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Informationen zum Dokument  BGer 1B_253/2012  Materielle Begründung
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BGer 1B_253/2012 vom 19.07.2012
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
1B_253/2012
 
Urteil vom 19. Juli 2012
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Fonjallaz, Präsident,
 
Bundesrichter Karlen, Eusebio,
 
Gerichtsschreiber Dold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________, Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Y.________, Beschwerdegegnerin,
 
Einwohnergemeinde Engelberg, vertreten durch den Einwohnergemeinderat, Dorfstrasse 1, Postfach 158, 6391 Engelberg,
 
Staatsanwaltschaft Obwalden,
 
Polizeigebäude Foribach, Postfach 1561,
 
6061 Sarnen.
 
Gegenstand
 
Strafverfahren; Nichtanhandnahmeverfügung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 21. März 2012 des Obergerichts des Kantons Obwalden.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Am 13. Februar 2008 erstattete der Sozialdienst der Einwohnergemeinde Engelberg, handelnd durch Y.________, Strafanzeige gegen X.________ wegen Verdachts auf Betrug. Zur Begründung wurde ausgeführt, X.________ beziehe seit 1993 Sozialhilfe. Im Jahr 2002 hätten sich jedoch Hinweise ergeben, dass er regelmässig Feriengäste beherberge und auf diese Weise monatliche Einkünfte von rund Fr. 6'000.-- bis Fr. 9'000.-- erziele.
 
Mit Strafbefehl vom 18. Juni 2010 verurteilte das Verhöramt Obwalden X.________ wegen mehrfachen Beschäftigens eines Ausländers ohne Bewilligung sowie wegen Widerhandlung gegen das Gastgewerbegesetz und das Tourismusgesetz zu einer bedingten Geldstrafe von 120 Tagessätzen zu Fr. 30.-- bei einer Probezeit von zwei Jahren sowie zu einer Busse von Fr. 700.--. Das Verfahren wegen Betrugs und Urkundenfälschung wurde mit Verfügung gleichen Datums eingestellt.
 
Am 11. November 2010 erstatte X.________ Strafanzeige bzw. Strafklage gegen die Einwohnergemeinde Engelberg sowie gegen Y.________ wegen Nötigung, falscher Anschuldigung, Irreführung der Rechtspflege und Amtsmissbrauchs. Dabei machte er eine Zivilforderung von Fr. 198'880.-- geltend. Zur Begründung verwies er auf die Strafanzeige vom 13. Februar 2008 und behauptete, diese enthalte Unwahrheiten und Mutmassungen. Mit Verfügung vom 13. April 2011 entschied die Staatsanwaltschaft Obwalden, das Verfahren sei nicht anhand zu nehmen. Eine von X.________ gegen diese Verfügung erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Obwalden mit Entscheid vom 21. März 2012 ab, soweit es darauf eintrat.
 
B.
 
Mit Beschwerde in Strafsachen vom 26. April 2012 beantragt X.________ sinngemäss die Aufhebung des angefochtenen Entscheids, einschliesslich der Kostenfolgen.
 
Das Obergericht und die Einwohnergemeinde Engelberg beantragen die Abweisung der Beschwerde. Y.________ und die Staatsanwaltschaft haben sich nicht vernehmen lassen.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Der angefochtene Entscheid betrifft die Nichtanhandnahme einer Strafuntersuchung. Dagegen ist die Beschwerde in Strafsachen nach Art. 78 ff. BGG gegeben. Der Beschwerdeführer hat am Verfahren vor der Vorinstanz teilgenommen; deren Entscheid kann sich auf die vom Beschwerdeführer geltend gemachten Zivilforderungen auswirken. Die Beschwerdelegitimation ist deshalb zu bejahen (Art. 81 Abs. 1 lit. a und lit. b Ziff. 5 BGG). Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen geben zu keinen Bemerkungen Anlass. Auf die Beschwerde ist grundsätzlich einzutreten.
 
1.2 Nicht einzutreten ist auf die Beschwerde allerdings insoweit, als der Beschwerdeführer das Verhalten des Verhörrichters kritisiert. Dessen Verfahrensführung und der von ihm erlassene Strafbefehl bilden nicht Gegenstand des vorliegenden Verfahrens (Art. 42 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
2.1 Bei der Frage, ob ein Strafverfahren über eine Nichtanhandnahme oder eine (definitive) Verfahrenseinstellung durch die Strafverfolgungsbehörde erledigt werden kann, gilt im schweizerischen Strafprozessrecht der Grundsatz "in dubio pro duriore". Dieser Grundsatz fliesst aus dem Legalitätsprinzip (Art. 5 Abs. 1 BV und Art. 2 Abs. 1 StPO i.V.m. Art. 309 Abs. 1, Art. 319 Abs. 1 und Art. 324 Abs. 1 StPO; zur amtlichen Publikation bestimmtes Urteil 1B_687/2011 vom 27. März 2012 E. 4.2). Er bedeutet, dass eine Nichtanhandnahme oder Einstellung durch die Staatsanwaltschaft grundsätzlich nur bei klarer Straflosigkeit bzw. offensichtlich fehlenden Prozessvoraussetzungen angeordnet werden darf. Bei der Beurteilung dieser Frage verfügen die Staatsanwaltschaft und die Vorinstanz über einen gewissen Spielraum, den das Bundesgericht mit Zurückhaltung überprüft. Hingegen ist das Verfahren an die Hand zu nehmen bzw. Anklage zu erheben (sofern die Erledigung mit einem Strafbefehl nicht in Frage kommt), wenn eine Verurteilung wahrscheinlicher erscheint als ein Freispruch (vorerwähntes Urteil 1B_687/2011 vom 27. März 2012 E. 4.1.1; BGE 137 IV 219 E. 7.1-7.2 S. 226 f.; je mit Hinweisen). Falls sich die Wahrscheinlichkeiten eines Freispruchs oder einer Verurteilung in etwa die Waage halten, drängt sich in der Regel, insbesondere bei schweren Delikten, ebenfalls eine Anklageerhebung auf (Urteil 1B_687/2011 vom 27. März 2012 E. 4.1.2 mit Hinweis).
 
2.2 Das Obergericht begründete die Nichtanhandnahme in Bezug auf die einzelnen in der Strafanzeige aufgeführten Tatbestände (Nötigung, falsche Anschuldigung, Irreführung der Rechtspflege und Amtsmissbrauch) wie folgt:
 
In Bezug auf den Vorwurf der Nötigung (Art. 181 StGB) gelte es zu beachten, dass Behördenmitglieder und Beamte nach dem damals geltenden Recht verpflichtet gewesen seien, Verbrechen und Vergehen, die ihnen in ihrer amtlichen Tätigkeit bekannt wurden, unverzüglich anzuzeigen. Da der Verdacht bestanden habe, der Beschwerdeführer habe einen Betrug begangen, seien der Sozialdienst und insbesondere die Beschwerdegegnerin verpflichtet gewesen, Anzeige zu erstatten. Es gebe zudem keine Anhaltspunkte dafür, dass mit der Anzeige bezweckt worden sei, dem Beschwerdeführer Nachteile zuzufügen. Die erfolgte Vermögenssperre, die Einstellung der Unterstützungsleistungen und der Verlust der Arbeitsstelle hätten den Beschwerdeführer ohne Zweifel hart getroffen. Sie seien indessen nicht beabsichtigt, sondern die Folge des eingeleiteten Strafverfahrens gewesen.
 
Hinsichtlich des Tatbestands der falschen Anschuldigung (Art. 303 StGB) und der Irreführung der Rechtspflege (Art. 304 StGB) unterschied das Obergericht drei verschiedene Aspekte. Der Betrugsvorwurf gegenüber dem Beschwerdeführer im Zusammenhang mit der IV-Kinderrente sei nicht von der Beschwerdegegnerin erhoben worden; vielmehr habe sich ein entsprechender Anfangsverdacht im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen ergeben. Eine falsche Anschuldigung durch die Beschwerdegegnerin liege damit von vornherein nicht vor. Die Vorwürfe des mehrfachen Beschäftigens eines Ausländers ohne Bewilligung sowie der Widerhandlung gegen das Gastgewerbegesetz und das Tourismusgesetz seien insofern berechtigt gewesen, als der Beschwerdeführer mit Strafbefehl vom 18. Juni 2010 verurteilt worden sei. Eine Anzeige wider besseres Wissen lasse sich ausschliessen. Dass die Anzeige nicht auf die genannten Tatbestände, sondern auf Betrug gelautet habe, sei nicht von Belang. Der Vorwurf, die Beschwerdegegnerin habe Beweismittel unterschlagen, treffe ebenfalls nicht zu. Insgesamt seien somit klarerweise weder der Tatbestand der falschen Anschuldigung noch jener der Irreführung der Rechtspflege erfüllt.
 
Da nach dem Gesagten erstellt sei, dass der Sozialdienst den Beschwerdeführer nicht wider besseres Wissen angezeigt habe, könne der Beschwerdegegnerin auch nicht vorgeworfen werden, ihre Amtsgewalt missbraucht zu haben. In der Erhebung der Strafanzeige gegen den Beschwerdeführer sei keine unrechtmässige Anwendung von Machtbefugnissen zu erblicken.
 
2.3 Der Beschwerdeführer macht geltend, es treffe nicht zu, dass sich der Verdacht auf unrechtmässigen Bezug einer IV-Kinderrente erst im Rahmen der polizeilichen Ermittlungen ergeben habe. Vielmehr gebe es eine Strafklage vom 21. Juli 2008, unterschrieben von A.________, Mitarbeiter der Einwohnergemeinde Engelberg. Die Beschwerdegegnerin habe gewusst, dass die Vorwürfe falsch waren. Es sei zudem ihre Aufgabe gewesen, die IV-Kinderrente abzumelden, habe sie sie doch kassiert. Weiter sei unzutreffend, dass die Vermögenssperre, die Einstellung der Unterstützungsleistungen und der Verlust der Arbeitsstelle die Folge des Strafverfahrens gewesen seien. Es handle sich dabei um von "der Beschwerdegegnerin & Co." eingeleitete und vom Verhörrichter aufrechterhaltene Massnahmen. Er sei also sehr wohl genötigt worden. Weiter stelle sich die Frage, wie der Verhörrichter ermitteln solle, wenn er nicht die kompletten Unterlagen habe. Erst nach der Intervention seiner Pflichtverteidigerin habe dieser die Korrespondenz vom Sozialamt Engelberg verlangt. Dabei habe sich gezeigt, dass die Beschwerdegegnerin das kantonale Steueramt absichtlich falsch informiert habe. Sie habe gegenüber dem kantonalen Steueramt behauptet, dass er Krankenkassenprämienausstände besitze. Darauf seien die Prämienverbilligungen direkt an das Sozialamt Engelberg weitergeleitet worden. Die Beschwerdegegnerin habe ihn bestohlen und ihr Amt missbraucht. Dieser Diebstahl dauere schon seit dem Jahr 2000, indem die Beschwerdegegnerin die Höhe der ergänzenden Unterstützung absichtlich falsch berechne.
 
2.4 Falsche Anschuldigung im Sinne von Art. 303 Ziff. 1 Abs. 1 StGB begeht, wer einen Nichtschuldigen wider besseres Wissen bei der Behörde eines Verbrechens oder Vergehens beschuldigt, in der Absicht, eine Strafverfolgung gegen ihn herbeizuführen. Auch der Tatbestand der Irreführung der Rechtspflege gemäss Art. 304 Ziff. 1 Abs. 1 StGB setzt ein Handeln wider besseres Wissen voraus.
 
In der von der Beschwerdegegnerin verfassten Strafanzeige vom 13. Februar 2008 wird der Vorwurf des unrechtmässigen Bezugs einer IV-Kinderrente nicht erwähnt. Die Vorinstanz führt in dieser Hinsicht aus, der Verdacht habe sich erst im Rahmen der Ermittlungen ergeben. Bei einer Hausdurchsuchung sei festgestellt worden, dass der Sohn des Beschwerdeführers immer noch eine IV-Kinderrente bezog, obwohl er die Lehre bereits abgeschlossen hatte. Die Nachfrage bei der Beschwerdegegnerin habe diese Erkenntnisse bestätigt. Auch der Hinweis des Beschwerdeführers auf das Formular zur Ausübung der Parteirechte vom 21. Juli 2008 vermöge daran nichts zu ändern, werde doch darin keine IV-Kinderrente erwähnt.
 
Ob es die Aufgabe der Beschwerdegegnerin gewesen wäre, die IV-Kinderrente "abzumelden", wie der Beschwerdeführer geltend macht, ist vorliegend nicht von Bedeutung. Die entscheidende Frage ist, ob es Hinweise darauf gibt, dass sie die Strafverfolgungsbehörden in dieser Hinsicht wissentlich falsch informiert hat. Im Formular "Parteirechte" zum Strafverfahren wird gegen den Beschwerdeführer und seinen Sohn eine Strafklage und eine Zivilklage im Umfang von Fr. 2'216.-- erhoben. Aus den Akten ist ersichtlich, dass sich dieser Betrag tatsächlich auf die IV-Kinderrente bezieht, welche von der Ausgleichskasse Luzern an die Gemeinde Engelberg überwiesen worden war. Der Hinweis der Vorinstanz, es werde im Formular gar keine IV-Kinderrente erwähnt, ist demnach unzutreffend. Entscheidend ist indessen, dass das betreffende Formular nicht von der Beschwerdegegnerin, sondern von A.________ unterschrieben worden ist. Es ist naheliegend, dass die betreffende Zivil- und Strafklage aufgrund einer unzweckmässigen Verwaltungsorganisation bzw. aufgrund mangelhafter Kommunikation zwischen A.________ und der Beschwerdegegnerin erhoben wurde. Anzeichen dafür, dass dies wider besseres Wissen geschah, bestehen nicht. Im Ergebnis hat die Vorinstanz deshalb kein Bundesrecht verletzt, indem sie die Nichtanhandnahmeverfügung in Bezug auf den Vorwurf der falschen Anschuldigung und der Irreführung der Rechtspflege bestätigte.
 
Ist die Rüge des Beschwerdeführers in Bezug auf die genannten beiden Tatbestände unbegründet, so kann ihm auch nicht gefolgt werden, wenn er die strafprozessualen Zwangsmassnahmen auf unrechtmässiges Verhalten der Beschwerdegegnerin zurückführt. Eine Nötigung im Sinne von Art. 181 StGB liegt somit klarerweise nicht vor.
 
Die weiteren vom Beschwerdeführer erhobenen Rügen gehen an der Sache vorbei, soweit sie überhaupt hinreichend begründet werden (Art. 42 Abs. 2 BGG). So ist nicht nachvollziehbar, weshalb der Beschwerdeführer der Beschwerdegegnerin Unterschlagung von Beweismitteln vorwirft, zumal sie offenbar die den Beschwerdeführer betreffende Korrespondenz ohne Weiteres herausgegeben hat. Schliesslich ist festzuhalten, dass allein eine falsche Information gegenüber dem kantonalen Steueramt über ausstehende Krankenkassenprämien oder die falsche Berechnung von Unterstützungsleistungen nicht strafbar ist. Für die Annahme eines Diebstahls oder Amtsmissbrauchs fehlen Anhaltspunkte.
 
3.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf einzutreten ist. Der Beschwerdeführer stellt sinngemäss ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege. Da das Rechtsmittel aussichtslos erscheint, ist dem Gesuch nicht zu entsprechen; es rechtfertigt sich indessen, angesichts der besonderen Verhältnisse auf die Erhebung von Gerichtskosten zu verzichten (Art. 64 und 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegnerin, die sich im bundesgerichtlichen Verfahren nicht hat vernehmen lassen, ist keine Parteientschädigung zuzusprechen.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2.
 
Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
 
3.
 
Es wird keine Parteientschädigung zugesprochen.
 
4.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, der Einwohnergemeinde Engelberg, der Staatsanwaltschaft Obwalden und dem Obergericht des Kantons Obwalden schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 19. Juli 2012
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Fonjallaz
 
Der Gerichtsschreiber: Dold
 
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