BGer 1C_388/2011 | |||
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BGer 1C_388/2011 vom 24.02.2012 | |
Bundesgericht
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Tribunal fédéral
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Tribunale federale
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{T 0/2}
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1C_388/2011
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Urteil vom 24. Februar 2012
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I. öffentlich-rechtliche Abteilung
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Besetzung
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Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
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Bundesrichter Raselli, Merkli,
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Gerichtsschreiber Dold.
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1. Verfahrensbeteiligte
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A.________,
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2. B.________,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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1. C.________,
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2. D.________,
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Beschwerdegegner, beide vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter Steiner,
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Gemeinderat Untersiggenthal, 5417 Untersiggenthal.
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Gegenstand
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Baubewilligung,
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Beschwerde gegen das Urteil vom 4. Juli 2011 des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau, 3. Kammer.
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Sachverhalt:
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A.
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A.________ und B.________ wollen auf dem Mehrfamilienhaus an der X.________strasse in Untersiggenthal (Parzelle Nr. 2224, Gebäude Nr. 887) einen Dachaufbau, bestehend aus zwei Gartenzimmern, errichten. Gegen ihr Baugesuch erhoben unter anderem C.________ und D.________ Einsprache. Mit Beschluss vom 23. Juli 2007 bewilligte der Gemeinderat das Bauvorhaben unter Auflagen und wies die Einsprachen ab.
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Eine von C.________ und D.________ gegen den Beschluss des Gemeinderats erhobene Beschwerde wies das Departement Bau, Verkehr und Umwelt (BVU) des Kantons Aargau mit Entscheid vom 10. Januar 2008 ab. Darauf gelangten C.________ und D.________ ans Verwaltungsgericht des Kantons Aargau. In prozessualer Hinsicht beantragten sie die Sistierung des Verfahrens, bis die Frage der zivilrechtlichen Zulässigkeit des Dachaufbaus beantwortet sei. Das Verwaltungsgericht sistierte das Verfahren formlos und nahm es wieder auf, nachdem C.________ und D.________ auf dem Zivilweg letztinstanzlich vor Bundesgericht unterlegen waren (Urteil 5A_118/2011 vom 23. März 2011). Es hiess die Verwaltungsgerichtsbeschwerde gut und hob den Entscheid des BVU vom 10. Januar 2008 wie auch die Baubewilligung vom 23. Juli 2007 auf.
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B.
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Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten vom 12. September 2011 beantragen A.________ und B.________, das Urteil des Verwaltungsgerichts sei aufzuheben.
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Das Verwaltungsgericht schliesst in seiner Vernehmlassung auf Abweisung der Beschwerde. C.________ und D.________ beantragen, die Beschwerde sei abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden könne. Der Gemeinderat Untersiggenthal hat sich nicht vernehmen lassen. In ihrer Stellungnahme dazu halten die Beschwerdeführer im Wesentlichen an ihren Anträgen und Rechtsauffassungen fest.
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Erwägungen:
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1.
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Dem angefochtenen Entscheid liegt ein Beschwerdeverfahren über eine baurechtliche Bewilligung zugrunde. Nach Art. 34 Abs. 1 RPG (SR 700) gelten für die Rechtsmittel an die Bundesbehörden die allgemeinen Bestimmungen über die Bundesrechtspflege. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten nach Art. 82 lit. a BGG steht auf dem Gebiet des Raumplanungs- und Baurechts zur Verfügung. Das Bundesgerichtsgesetz enthält keinen Ausschlussgrund (Art. 83 BGG). Angefochten ist ein Entscheid einer letzten kantonalen Instanz (Art. 86 Abs. 1 lit. d BGG). Die Beschwerdeführer haben am vorinstanzlichen Verfahren teilgenommen, sind als Baugesuchsteller durch den angefochtenen Entscheid besonders berührt und haben ein schutzwürdiges Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung (Art. 89 Abs. 1 BGG). Auf ihre Beschwerde ist einzutreten.
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2.
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2.1 Die Beschwerdeführer rügen eine Verletzung von § 4 Abs. 2 des Gesetzes des Kantons Aargau vom 19. Januar 1993 über Raumentwicklung und Bauwesen (BauG; SAR 713.100). Sie sind der Ansicht, dass die Beschwerdegegner, die den Einwand der Tragweite der Bestandesgarantie nicht schon im Einspracheverfahren erhoben hätten, mit diesem Vorbringen vor Verwaltungsgericht nicht hätten gehört werden dürfen. Sie berufen sich auf "kantonales verfassungsmässiges Recht", ohne darzulegen, was sie damit konkret meinen. Sinngemäss ist ihre Kritik als Willkürrüge (Art. 9 BV) zu verstehen.
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2.2 Das Verwaltungsgericht legt dar, im erstinstanzlichen Baubewilligungsverfahren gälten grundsätzlich die Offizial- und die Untersuchungsmaxime sowie der Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen. Nach § 4 Abs. 2 BauG müsse zwar eine Baueinsprache mit einem Antrag und einer Begründung versehen werden. Eine Einschränkung des Streitgegenstands im nachfolgenden Beschwerdeverfahren allein aufgrund der Begründung der Baueinsprache habe diese Bestimmung jedoch nicht zur Folge. Entscheidend sei der Antrag. Dieser habe vorliegend bereits in erster Instanz auf (integrale) Ablehnung des Baugesuchs gelautet. Eine Einschränkung des Prozessthemas habe nicht stattgefunden und die Rüge der Verletzung der Bestimmungen über die Besitzstandsgarantie sei deshalb zulässig.
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2.3 Nach der ständigen Praxis des Bundesgerichts liegt Willkür in der Rechtsanwendung vor, wenn der angefochtene Entscheid offensichtlich unhaltbar ist, mit der tatsächlichen Situation in klarem Widerspruch steht, eine Norm oder einen unumstrittenen Rechtsgrundsatz krass verletzt oder in stossender Weise dem Gerechtigkeitsgedanken zuwiderläuft. Das Bundesgericht hebt einen Entscheid jedoch nur auf, wenn nicht bloss die Begründung, sondern auch das Ergebnis unhaltbar ist. Dass eine andere Lösung ebenfalls als vertretbar oder gar zutreffender erscheint, genügt nicht (BGE 137 I 1 E. 2.4 S. 5 mit Hinweisen).
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2.4 § 4 Abs. 2 BauG wurde am 1. Januar 2010 (Datum des Inkrafttretens) revidiert. Die hier anwendbare ursprüngliche Fassung hat, soweit von Interesse, folgenden Wortlaut (AGS 14 S. 310):
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"Die Einsprache ist schriftlich einzureichen und hat einen Antrag und eine Begründung zu enthalten. Wer es unterlässt, Einsprache zu erheben, obwohl Anlass dazu bestanden hätte, kann den ergehenden Entscheid nicht anfechten."
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Aus dem Erfordernis, dass die Einsprache eine Begründung enthalten muss, ist entgegen der Ansicht der Beschwerdeführer nicht automatisch zu schliessen, dass das Prozessthema auf die vorgetragenen Rügen zu beschränken wäre. Auch die im zweiten zitierten Satz verankerte Ausschlusswirkung ist kaum in diesem Sinn zu verstehen; sie bezieht sich auf die Einsprache an sich, nicht die einzelnen Rügen, und erfasst damit nur denjenigen, der (gar) keine Einsprache erhoben hat. Das Verwaltungsgericht weist in seiner Vernehmlassung zuhanden des Bundesgerichts darauf hin, dass es seine Lesart in einem Urteil aus dem Jahr 2008 ausführlich begründet habe (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 13. Mai 2008 E. 2, in: Aargauische Gerichts- und Verwaltungsentscheide [AGVE] 2008 S. 153 ff.). Es sei zum Schluss gekommen, dass die Begrenzung der Beschwerdebefugnis auf den Gegenstand der Einsprache im Hinblick auf die fehlende gesetzliche Grundlage, den Grundsatz der Rechtsanwendung von Amtes wegen, die Untersuchungsmaxime, die Fürsorgepflicht der rechtsanwendenden Behörden und die homogene Rechtsanwendung nicht rechtens sei. Nach dem Gesagten spiegelt sich diese Auffassung auch im Wortlaut von § 4 Abs. 2 BauG wider. Der Vorwurf der willkürlichen Anwendung dieser Bestimmung ist unbegründet.
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3.
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3.1 Die Beschwerdeführer rügen eine willkürliche Anwendung von § 68 lit. b BauG. Nach dieser Bestimmung dürfen rechtmässig erstellte Bauten und Anlagen, die den geltenden Plänen oder Vorschriften widersprechen, angemessen erweitert, umgebaut oder in ihrem Zweck geändert werden, wenn dadurch ihre Rechtswidrigkeit nicht wesentlich verstärkt wird und keine besonderen Nutzungsvorschriften entgegenstehen. Die Beschwerdeführer weisen darauf hin, dass sich das geplante Attikageschoss bei einer formalen Betrachtungsweise gemäss § 14 Abs. 1 und § 16a Abs. 3 der Allgemeinen Verordnung zum Baugesetz des Kantons Aargau (SAR 713.111; ABauV) weder an die Geschosszahl noch an die Gebäudehöhe anzurechnen sei. Das Verwaltungsgericht habe zudem in einem früheren Entscheid den Ersatz eines Flachdachs durch ein Satteldach zugelassen, obwohl das neue Dachgeschoss auf ein bereits rechtswidriges drittes Vollgeschoss aufgebaut worden war (Urteil des Verwaltungsgerichts des Kantons Aargau vom 6. Dezember 2002 E. 2, in: AGVE 2003 S. 187 ff.). Der vorliegende Fall sei gleich zu behandeln. Dies umso mehr, als § 46 BauG das Ziel einer verdichteten Bauweise vorsehe und § 50 BauG bestimme, dass Dach- und Untergeschoss bei im Zeitpunkt des Inkrafttretens dieses Gesetzes bestehenden Bauten auch dann genutzt werden dürften, wenn die Nutzungsziffer dadurch überschritten werde. Im Übrigen würde die nutzbare Wohnfläche gar nicht erhöht, da es sich um unbeheizte Gartenhäuser handle.
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3.2 Das Verwaltungsgericht führt aus, es treffe zu, dass sich das geplante Attikageschoss bei einer formalen Betrachtungsweise weder auf die Geschosszahl noch auf die Gebäudehöhe auswirke. Indessen bedeute dies nicht, dass in einem Fall, wo die bestehende Baute bereits die zulässige Geschosszahl und Gebäudehöhe überschreite, nicht davon ausgegangen werden könne, dass die bestehende Rechtswidrigkeit verstärkt werde. Das bestehende Gebäude weise vorliegend sieben statt der zulässigen vier Geschosse auf und sei 18.7 m statt 12 m hoch. Unter diesen Umständen bedeute das geplante Bauvorhaben eine wesentliche Verstärkung der Rechtswidrigkeit. Es ziele darauf ab, rund 80 % der gesamten Dachfläche als Dachterrasse, Gartenzimmer oder Zugangseinrichtung nutzbar zu machen. Das Attikageschoss sei zudem optisch deutlich wahrnehmbar, insbesondere weil die Umwandung des Treppenaufgangs fassadenbündig angeordnet und zwei Schmalseiten der Dachzimmer lediglich 0.84 m von der Fassadenflucht zurückversetzt werden sollten.
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3.3 Das gesetzliche Kriterium zur Abgrenzung der Tragweite der Bestandesgarantie, die wesentliche Verstärkung der Rechtswidrigkeit, ist ein unbestimmter Rechtsbegriff. Das Verwaltungsgericht hat bei dessen Anwendung auf den vorliegenden Fall auf den Umstand abgestellt, dass das bestehende Gebäude bereits massiv von den geltenden Bauvorschriften abweicht und deshalb eine weitere Abweichung relativ schnell als wesentlich und damit unzulässig einzustufen sei. Dieser Ansatz ist nicht zu beanstanden. Es ist deshalb auch nicht unhaltbar, wenn das Verwaltungsgericht den Bau eines Attikageschosses auf einem bestehenden Gebäude, das sieben statt der zulässigen vier Geschosse aufweist und 18.7 m statt 12 m hoch ist, als wesentliche Verstärkung der Rechtswidrigkeit qualifiziert. Das Verwaltungsgericht durfte insbesondere, ohne in Willkür zu verfallen, auf die optische Erscheinung abstellen und unberücksichtigt lassen, dass ein Attikageschoss nach den Bauvorschriften weder als Geschoss zählt noch bei der Bestimmung der Gebäudehöhe angerechnet wird. Vor diesem Hintergrund ändern auch die Hinweise der Beschwerdeführer auf die verdichtete Nutzung (§ 46 BauG) und die Nutzungsziffer (§ 50 BauG) nichts. Dasselbe gilt für den Hinweis auf das Urteil des Verwaltungsgerichts vom 6. Dezember 2002. Damals ging es um den Ersatz eines Flachdachs durch ein Satteldach auf einem bereits rechtswidrigen dritten Vollgeschoss. Die vorbestehende Abweichung von den Bauvorschriften war in jenem Fall offensichtlich viel weniger weit gehend als hier. Die Rüge der Verletzung von Art. 9 BV ist unbegründet.
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4.
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Die Beschwerde ist abzuweisen. Diesem Ausgang des Verfahrens entsprechend sind die Gerichtskosten den unterliegenden Beschwerdeführern aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Sie haben den obsiegenden, anwaltlich vertretenen Beschwerdegegnern eine dem Aufwand entsprechende Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
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1.
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Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2.
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Die Gerichtskosten von Fr. 3'000.-- werden den Beschwerdeführern auferlegt.
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3.
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Die Beschwerdeführer haben die Beschwerdegegner für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 1'000.-- zu entschädigen.
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4.
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Dieses Urteil wird den Parteien, dem Gemeinderat Untersiggenthal und dem Verwaltungsgericht des Kantons Aargau, 3. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 24. Februar 2012
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Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Fonjallaz
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Der Gerichtsschreiber: Dold
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