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Informationen zum Dokument  BGer 9C_776/2012  Materielle Begründung
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BGer 9C_776/2012 vom 08.01.2013
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
{T 0/2}
 
9C_776/2012
 
Urteil vom 8. Januar 2013
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Meyer, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichterinnen Pfiffner Rauber, Glanzmann,
 
Gerichtsschreiberin Bollinger Hammerle.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
KPT/CPT Krankenkasse AG,
 
Tellstrasse 18, 3014 Bern,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
B.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Krankenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Bern
 
vom 16. August 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
B.________, geboren 1951, besuchte am 19. Juni 2011 als Zuschauer den Frauenlauf in Bern. Dabei kollidierte er mit einer temporär aufgestellten Orientierungstafel und zog sich eine Zahnverletzung zu. Die KPT Krankenkasse AG, Bern (nachfolgend: KPT), als obligatorische Krankenversicherung des B.________ verneinte mit Verfügung vom 29. August 2011 ihre Leistungspflicht für die Zahnbehandlung und hielt daran mit Einspracheentscheid vom 25. Januar 2012 fest.
 
B.
 
In Gutheissung der hiegegen erhobenen Beschwerde des B.________ hob das Verwaltungsgericht des Kantons Bern mit Entscheid vom 16. August 2012 den Einspracheentscheid auf und verpflichtete die KPT zur Bezahlung der Kosten für die zahnärztliche Behandlung in Höhe von Fr. 2'684.30.
 
C.
 
Die KPT führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten und beantragt die Aufhebung des angefochtenen Entscheides.
 
Erwägungen:
 
1.
 
Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten (Art. 82 ff. BGG) kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 f. BGG erhoben werden. Seinem Urteil legt das Bundesgericht den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann eine - für den Ausgang des Verfahrens entscheidende (vgl. Art. 97 Abs. 1 BGG) - Sachverhaltsfeststellung von Amtes wegen nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Das kantonale Gericht legt die Bestimmungen und Grundsätze zum Unfallbegriff nach Art. 4 ATSG, insbesondere zum Begriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit (vgl. die zu Art. 9 Abs. 1 UVV ergangene, geltende Rechtsprechung: BGE 134 V 72 E. 4.1 S. 76, 129 V 402 E. 2.1. S. 404, 122 V 230 E. 1 S. 232) zutreffend dar. Richtig ist insbesondere, dass gemäss Art. 31 Abs. 2 KVG die obligatorische Krankenpflegeversicherung die Kosten der Behandlung von Schäden des Kausystems übernimmt, die durch einen Unfall nach Art. 1a Abs. 2 lit. b KVG verursacht worden sind, soweit dafür - wie hier unstrittig der Fall - keine Unfallversicherung aufkommt.
 
3.
 
3.1 Die Vorinstanz stellte fest, es sei mit überwiegender Wahrscheinlichkeit davon auszugehen, dass der Versicherte im Gedränge der Zuschauer des Frauenlaufs am 19. Juni 2011 über den Sockel einer Orientierungstafel gestolpert sei und sich dabei den Kopf bzw. den Mund an der Tafel angestossen habe. Das Gericht erwog, damit sei der ungewöhnliche äussere Faktor und und somit ein Unfall im Sinne des Gesetzes zu bejahen. Im Übrigen würde bereits das Anschlagen des Kopfes bzw. Mundes an einer Orientierungstafel ein sinnfälliges, nicht regelmässig beim Gehen in einer Menschenmenge vorkommendes Zusatzereignis darstellen, das für sich allein die Ungewöhnlichkeit des Geschehens begründe.
 
3.2 Die Beschwerde führende Krankenversicherung rügt sinngemäss, im angefochtenen Entscheid werde ein Unfall zu Unrecht bejaht. Der Beschwerdegegner habe sich den Zahnschaden zugezogen, als er anlässlich des Frauenlaufs mit einem Schild zusammengestossen sei. Ein ungewöhnlicher äusserer Faktor sei darin nicht zu sehen und der rechtliche Unfallbegriff nicht erfüllt, da es - gemäss dem Beweiswürdigungsprinzip der Aussagen der ersten Stunde - an einem programmwidrigen Element (Stolpern) fehle. Des weiteren habe die Vorinstanz zu Unrecht auf die erstmals in der Einsprache geltend gemachte Sachverhaltsvariante abgestellt, wonach der Versicherte in der Zuschauermasse gedrängt worden und deshalb über den Sockel des Schildes gestolpert sei.
 
4.
 
4.1 Es steht fest, dass der Beschwerdegegner als Zuschauer des Frauenlaufes in Bern am 19. Juni 2011 mit einer provisorisch aufgestellten Orientierungstafel kollidierte und sich dabei vorne rechts einen Zahn abbrach. Mit Unfallmeldung vom 21. Juni 2011 schilderte er den Unfall so, dass er mit dem Kopf (Mund) gegen eine Orientierungstafel gestossen sei und sich dabei den Zahn abgeschlagen habe. Der behandelnde Zahnarzt (Dr. med. dent. F.________) hielt auf dem Formular für Zahnschäden am 22. Juni 2011 fest, der Versicherte sei gegen eine Strassentafel gestossen. Mit Schreiben vom 28. Juni 2011 ersuchte die Krankenkasse den Versicherten um eine ausführlichere Beschreibung des Unfallherganges. Mit E-Mail vom 4. Juli 2011 gab dieser an, er habe seinen Kopf (Mund, Zahn) an einer aufgestellten Orientierungstafel angeschlagen. Durch den Aufprall sei vorne rechts ein Zahn abgebrochen. Die Tafel sei anlässlich des Frauenlaufs in Bern provisorisch von den Veranstaltern aufgestellt worden. Am 18. Juli 2011 schrieb die Beschwerdeführerin dem Versicherten, ihre Prüfung habe ergeben, dass es an der Ungewöhnlichkeit des äusseren Faktors fehle, weshalb die Kosten für die Zahnbehandlung nicht übernommen werden könnten. Der Beschwerdegegner präzisierte daraufhin am 23. Juli 2011, er sei beim Gehen in der Stadt anlässlich des Frauenlaufs von Bern im Gedränge der Zuschauer mit dem Kopf/Mund gegen eine Orientierungstafel gestossen und habe sich beim heftigen, plötzlichen und unerwarteten Aufprall den vorderen Zahn ausgeschlagen. Mit Schreiben vom 5. August 2011 teilte die Versicherung dem Beschwerdegegner mit, damit der Unfallbegriff bei zahnschädigenden Vorfällen erfüllt werde, sei regelmässig ein Stürzen, Stolpern etc. gefordert, somit ein zusätzliches "Störelement", welches den programmgemässen Bewegungsablauf beeinträchtige. Daran fehle es, weil der Bewegungsablauf bei der Einschätzung seiner Position zur Orientierungstafel durch nichts gestört worden sei. Mit Telefonanruf vom 12. August 2011 teilte der Versicherte der Beschwerdeführerin mit, er sei gedrängt worden und anschliessend über den Sockel der Tafel gestolpert. Dass er das Stolpern bis dahin nicht erwähnt habe, sei "logisch"; er habe sich möglichst kurz halten wollen.
 
4.2 Am 29. August 2011 erliess die Beschwerdeführerin die leistungsablehnende Verfügung und begründete diese damit, dass die erste Sachverhaltsschilderung wahrscheinlicher sei als die dritte, bereits von versicherungsrechtlichen Überlegungen beeinflusste Darstellung. Einspracheweise brachte der Beschwerdegegner vor, er sei anlässlich des Frauenlaufes von Bern in der Stadt im Gedränge der Zuschauer von hinten gestossen worden und deshalb über den Sockel der provisorisch aufgestellten Orientierungstafel gestolpert. Durch den heftigen, plötzlichen und unerwarteten Aufprall habe er seinen Kopf/Mund an der Tafel angeschlagen und den bekannten Zahn ausgeschlagen. In der Annahme, es sei der Versicherung bekannt, dass provisorisch aufgestellten Tafeln immer mit einem Sockel versehen würden, habe er diesen nicht speziell erwähnt. Dieser Sockel und das Stossen im Zuschauergedränge seien Ursachen des Stolperns gewesen.
 
5.
 
5.1 Unbestritten erwähnte der Versicherte das Stolpern erst, als er bereits von der ablehnenden Haltung der Beschwerdeführerin wusste. In der Tat ist denkbar, dass er mit der Tafel kollidierte und sich die Zahnverletzung zuzog, ohne von der Menschenmenge gestossen worden oder über den Sockel der Orientierungstafel gestolpert zu sein. Wie es sich damit verhält, ist indes gar nicht entscheidend. Davon abgesehen, dass die Beschwerdeführerin nach Eingang der Unfallmeldung und des Zahnschadenformulars den Versicherten nie präzise danach gefragt hatte, ob er gestossen worden oder gestolpert sei, namentlich nicht bevor sie ihm ihre ablehnende Haltung eröffnete, stehen seine präzisierenden Schilderungen jedenfalls nicht im Widerspruch zu seinen ursprünglichen Angaben und können insoweit weder als inkonsistent noch als insgesamt unglaubhaft bezeichnet werden (vgl. Urteil 8C_50/2012 vom 1. März 2012 E. 5.5). Die auf einer vertretbaren Beweiswürdigung beruhende Schlussfolgerung der Vorinstanz, wonach der Zahnschaden höchstwahrscheinlich dadurch verursacht wurde, dass der Versicherte im Gedränge der Zuschauer über den Sockel der Tafel stolperte, kann in Würdigung aller Umstände nicht als offensichtlich unrichtig oder sonstwie rechtsfehlerhaft bezeichnet werden. Daran vermögen auch die Vorbringen der Beschwerdeführerin nichts zu ändern, weshalb die Beweiswürdigung und die in diesem Zusammenhang getroffenen Feststellungen des kantonalen Gerichts letztinstanzlich verbindlich sind (E. 1 hievor).
 
5.2 Entscheidend aber ist, dass nach den zutreffenden Erwägungen im angefochtenen Entscheid ein Zusammenstoss mit einem äusseren Faktor erfolgte und das Anschlagen des Kopfes an der provisorisch aufgestellten Informationstafel bereits für sich allein den Unfallbegriff erfüllt (BGE 134 V 72 E. 4.3.3 S. 82; Urteil U 143/04 vom 20. Dezember 2004). Das Vorbringen der Beschwerdeführerin, bei Zahnschäden werde der Unfallbegriff regelmässig nur erfüllt, wenn die versicherte Person stürze oder stolpere etc. entspricht nicht bundesgerichtlicher Rechtsprechung. Entgegen der im vorinstanzlichen Beschwerdeverfahren angeführten Praxis der Beschwerdeführerin kann der ungewöhnliche äussere Faktor grundsätzlich auch darin liegen, dass die körperliche Bewegung durch ein Anstossen an einem Gegenstand gestört wird (RKUV 2004 U 502 S. 183 f. E. 4.1). Ebenfalls keine Stütze findet die Argumentation der Versicherung in der beschwerdeweise angeführten Literatur. Namentlich Kieser/Landolt (Unfall - Haftung - Versicherung, 2012, § 1 Rz. 40) weisen - in Übereinstimmung mit der soeben angeführten Rechtsprechung - explizit darauf hin, der ungewöhnliche Faktor könne (ausserhalb der Nahrungsaufnahme) auch darin bestehen, dass der Zahn durch einen Stoss oder ein Anschlagen beschädigt werde. Die Zahnverletzung infolge eines Zusammenstosses mit einer temporär aufgestellten Orientierungstafel lässt sich nicht nur zweifelsfrei einem äusseren Faktor zuordnen. Mit dem Anschlagen des Zahns an einer solchen Tafel ist darüber hinaus ein sinnfälliges und nicht regelmässig beim Gehen auf der Strasse - auch nicht in einer Menschenmenge - vorkommendes Zusatzereignis gegeben, das für sich allein die Ungewöhnlichkeit des Geschehens begründet (vgl. Urteil 9F_7/2008 vom 9. September 2008 E. 2.1.2 mit Hinweis). Hinsichtlich der bereits vorinstanzlich angeführten und vom kantonalen Gericht mit zutreffender Begründung verworfenen Argumente der fehlenden Weichteilverletzung und der vorgeschädigten bzw. reparierten Nachbarzähne hat das Bundesgericht dem angefochtenen Entscheid nichts mehr beizufügen.
 
5.3 Zusammenfassend hält der angefochtene Entscheid vor Bundesrecht stand und es bleibt dabei, dass die Beschwerdeführerin für die Folgen der Zahnschädigung aufzukommen hat.
 
6.
 
Entsprechend dem Ausgang des Verfahrens sind die Gerichtskosten der unterliegenden Beschwerdeführerin aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 600.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Bern, Sozialversicherungsrechtliche Abteilung, und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 8. Januar 2013
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Meyer
 
Die Gerichtsschreiberin: Bollinger Hammerle
 
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