual revisionsweise zurückgekommen werden, die IV-Stelle hätte bis mindestens Ende Januar 2011 eine ganze Invalidenrente auszurichten und eine allfällige Rückforderung von Leistungen fiele ausser Betracht (vgl. Art. 88bis Abs. 2 IVV und Urteil 9C_11/2008 vom 29. April 2008 E. 4.2.1 und 4.2.2), ohne dass sie sich dagegen wehren könnte. In diesem Sinne kann der angefochtene Entscheid einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil gemäss Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG bewirken. Auf die auch den weiteren formellen Anforderungen genügende Beschwerde ist daher einzutreten.
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3.
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Der Beschwerdegegner weist in seiner Vernehmlassung darauf hin, er sei von der Strafkammer des Kantonsgerichts mit Urteil vom 13. September 2011 u.a. des versuchten Betrugs zum Nachteil der IV-Stelle für schuldig gesprochen worden, habe jedoch - im Gegensatz zur Staatsanwaltschaft - auf eine Entscheidbegründung und damit auf einen Weiterzug des Erkenntnisses ans Bundesgericht verzichtet. Damit ist aber ein prozessualer Revisionsgrund (Einwirkung durch Verbrechen oder Vergehen; vgl. auch Art. 61 lit. i ATSG und Art. 123 Abs. 1 BGG) gegeben und es besteht demzufolge kein schutzwürdiges Interesse mehr an der beantragten Änderung des vorinstanzlichen Entscheids dahingehend, dass unabhängig von einer strafrechtlichen Verurteilung die Verfügung vom 12. April 2006 im Sinne von Art. 53 Abs.1 ATSG in Revision gezogen werden kann (Art. 89 Abs. 1 lit. c BGG; BGE 133 II 409 E. 1.3 S. 413 mit Hinweisen). Das Verfahren ist somit gegenstandslos geworden und abzuschreiben (Art. 32 Abs. 2 BGG).
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4.
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Bei Entfallen des Rechtsschutzinteresses bzw. Gegenstandslosigkeit des Verfahrens entscheidet das Bundesgericht mit summarischer Begründung über die Prozesskosten aufgrund der Sachlage vor Eintritt des Erledigungsgrundes (Art. 71 BGG in Verbindung mit Art. 72 BZP). Dabei ist in erster Linie auf den mutmasslichen Ausgang des Prozesses abzustellen (Urteile 1C_63/2009 vom 7. Oktober 2009 E. 2 und 2C_413/2008 vom 24. Juni 2008 E. 2.1).
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Die Beschwerde der IV-Stelle hätte ernsthafte Aussichten auf Erfolg gehabt: Die Auffassung der Vorinstanz, wonach die Auftritte des Beschwerdegegners als Musiker während des Abklärungsverfahrens deshalb keine prozessual revisionsrechtlich erhebliche neue Tatsache im Sinne von Art. 53 Abs. 1 ATSG sind, weil sie lediglich der IV-Stelle nicht bekannt waren und nicht auch dem Versicherten (vorne E. 2.1), kann sich weder auf den Wortlaut dieser Gesetzesbestimmung stützen noch sind andere Gründe ersichtlich, die für eine solche Auslegung sprächen. Gegenteils würde dadurch der Anwendungsbereich der prozessualen Revision in einer mit dem Normzweck nicht vereinbaren Weise eingeengt. Dass die neu entdeckte Tatsache der Auftritte als Musiker zu einer anderen Beurteilung führen kann in dem Sinne, dass der Invaliditätsgrad nicht den von der IV-Stelle ermittelten 100 % betrug, sondern weniger als 70 % und somit kein Anspruch auf eine ganze Rente bestand (Art. 28 Abs. 2 IVG), steht ausser Frage. Nach Feststellung der Vorinstanz hatte der Beschwerdegegner selber im Strafverfahren eingeräumt, es habe in dieser Zeit eine höhere Arbeitsfähigkeit bestanden. Der regionale ärztliche Dienst der IV-Stelle war in seiner Stellungnahme vom 13. Februar 2006 von einer Arbeitsunfähigkeit von 100 % als Musiker ausgegangen.
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5.
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Bei diesem Ausgang des Verfahrens hat grundsätzlich der Beschwerdegegner die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Seinem Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann jedoch entsprochen werden (Art. 64 BGG; BGE 125 V 201 E. 4a S. 202). Es wird indessen ausdrücklich auf Art. 64 Abs. 4 BGG hingewiesen, wonach die begünstigte Partei der Gerichtskasse Ersatz zu leisten hat, wenn sie später dazu in der Lage ist.
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Demnach erkennt die Instruktionsrichterin:
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1.
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Die Beschwerde wird abgeschrieben.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt, einstweilen indes auf die Gerichtskasse genommen.
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3.
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Zufolge Gewährung der unentgeltlichen Verbeiständung wird Rechtsanwalt Daniel Speck, Engelburg, für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- aus der Gerichtskasse entschädigt.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 20. Dezember 2011
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Die Instruktionsrichterin:
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Der Gerichtsschreiber:
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Pfiffner Rauber Fessler
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