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Informationen zum Dokument  BGer 2C_823/2011  Materielle Begründung
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BGer 2C_823/2011 vom 28.06.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
2C_823/2011, 2C_824/2011
 
Urteil vom 28. Juni 2012
 
II. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Zünd, Präsident,
 
Bundesrichter Seiler, Stadelmann,
 
Gerichtsschreiberin Genner.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Peter Bürki,
 
gegen
 
Kantonales Steueramt St. Gallen, Davidstrasse 41, Postfach 1245, 9001 St. Gallen.
 
Gegenstand
 
Staats- und Gemeindesteuern sowie direkte Bundessteuer 2007; Fristwiederherstellung,
 
Beschwerden gegen die Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 29. August 2011.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
X.________ hatte für das Steuerjahr 2007 keine Steuererklärung eingereicht, weshalb er am 8. Dezember 2009 vom kantonalen Steueramt St. Gallen (nachfolgend: Steueramt) für die Staats- und Gemeindesteuern 2007 sowie für die direkte Bundessteuer 2007 nach Ermessen veranlagt wurde. Am 22. Januar 2010 erhob X.________ Einsprache gegen die Ermessensveranlagungen und reichte gleichzeitig die Steuererklärung für das Jahr 2007 ein.
 
Am 27. Januar 2010 teilte das Steueramt X.________ mit, die Einsprachen seien verspätet eingereicht worden, so dass darauf nicht eingetreten werden könne. Sollte X.________ an den Einsprachen festhalten wollen, habe er innert Frist Nachweise betreffend seinen Gesundheitszustand, welcher die Wahrnehmung seiner Rechte verhindert haben solle, einzureichen.
 
Am 11. Februar 2010 legte X.________ ein Arztzeugnis von Dr. med. Y.________ vom 8. Februar 2010 vor, mit folgendem Wortlaut:
 
"Herr X.________ ist bei mir in ambulanter Behandlung.
 
Ich kann bestätigen, dass Herr X.________ aus gesundheitlichen Gründen nicht fähig war, administrative Angelegenheiten wie die Steuererklärung voran- respektive zum Abschluss zu bringen."
 
B.
 
Am 17. Februar 2010 trat das Steueramt auf die Einsprachen wegen Verspätung nicht ein. Die dagegen erhobenen Rekurse wies die Verwaltungsrekurskommission des Kantons St. Gallen am 17. Februar 2011 ab. Das Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen bestätigte diese Entscheide mit Urteilen vom 29. August 2011.
 
C.
 
X.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit den Anträgen, die angefochtenen Entscheide seien aufzuheben, die Frist für die Einsprachen vom 15. Januar 2010 sei wiederherzustellen und die Streitsache sei zur materiellen Behandlung an die Vorinstanz zurückzuweisen.
 
Es wurde kein Schriftenwechsel durchgeführt.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Angefochten sind zwei Urteile des Verwaltungsgerichts des Kantons St. Gallen betreffend die Staats- und Gemeindesteuern sowie die direkte Bundessteuer 2007. Sie haben die gleichen Sach- und Rechtsfragen zum Gegenstand, weshalb die beiden Verfahren zu vereinigen sind (Art. 71 BGG in Verbindung mit Art. 24 Abs. 1 ZPO [SR 272]).
 
1.2 Die Beschwerden sind zulässig (vgl. Art. 82 ff. BGG in Verbindung mit Art. 146 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die direkte Bundessteuer [DBG; SR 642.11] bzw. mit Art. 73 des Bundesgesetzes vom 14. Dezember 1990 über die Harmonisierung der direkten Steuern der Kantone und Gemeinden [StHG; SR 642.14]).
 
2.
 
Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem die Verletzung von Bundesrecht (inklusive Bundesverfassungsrecht), Völkerrecht und kantonalen verfassungsmässigen Rechten geltend gemacht werden (Art. 95 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Die Feststellung des Sachverhalts kann nur beanstandet werden, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Die Rüge, der Sachverhalt sei offensichtlich unrichtig festgestellt worden, ist gleichzusetzen mit der Willkürrüge (BGE 137 I 58 E. 4.1.2 S. 62; 133 II 249 E. 1.2.2 S. 252).
 
I. Direkte Bundessteuer
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz begründet ihren Entscheid damit, die Einsprache sei am 22. Januar 2010 unbestrittenermassen verspätet eingereicht worden und ein Fristwiederherstellungsgrund nach Art. 133 Abs. 3 DBG sei nicht gegeben. Die vom Beschwerdeführer behauptete Krankheit sei nicht rechtsgenügend dargetan. Das eingereichte Arztzeugnis sei sehr allgemein gehalten. Zum einen gehe daraus nicht hervor, dass der Beschwerdeführer infolge Krankheit nicht in der Lage gewesen sei, administrative Arbeiten zu erledigen. Zum anderen nenne es den Zeitpunkt nicht, in dem die behauptete Krankheit eingetreten und wieder weggefallen sei. Es sei nicht die Aufgabe der Steuerjustizbehörden, den Beschwerdeführer zur Beschaffung von tauglichen Beweismitteln anzuhalten oder solche nachzufordern. Nachdem es dem Beschwerdeführer möglich gewesen sei, im Bussenverfahren vor dem Steueramt innert 14 Tagen zu reagieren und am 15. Januar 2010 die Einsprache gegen die Bussenverfügung zurückzuziehen, sei nicht ersichtlich, warum er nicht rechtzeitig Einsprache gegen die Veranlagungsverfügung habe erheben können.
 
3.2 Der Beschwerdeführer macht geltend, das Steueramt habe die Frist zur Einreichung der Einsprache zu Unrecht nicht wiederhergestellt, was die Vorinstanz in Verletzung des Willkürverbots und des Anspruchs auf rechtliches Gehör verkannt habe.
 
Aufgrund anhaltender schwerer Krankheit habe er die Einsprache gegen die Ermessensveranlagung nicht vorher verfassen und rechtzeitig einreichen können. Dr. med. Y.________ habe diese Unfähigkeit zur Besorgung administrativer Angelegenheiten bestätigt. Die Vorinstanz habe den Sachverhalt willkürlich festgestellt, indem sie erwogen habe, aus dem Arztzeugnis gehe nicht hervor, dass der Beschwerdeführer infolge Krankheit dazu nicht in der Lage gewesen sei.
 
Die Vorinstanz habe seinen Anspruch auf rechtliches Gehör verletzt, indem sie ihn an der Aufklärung des Sachverhalts nicht habe teilhaben lassen. Er habe ein Recht auf Abnahme der angebotenen Beweismittel, sofern sie eine erhebliche Tatsache betreffen würden. Ferner bestehe ein Anspruch auf Kenntnisnahme des Beweisverfahrens mit der Möglichkeit, sich zu äussern. Das Steueramt hätte ihm das Ergebnis des Beweisverfahrens mitteilen und ihm Gelegenheit einräumen müssen, ein konkreteres Arztzeugnis einzureichen.
 
Zudem habe die Vorinstanz ihr Ermessen missbraucht und das Willkürverbot verletzt, indem sie angegeben habe, es sei nicht die Aufgabe der Steuerjustizbehörden, ihn zur Beschaffung von tauglichen Beweismitteln anzuhalten oder solche nachzufordern.
 
4.
 
Gegenstand der Veranlagungsverfügung, gegen welche die Einsprache erhoben wurde, ist die direkte Bundessteuer 2007. Deshalb richtet sich das Verfahren nach den Vorschriften des DBG und nicht, wie der Beschwerdeführer meint, nach der ZPO.
 
4.1 Gegen die Veranlagungsverfügung kann die steuerpflichtige Person innert 30 Tagen nach Zustellung bei der Veranlagungsbehörde schriftlich Einsprache erheben (Art. 132 Abs. 1 DBG). Die Frist beginnt mit dem auf die Eröffnung folgenden Tag; sie gilt als eingehalten, wenn die Einsprache am letzten Tag der Frist bei der Veranlagungsbehörde eingelangt ist, der Schweizerischen Post oder einer schweizerischen diplomatischen oder konsularischen Vertretung im Ausland übergeben wurde (Art. 133 Abs. 1 DBG). Auf verspätete Einsprachen wird nur eingetreten, wenn die steuerpflichtige Person nachweist, dass sie durch Militär- oder Zivildienst, Krankheit, Landesabwesenheit oder andere erhebliche Gründe an der rechtzeitigen Einreichung verhindert war und dass die Einsprache innert 30 Tagen nach Wegfall der Hinderungsgründe eingereicht wurde (Art. 133 Abs. 3 DBG).
 
4.2 Im vorliegenden Fall hat die Frist nach den verbindlichen und nicht bestrittenen Feststellungen der Vorinstanz am 12. Dezember 2009 zu laufen begonnen und am 11. Januar 2010 geendet. Die am 22. Januar 2010 der Post übergebene Einsprache wurde somit zu spät eingereicht. Zu prüfen ist daher, ob die Voraussetzungen für die Wiederherstellung der Einsprachefrist erfüllt waren.
 
4.2.1 Dem Beschwerdeführer ist der Nachweis der Tatsache, welche die Vornahme der Rechtshandlung verhindert haben soll, nicht gelungen. Zwar geht - entgegen den Erwägungen der Vorinstanz - aus dem eingereichten Arztzeugnis hervor, dass der Beschwerdeführer "aus gesundheitlichen Gründen nicht fähig war, administrative Angelegenheiten wie die Steuererklärung voran- respektive zum Abschluss zu bringen". Es ist jedoch nicht ersichtlich, welche Beeinträchtigungen zu dieser Unfähigkeit geführt haben sollen; es hätte dem Beschwerdeführer freigestanden, seinen Arzt in diesem Fall von der ärztlichen Schweigepflicht zu entbinden. Das Bundesgericht hat in einem früheren Urteil entschieden, dass ein Arztzeugnis, in dem ohne nähere Angabe von Gründen eine gänzliche Arbeitsunfähigkeit in einem bestimmten Zeitraum bescheinigt wird, nicht als Nachweis im Sinn von Art. 133 Abs. 3 DBG gelten kann (Urteil 2A.248/2003 vom 8. August 2003 E. 3). Im vorliegenden Fall kommt hinzu, dass das Arztzeugnis keinen Zeitpunkt nennt, in dem die behauptete Krankheit eingetreten und wieder weggefallen ist. Der Passus "in ambulanter Behandlung" lässt zudem vermuten, dass keine akute Erkrankung vorlag, welche den Beschwerdeführer daran gehindert hätte, die Einreichung der Einsprache zu delegieren. Die diesbezüglichen Erwägungen der Vorinstanz sind schlüssig. Indem sie dem Arztzeugnis vom 8. Februar 2010 keine Beweiskraft beimass, hat die Vorinstanz den Sachverhalt nicht offensichtlich unrichtig im Sinn von Art. 97 BGG festgestellt.
 
4.2.2 Zum Anspruch auf rechtliches Gehör gemäss Art. 29 Abs. 2 BV gehört das Recht, sich vor Erlass eines in die Rechtsstellung eingreifenden Entscheids zur Sache zu äussern, erhebliche Beweise beizubringen, Einsicht in die Akten zu nehmen, mit erheblichen Beweisanträgen gehört zu werden und an der Erhebung wesentlicher Beweise entweder mitzuwirken oder sich zumindest zum Beweisergebnis zu äussern, wenn dieses geeignet ist, den Entscheid zu beeinflussen (BGE 132 V 368 E. 3.1). Beweisergebnis im Sinn dieser Rechtsprechung sind beispielsweise die Aussage eines Zeugen, die Auskunft einer Auskunftsperson, das Gutachten eines Experten oder die am Augenschein getroffenen Feststellungen (Urteil 1C_258/2007 vom 26. Februar 2008 E. 2.3.1). Sofern die Parteien an der Erhebung dieser Beweise nicht mitgewirkt haben, muss ihnen Gelegenheit zur Stellungnahme eingeräumt werden. Davon zu unterscheiden ist die Beweiswürdigung und die sich darauf stützende Sachverhaltsfeststellung der Behörde: Sie wird regelmässig erst im Entscheid selbst begründet und muss den Parteien grundsätzlich nicht vorab zur Stellungnahme unterbreitet werden (Urteil 1C_258/2007 vom 26. Februar 2008 E. 2.3.1).
 
Das Steueramt hat den Beschwerdeführer vor dem Erlass des Nichteintretensentscheids darauf aufmerksam gemacht, er habe den Nachweis zu erbringen dafür, dass sein Gesundheitszustand die Wahrnehmung seiner Rechte verhindert habe. Es trifft somit nicht zu, dass der Beschwerdeführer an der Mitwirkung der Sachaufklärung nicht teilhaben konnte. Das eingereichte Arztzeugnis wurde vom Steueramt (und in den Rechtsmittelverfahren von den Vorinstanzen) gewürdigt. Nachdem der Beschwerdeführer Gelegenheit zur Stellungnahme und Einreichung von Beweisen erhalten hatte, musste das Steueramt ihn nicht darauf hinweisen, dass seine Beweisführung ungenügend sei. Indem es den Beschwerdeführer auf seine Beweispflicht hingewiesen und den angebotenen Beweis abgenommen hat, hat das Steueramt dem Anspruch auf rechtliches Gehör Genüge getan. Die Vorinstanz hat demnach eine Gehörsverletzung zu Recht verneint.
 
4.2.3 Da das Steueramt nach dem Gesagten nicht verpflichtet war, dem Beschwerdeführer ein zweites Mal Gelegenheit zur vorgängigen Stellungnahme zu geben, kann in dessen Verfahrensführung weder ein Ermessensmissbrauch noch eine Verletzung des Willkürverbots erblickt werden.
 
4.3 Die Voraussetzungen für eine Wiederherstellung der Einsprachefrist waren somit nicht erfüllt. Die Vorinstanz hat den erstinstanzlichen Nichteintretensentscheid zu Recht bestätigt.
 
II. Kantons- und Gemeindesteuern
 
5.
 
Gemäss Art. 30 Abs.1 des Gesetzes vom 16. Mai 1965 über die Verwaltungsrechtspflege (sGS 951.1) finden im Kanton St. Gallen für die Fristwiederherstellung die Bestimmungen der ZPO Anwendung, sofern dieser Erlass nichts anderes vorsieht. Art. 148 Abs. 1 ZPO erlaubt auf Gesuch hin die Wiederherstellung einer (behördlichen oder gesetzlichen) Frist, wenn die Partei glaubhaft macht, dass sie kein oder nur ein leichtes Verschulden trifft. Nach der Lehre trifft die Person, welche die ihr bekannte Frist bewusst verpasst, nicht nur ein leichtes Verschulden (DENIS TAPPY, in: Code de procédure civile commenté, 2011, N. 16 zu Art. 148 ZPO). Es kann vorliegend offen bleiben, ob und inwiefern sich die Voraussetzungen für eine Fristwiederherstellung im Verfahren vor den Steuerbehörden, insbesondere in Bezug auf den erforderlichen Beweisgrad, im Bund und im Kanton St. Gallen unterscheiden. Denn wie dargelegt macht der Beschwerdeführer ohnehin nicht glaubhaft, dass seine Säumnis nicht oder nur leicht verschuldet gewesen wäre. Demgemäss erweist sich auch die Beschwerde gegen den Entscheid der Vorinstanz betreffend Kantons- und Gemeindesteuern 2007 als unbegründet.
 
6.
 
Aus den vorstehenden Erwägungen ergibt sich, dass die Beschwerden abzuweisen sind. Bei diesem Ausgang des Verfahrens wird der unterliegende Beschwerdeführer kostenpflichtig (Art. 65 und Art. 66 Abs. 1 BGG). Parteientschädigungen sind nicht geschuldet (Art. 68 Abs. 1 und 3 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Verfahren 2C_823/2011 und 2C_824/2011 werden vereinigt.
 
2.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten betreffend die Staats- und Gemeindesteuern 2007 wird abgewiesen.
 
3.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten betreffend die direkte Bundessteuer 2007 wird abgewiesen.
 
4.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 1'500.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
5.
 
Dieses Urteil wird den Verfahrensbeteiligten, dem Verwaltungsgericht des Kantons St. Gallen und der Eidgenössischen Steuerverwaltung schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 28. Juni 2012
 
Im Namen der II. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Zünd
 
Die Gerichtsschreiberin: Genner
 
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