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Informationen zum Dokument  BGer 8C_682/2012  Materielle Begründung
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BGer 8C_682/2012 vom 07.03.2013
 
Bundesgericht
 
Tribunal fédéral
 
Tribunale federale
 
8C_682/2012 {T 0/2}
 
Urteil vom 7. März 2013
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
 
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiber Nabold.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle Basel-Landschaft,
 
Hauptstrasse 109, 4102 Binningen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
R.________,
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Kantonsgerichts Basel-Landschaft,
 
vom 7. Juni 2012.
 
Sachverhalt:
 
A.
 
Der 1955 geborene R.________ bezieht seit 1. Dezember 2007 eine ganze Invalidenrente und eine Kinderrente für seine 1993 geborene Tochter U.________. Nachdem U.________ im Jahre 2011 18 Jahre alt geworden war, wurde die Kinderrente per 31. Juli 2011 eingestellt. Mit Verfügung vom 23. August 2011 lehnte die IV-Stelle des Kantons Basel-Landschaft eine Wiederausrichtung einer Kinderrente ab, da das Praktikum, welches U.________ seit 1. August 2011 absolviere, nicht als Ausbildung anerkannt werden könne.
 
B.
 
Die von R.________ hiegegen erhobene Beschwerde hiess das Kantonsgericht Basel-Landschaft mit Entscheid vom 7. Juni 2012 gut und sprach dem Versicherten ab 1. August 2011 eine Kinderrente für seine Tochter U.________ zu. Gleichzeitig verpflichtete das Gericht die IV-Stelle, dem Versicherten eine Parteientschädigung in der Höhe von Fr. 2000.- auszurichten.
 
C.
 
Mit Beschwerde beantragt die IV-Stelle, es sei unter Aufhebung des kantonalen Gerichtsentscheides ihre Verfügung vom 23. August 2011 zu bestätigen, eventuell sei unter Aufhebung von Dispositivziffer 3 des kantonalen Gerichtsentscheides auf die Zusprechung einer Parteientschädigung für das vorinstanzliche Verfahren zu verzichten.
 
R.________ und das Bundesamt für Sozialversicherungen schliessen auf Abweisung der Beschwerde. Gleichzeitig stellt R.________ sinngemäss ein Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege.
 
Erwägungen:
 
1.
 
1.1 Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann wegen Rechtsverletzungen gemäss Art. 95 und 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist folglich weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann eine Beschwerde mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 132 II 257 E. 2.5 S. 262; 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Immerhin prüft das Bundesgericht, unter Berücksichtigung der allgemeinen Begründungspflicht der Beschwerde (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG), grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen, sofern die rechtlichen Mängel nicht geradezu offensichtlich sind. Es ist jedenfalls nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu untersuchen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen werden (BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254).
 
1.2 Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann deren Sachverhaltsfeststellung berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
 
2.
 
Streitig ist der Anspruch auf Kinderrente ab 1. August 2011. Dabei steht fest und ist unbestritten, dass die Tochter des Versicherten ab 1. August 2011 ein einjähriges Praktikum bei ihrem zukünftigen Lehrbetrieb, der Firma X.________ AG, absolvierte. Ebenfalls liegt ausser Streit, dass dieses Praktikum für die von ihr angestrebte Verkaufslehre weder gesetzlich noch reglementarisch vorgeschrieben war, ihr aber zugesichert worden war, bei erfolgreicher Tätigkeit als Praktikantin einen Lehrvertrag zu erhalten. Streitig und zu prüfen ist demgegenüber, ob ein solches Praktikum als Ausbildung im Sinne des Gesetzes anerkannt werden kann.
 
3.
 
3.1 Männer und Frauen, denen eine Invalidenrente zusteht, haben in Anwendung von Art. 35 Abs. 1 IVG für jedes Kind, das im Falle ihres Todes eine Waisenrente der Alters- und Hinterlassenenversicherung beanspruchen könnte, Anspruch auf eine Kinderrente. Anspruch auf eine Waisenrente haben nach Art. 25 Abs. 1 AHVG Kinder, deren Vater oder Mutter gestorben ist. Der Anspruch auf die Waisenrente entsteht gemäss Art. 25 Abs. 4 AHVG am ersten Tag des dem Tode des Vaters oder der Mutter folgenden Monats. Er erlischt mit der Vollendung des 18. Altersjahres oder mit dem Tod der Waise. Für Kinder, die noch in Ausbildung sind, dauert der Rentenanspruch nach Art. 25 Abs. 5 AHVG bis zu deren Abschluss, längstens aber bis zum vollendeten 25. Altersjahr. Der Bundesrat kann festlegen, was als Ausbildung gilt.
 
3.2 Der Bundesrat hatte von seiner Kompetenz, festzulegen, was als Ausbildung gilt, ursprünglich keinen Gebrauch gemacht. Auf den 1. Januar 2011 hat er die AHVV um die Art. 49bis und Art. 49ter ergänzt. Gemäss Art. 49bis Abs. 1 AHVV ist ein Kind nunmehr in Ausbildung, wenn es sich auf der Grundlage eines ordnungsgemässen, rechtlich oder zumindest faktisch anerkannten Bildungsganges systematisch und zeitlich überwiegend entweder auf einen Berufsabschluss vorbereitet oder sich eine Allgemeinausbildung erwirbt, die Grundlage bildet für den Erwerb verschiedener Berufe.
 
Grund für diese Ergänzung war gemäss den Erläuterungen des Bundesamtes für Sozialversicherungen (BSV) zu dieser Verordnungsbestimmung die Zunahme unklarer Fälle. Angesichts der vielfältigen Ausbildungswege der jungen Leute sei nicht mehr immer eindeutig, ob sie sich in Ausbildung befinden oder nicht. Unter anderem solle durch den Erlass von Art. 49bis AHVV die Möglichkeit genutzt werden, Brückenangebote wie Motivationssemester und Vorlehren als Ausbildung anzuerkennen. Allerdings könne längst nicht jede praktische Tätigkeit mit tiefem Lohn als Ausbildung im Sinne der AHV gelten. Insbesondere bei Praktika, bei denen nicht zum Vorneherein ein bestimmter Berufsabschluss angepeilt werde, sei besonders zu prüfen, ob eine systematische Vorbereitung auf ein Berufsziel hin erfolge, und zwar auf der Grundlage eines ordnungsgemässen Lehrganges.
 
3.3
 
3.3.1 Auf den 1. Januar 2011 hat das BSV Randziffer 3361 seiner Wegleitung über die Renten (RWL) in der Eidgenössischen Alters-, Hinterlassenen- und Invalidenversicherung wie folgt neu gefasst:
 
"Ein Praktikum wird als Ausbildung anerkannt, wenn es
 
- eine Voraussetzung bildet für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung, oder
 
- zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird."
 
3.3.2 Diese Randziffer der RWL wurde auf den 1. Januar 2012 abermals revidiert und lautet nunmehr:
 
"Ein Praktikum wird als Ausbildung anerkannt, wenn es gesetzlich oder reglementarisch
 
- für die Zulassung zu einem Bildungsgang oder zu einer Prüfung, vorausgesetzt ist, oder
 
- zum Erwerb eines Diploms oder eines Berufsabschlusses verlangt wird."
 
3.3.3 Darüber hinaus wurde die RWL ebenfalls auf den 1. Januar 2012 um eine Randziffer 3361.1 mit folgendem Wortlaut ergänzt:
 
"Sind die Voraussetzungen von Rz. 3361 nicht erfüllt, so wird ein Praktikum trotzdem als Ausbildung anerkannt, wenn
 
- vom Betrieb schriftlich zugesichert wird, dass das Kind bei Eignung nach Abschluss des Praktikums eine Lehrstelle im betreffenden Betrieb erhält und
 
- das Praktikum im betreffenden Betrieb höchstens ein Jahr dauert."
 
3.3.4 Verwaltungsweisungen richten sich an die Durchführungsstellen und sind für das Sozialversicherungsgericht nicht verbindlich. Dieses soll sie bei seiner Entscheidung aber berücksichtigen, sofern sie eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren gesetzlichen Bestimmungen zulassen. Das Gericht weicht also nicht ohne triftigen Grund von Verwaltungsweisungen ab, wenn diese eine überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben darstellen. Insofern wird dem Bestreben der Verwaltung, durch interne Weisungen eine rechtsgleiche Gesetzesanwendung zu gewährleisten, Rechnung getragen (BGE 133 V 587 E. 6.1 S. 591, 133 V 257 E. 3.2 S. 258 mit Hinweisen; vgl. BGE 133 II 305 E. 8.1 S. 315).
 
4.
 
4.1 Es steht fest, dass das Praktikum, welches die Tochter des Beschwerdegegners in der Zeit ab 1. August 2011 absolvierte, den Erfordernissen der auf den 1. Januar 2012 in die RWL eingefügten Rz. 3361.1 entspricht. Streitig ist einerseits die Anwendung dieser Randziffer auf den Zeitraum vor dem 1. Januar 2012, andererseits die grundsätzliche Gesetzes- und Verordnungskonformität dieser Wegleitungsbestimmung.
 
4.2 In seiner zwischen 1. Januar 2011 und 31. Dezember 2011 geltenden Fassung unterschied Rz. 3361 RWL nicht zwischen gesetzlich oder reglementarisch vorgeschriebenen Praktika einerseits und faktisch notwendigen Praktika andererseits (vgl. E. 3.3.1 hievor). Diese Unterscheidung wurde erst auf den 1. Januar 2012 in die RWL aufgenommen. Gemäss dem Wortlaut der jeweils geltenden RWL war demnach sowohl vor wie auch nach dem 1. Januar 2012 eine Anerkennung lediglich faktisch notwendiger Praktika möglich. Somit ist das kantonale Gericht nicht von der jeweils geltenden RWL abgewichen, wenn es einen Anspruch auf Kinderrente bereits ab 1. August 2011 zugesprochen hat.
 
4.3 Zu prüfen ist somit, ob die Anerkennung bloss faktisch notwendiger Praktika als Ausbildung durch die RWL gegen Art. 49bis Abs. 1 AHVV verstösst. In dieser Verordnungsbestimmung werden nicht bloss rechtlich, sondern auch faktisch anerkannte Bildungsgänge als Ausbildung qualifiziert. Zudem ergibt sich aus den Erläuterungen des BSV zu dieser Verordnungsbestimmung, dass nicht jede Form von Praktika ausgeschlossen werden sollte, sondern dass "echte" Praktika durchaus als Ausbildung anerkannt werden können. Damit stellt sich die Frage, wie ein solches der Ausbildung dienendes Praktikum von bloss niedrig bezahlter Erwerbsarbeit unterschieden werden kann. Zur Beantwortung dieser Frage erscheint es als zweckmässig, bei der Notwendigkeit dieser Praktika für das angestrebte Berufsziel anzusetzen. Akzeptiert man notwendige Praktika als zur Ausbildung gehörend, so wirkt es als zweitrangig, ob diese gesetzlich oder reglementarisch vorgeschrieben oder bloss faktisch geboten sind. Die entsprechende Regelung in der RWL stellt somit eine dem Einzelfall angepasste und gerecht werdende Auslegung der anwendbaren Verordnungsbestimmung dar. Triftige Gründe, sich über diese überzeugende Konkretisierung der rechtlichen Vorgaben hinwegzusetzen, sind keine erkennbar. Zwar vermag in der Tat die Tendenz potenzieller Lehrbetriebe, jungen Lehrinteressierten nicht direkt einen Lehrvertrag anzubieten, sondern von diesen zunächst ein Praktikum zu verlangen, als bildungspolitisch bedenklich erscheinen. Wie das BSV in seiner Vernehmlassung jedoch zutreffend ausführt, kann es nicht Aufgabe der Invalidenversicherung sein, dieser Tendenz auf Kosten der Versicherten entgegenzuwirken. Zweck der Kinderrente der Invalidenversicherung für volljährige Kinder ist - wie jener der Waisenrenten der AHV für volljährige Waisen (vgl. EVGE 1950 S. 61 E. 1 S. 62 ff.) - die Förderung der beruflichen Ausbildung. Das volljährige Kind eines invaliden Elternteils soll durch die Invalidität seines Vaters oder seiner Mutter in seinem beruflichen Weiterkommen nicht behindert sein. Würde aus den genannten bildungspolitischen Überlegungen ein Anspruch bei einem bloss faktisch notwendigen Praktikum verneint, so hätte dies unter Umständen zur Folge, dass ein solches Kind die von ihm gewünschte Ausbildung nicht antreten könnte. Es wäre alsdann gezwungen, eine Lehrstelle in einem Beruf zu suchen, welcher weniger seinen Fähigkeiten und Neigungen entspricht. Dies würde aber dem Zweck der Kinderrente im Ergebnis zuwiderlaufen.
 
4.4 Die Qualifikation eines bloss faktisch notwendigen Praktikums als Ausbildung im Sinne von Art. 49bis Abs. 1 AHVV ist demnach nicht zu beanstanden; die Beschwerde der IV-Stelle Basel-Landschaft im Hauptpunkt ist demgemäss abzuweisen.
 
5.
 
In ihrem Eventualstandpunkt rügt die IV-Stelle die Zusprache einer Parteientschädigung an den obsiegenden Versicherten, da dieser im Zeitpunkt des kantonalen Entscheides nicht mehr vertreten gewesen sei. Obsiegt die durch einen Anwalt oder eine Anwältin einer gemeinnützigen Organisation (im Sinne von BGE 135 I 1) vertretene Partei, so hat sie praxisgemäss Anspruch auf eine Parteientschädigung (SVR 2010 IV Nr. 27 S. 83, 9C_688/2009 E. 5.2). Für die grundsätzliche Entschädigungspflicht nicht von Bedeutung (wohl aber allenfalls bei der Bemessung der Entschädigung) ist der Umstand, dass die Parteivertreterin ihr Mandat während des Verfahrens niederlegt. Dies gilt umso mehr, als sich der Aufwand im konkreten Fall mehr oder weniger in der Beschwerdeerhebung erschöpfte. Die Zusprache einer Parteientschädigung im vorinstanzlichen Verfahren ist demnach nicht zu beanstanden. Die Beschwerde der IV-Stelle ist somit auch in diesem Punkt abzuweisen.
 
6.
 
Dem Prozessausgang entsprechend sind die Gerichtskosten der unterliegenden IV-Stelle aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Damit wird das Gesuch des Beschwerdegegners um unentgeltliche Rechtspflege im Sinne einer Befreiung von den Gerichtskosten gegenstandslos.
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1.
 
Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2.
 
Die Gerichtskosten von Fr. 500.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3.
 
Dieses Urteil wird den Parteien, dem Kantonsgericht Basel-Landschaft, Abteilung Sozialversicherungsrecht, und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 7. März 2013
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Leuzinger
 
Der Gerichtsschreiber: Nabold
 
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