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Informationen zum Dokument  BGer 9C_861/2011  Materielle Begründung
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BGer 9C_861/2011 vom 12.03.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_861/2011
 
Urteil vom 12. März 2012
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter U. Meyer, Präsident,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
M.________ vertreten durch
 
Rechtsanwältin Yvonne Furler,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Aargau,
 
Kyburgerstrasse 15, 5000 Aarau,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau
 
vom 27. September 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1963 geborene M.________ war als Facharbeiter bei der G.________ AG tätig. Eigenen Angaben zufolge erlitt er am 4. April 1997 einen Arbeitsunfall, als er bei heftigem Regenwetter auf einer Gerüsttreppe ausrutschte. Im Spital X.________, wo er behandelt wurde, stellten die Ärzte Prellungen an Schulter und Rücken fest. Die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (SUVA) erbrachte bis 31. Dezember 1997 die gesetzlichen Leistungen. Am 24. Februar 1998 meldete sich M.________ unter Hinweis auf generalisierte Schmerzen nach dem Unfall bei der Invalidenversicherung zum Rentenbezug an. Gestützt auf die getroffenen Abklärungen ermittelte die IV-Stelle des Kantons Aargau einen Invaliditätsgrad von 100 %. Demgemäss sprach sie dem Versicherten rückwirkend ab 1. April 1998 eine ganze Invalidenrente zu (Verfügung vom 22. September 1999). Diese Rentenzusprechung wurde wiederholt bestätigt. Im Juli 2009 leitete die IV-Stelle erneut ein Revisionsverfahren ein. Sie veranlasste u.a. eine Untersuchung durch Dr. med. K.________, Dienst R.________ (Bericht vom 21. Oktober 2009) sowie eine interdisziplinäre Begutachtung in der Klinik C.________, Abklärungsstelle E.________, (Expertise vom 14. April 2010). Mit Verfügung vom 6. August 2010 hob die IV-Stelle die Invalidenrente wiedererwägungsweise auf Ende des der Zustellung der Verfügung folgenden Monats auf mit der Begründung, dass seit jeher keine Einschränkung der Arbeitsfähigkeit bestanden habe und somit keine Invalidität im Sinne des Gesetzes vorliege.
 
B.
 
Die hiegegen eingereichte Beschwerde, mit welcher M.________ zur Hauptsache hatte beantragen lassen, unter Aufhebung der Wiedererwägungsverfügung sei ihm weiterhin eine ganze Invalidenrente zuzusprechen, wies das Versicherungsgericht des Kantons Aargau ab (Entscheid vom 27. September 2011).
 
C.
 
Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten lässt M.________ den vorinstanzlich gestellten Hauptantrag erneuern.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhaltes nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Die Vorinstanz hat die Bestimmung über die Wiedererwägung einer rechtskräftigen Verfügung, welche nicht Gegenstand materieller gerichtlicher Beurteilung gebildet hat, unter den Voraussetzungen, dass die Verfügung zweifellos unrichtig ist und ihre Berichtigung als von erheblicher Bedeutung erscheint (Art. 53 Abs. 2 ATSG) und die zu den Wiedererwägungsvoraussetzungen ergangene Rechtsprechung (BGE 117 V 8 E. 2c S. 17; Urteil 9C_845/2009 vom 10. Februar 2010; BGE 125 V 383 E. 3 S. 389) zutreffend dargelegt. Es wird darauf verwiesen.
 
3.
 
Streitig ist, ob die wiedererwägungsweise erfolgte Aufhebung der Invalidenrente Bundesrecht verletzt oder nicht (E. 1 hievor). Im Zusammenhang mit der zweifellosen Unrichtigkeit sind die Feststellungen, welche der Beurteilung dieses unbestimmten Rechtsbegriffs zugrunde liegen, tatsächlicher Natur und folglich nur auf offensichtliche Unrichtigkeit oder Unvollständigkeit überprüfbar (SVR 2008 IV Nr. 53 S. 177 f., I 803/06). Dagegen ist die Auslegung (Konkretisierung) des bundesrechtlichen Begriffs der zweifellosen Unrichtigkeit als Wiedererwägungsvoraussetzung nach Art. 53 Abs. 2 ATSG Bundesrechtsfrage, die frei zu beurteilen ist (SVR 2011 IV Nr. 71 S. 213, 9C_994/2010).
 
3.1 Das kantonale Gericht bestätigte die Rechtmässigkeit der Verfügung vom 6. August 2010, mit welcher die IV-Stelle die seit 1. April 1998 ausgerichtete ganze Invalidenrente wiedererwägungsweise auf Ende September 2010 aufgehoben hatte. Es gelangte in Würdigung der Akten aus der Zeit nach dem Unfall vom 4. April 1997 zum Schluss, dass der Beschwerdeführer nur an psychischen Beeinträchtigungen gelitten habe; hingegen seien keine somatischen Folgen des Unfalls, dessen Hergang unbewiesen geblieben ist und dessen Ablauf der Versicherte selbst zunehmend drastischer schilderte, erstellt. Vor dem Hintergrund der schon damals geltenden Rechtsprechung zur Invalidität aus psychischen Gründen hätte die IV-Stelle dem Beschwerdeführer keine Invalidenrente zusprechen dürfen. Gestützt auf das Gutachten der Abklärungsstelle E.________ vom 14. April 2010 ergebe sich volle Leistungsfähigkeit auch in der angestammten Tätigkeit als Facharbeiter. Eine Invalidität liege damit nicht vor.
 
3.2 Der Beschwerdeführer setzt sich eingehend mit der vorinstanzlichen Beweiswürdigung sowie dem Gutachten der Abklärungsstelle E.________ auseinander und macht insbesondere geltend, die Wiedererwägungsvoraussetzungen seien nicht erfüllt. Die Rentenzusprechung habe sich auf einen Aufenthalt in der Klinik B.________, Berichte des Externen psychiatrischen Dienstes sowie des Hausarztes gestützt und könne nicht als zweifellos unrichtig bezeichnet werden. Dass die Vorinstanz das psychiatrische Gutachten des Dr. med. H.________ vom 9. Juni 1998 nicht berücksichtigt habe, sei als willkürliche Beweiswürdigung zu werten. Weiter weist der Beschwerdeführer wiederholt darauf hin, dass in den 90er Jahren des 20. Jahrhunderts die Zusprechung einer Invalidenrente für die Folgen eines psychischen Leidens an weniger strenge Voraussetzungen geknüpft gewesen sei als heute. Auch sei die Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen erst Jahre nach der ursprünglichen Rentenzusprechung in die Wege geleitet worden.
 
4.
 
4.1 Soweit der Beschwerdeführer über weite Strecken die Beweiswürdigung der Vorinstanz sowie die dieser zugrunde liegenden ärztlichen Berichte und Gutachten beanstandet, ohne im Einzelnen genauer darzulegen, inwiefern eine offensichtlich unrichtige oder sonst wie bundesrechtswidrige Sachverhaltsfeststellung vorliegen soll, kann auf die entsprechenden, rein appellatorischen Rügen im Rahmen der gesetzlichen Überprüfungsbefugnis des Bundesgerichts (E. 1 hievor) nicht eingegangen werden.
 
4.2 Der Einwand des Beschwerdeführers, das kantonale Gericht habe sich zu Unrecht nicht mit dem zuhanden der Krankenversicherung erstellten psychiatrischen Gutachten des Dr. med. H.________ vom 9. Juni 1998 auseinandergesetzt, ist nicht stichhaltig. Wie in der Beschwerde zu Recht festgehalten wird, war die IV-Stelle bei Erlass der ursprünglichen Rentenverfügung nicht im Besitz dieses Gutachtens. Ob es nunmehr als neues Beweismittel beigezogen werden kann, um die Richtigkeit des damaligen Verwaltungsaktes vom 22. September 1999 zu belegen, zumal es nicht um eine prozessuale Revision, sondern um die Wiedererwägung einer Verfügung geht, erscheint fraglich, braucht jedoch nicht näher geprüft zu werden. Denn selbst wenn das Gutachten des Dr. med. H.________ bei der Beurteilung zu berücksichtigen wäre, würde sich am Ergebnis nichts ändern. Die zuhanden der A.________ erstattete Expertise vom 9. Juni 1998 bestätigt zwar die bereits früher gestellte Diagnose einer dissoziativen Störung (Konversionsstörung), gemischt und attestiert dem Versicherten für längere Zeit eine Arbeitsunfähigkeit von 70 % als Facharbeiter wie auch in einer anderen angepassten Tätigkeit. Gleichzeitig weist Dr. med. H.________ jedoch auf ungünstige krankheitsfremde Faktoren hin, vor allem einen Krankheitsgewinn. Der Versicherte müsse nun keiner ausserhäuslichen Tätigkeit mehr nachgehen und habe trotzdem sein Auskommen. Erstaunlicherweise seien die ungünstigen krankheitsfremden Faktoren beim Entscheid der Invalidenversicherung nicht berücksichtigt worden. Dieses wenig kohärente, nicht widerspruchsfreie psychiatrische Gutachten wäre jedenfalls nicht geeignet, die ursprüngliche Verfügung als vertretbar erscheinen zu lassen mit der Folge, dass die Wiedererwägungsvoraussetzungen verneint werden müssten.
 
4.3 Die Behauptung des Beschwerdeführers, die Voraussetzungen für eine Wiedererwägung seien nicht erfüllt, entbehrt auch sonst einer Grundlage. Die Vorinstanz hat gestützt auf die Angaben des Arztes des Dienstes R.________, Dr. K.________, vom 21. Oktober 2009 und das Gutachten der Abklärungsstelle E.________ vom 14. April 2010 zutreffend dargelegt, dass die ursprüngliche Rentenverfügung nicht nur nicht vertretbar, sondern zweifellos unrichtig gewesen ist. Dass dieser verschiedene ärztliche Stellungnahmen zugrunde gelegen haben, trifft zu, vermag aber an dem auf einlässlicher Beweiswürdigung basierenden Ergebnis nichts zu ändern.
 
4.4 Der Aussage, dass in den 90er Jahren des letzten Jahrhunderts Invalidenrenten wegen der wirtschaftlichen Auswirkungen psychischer Gesundheitsschäden unter weniger strengen Voraussetzungen als heute zugesprochen worden sind, mag beigepflichtet werden. Ebenso lag noch keine spezifische Rechtsprechung zu den somatoformen Schmerzstörungen vor. Daraus kann jedoch nicht abgeleitet werden, Invalidenrenten seien bei psychischen Krankheiten ohne eingehende Prüfung der Voraussetzungen ausgerichtet worden, weshalb die Rentengewährung im Fall des Beschwerdeführers jedenfalls nicht als zweifellos unrichtig qualifiziert werden könne. Bereits in EVGE 1961 S. 164 E. 3, bestätigt u.a. in BGE 102 V 165 E. 3 S. 166 f., hat das Eidgenössische Versicherungsgericht die Kriterien umschrieben, welche erfüllt sein müssen, damit eine durch einen psychischen Gesundheitsschaden verursachte Erwerbsunfähigkeit als gegeben zu erachten ist. Entscheidend ist danach, ob anzunehmen sei, die Verwertung der Arbeitsfähigkeit sei der versicherten Person sozial-praktisch nicht mehr zumutbar oder - als alternative Voraussetzung - sogar für die Gesellschaft untragbar. An diesen, vorliegendenfalls klarerweise nicht erfüllten Voraussetzungen für den Anspruch auf eine Invalidenrente aus psychischen Gründen hat das Eidgenössische Versicherungsgericht in der Folge stets festgehalten. Die vorliegend im Wesentlichen gestützt auf eine Konversionsstörung erfolgte Zusprechung einer ganzen Invalidenrente verletzte offensichtlich die Rechtsprechung gemäss BGE 106 V 89 betreffend (wiederholte) Rentenverweigerung bei Neurosen.
 
4.5 Da die Berichtigung der ursprünglichen Rentenvefügung überdies von erheblicher Bedeutung ist, hält die von der Vorinstanz bestätigte Wiedererwägung der ursprünglichen Rentenverfügung vom 22. September 1999 mit der Verfügung der IV-Stelle vom 6. August 2010 vor Bundesrecht stand.
 
5.
 
Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 12. März 2012
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Meyer
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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