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Informationen zum Dokument  BGer 8C_999/2012  Materielle Begründung
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BGer 8C_999/2012 vom 28.10.2013
 
{T 0/2}
 
8C_999/2012
 
 
Urteil vom 28. Oktober 2013
 
 
I. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Leuzinger, Präsidentin,
 
Bundesrichter Ursprung, Frésard, Maillard, Bundesrichterin Heine,
 
Gerichtsschreiberin Durizzo.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
L.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Bruno Häfliger,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG, Litigation Hauptbranchen, 8085 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Unfallversicherung (Unfallbegriff),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn
 
vom 16. November 2012.
 
 
Sachverhalt:
 
A. L.________, geboren 1955, unterzog sich am 27. September 2010 einer Herzoperation (Aortenklappenersatz). Nachdem er aus der Narkose erwacht war, konnte er zunächst nur noch "wie durch eine verschlagene Scheibe", nach einigen Tagen gar nichts mehr sehen. Gemäss gutachtlicher Einschätzung des PD Dr. med. S.________, Oberarzt Herzchirurgie, Spital X.________, vom 22. Mai 2011 ist es durch einen beim Eingriff aufgetretenen Insult des Sehnervs (ischämische Optikusneuropathie) zu einem irreversiblen kompletten Sehverlust (Amaurose) an beiden Augen gekommen. Mit Verfügung vom 31. August 2011 und Einspracheentscheid vom 26. Oktober 2011 lehnte die Zürich Versicherungs-Gesellschaft AG (nachfolgend: Zürich), bei welcher L.________ für die Folgen von Berufs- und Nichtberufsunfällen sowie Berufskrankheiten versichert war, ihre Leistungspflicht ab mit der Begründung, dass der ärztliche Eingriff nicht als Unfall im Rechtssinne zu qualifizieren sei.
1
B. Die dagegen erhobene Beschwerde wies das Versicherungsgericht des Kantons Solothurn mit Entscheid vom 16. November 2012 ab.
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C. L.________ lässt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten führen und die Zusprechung der gesetzlichen Leistungen aus Unfallversicherung beantragen.
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Die Zürich und das Bundesamt für Gesundheit verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Die Beschwerde kann wegen Rechtsverletzung gemäss Art. 95 und Art. 96 BGG erhoben werden. Das Bundesgericht wendet das Recht von Amtes wegen an (Art. 106 Abs. 1 BGG). Es ist somit weder an die in der Beschwerde geltend gemachten Argumente noch an die Erwägungen der Vorinstanz gebunden; es kann eine Beschwerde aus einem anderen als dem angerufenen Grund gutheissen und es kann sie mit einer von der Argumentation der Vorinstanz abweichenden Begründung abweisen (vgl. BGE 130 III 136 E. 1.4 S. 140). Gemäss Art. 42 Abs. 1 BGG ist die Beschwerde hinreichend zu begründen, andernfalls wird darauf nicht eingetreten (Art. 108 Abs. 1 lit. b BGG). Das Bundesgericht prüft grundsätzlich nur die geltend gemachten Rügen; es ist nicht gehalten, wie eine erstinstanzliche Behörde alle sich stellenden rechtlichen Fragen zu prüfen, wenn diese vor Bundesgericht nicht mehr vorgetragen wurden. Es kann die Verletzung von Grundrechten und von kantonalem und interkantonalem Recht nur insofern prüfen, als eine solche Rüge in der Beschwerde vorgebracht und begründet worden ist (Art. 106 Abs. 2 BGG).
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1.2. Im Beschwerdeverfahren um die Zusprechung oder Verweigerung von Geldleistungen der Militär- oder Unfallversicherung ist das Bundesgericht nicht an die vorinstanzliche Feststellung des rechtserheblichen Sachverhalts gebunden (Art. 97 Abs. 2 und Art. 105 Abs. 3 BGG).
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2. Das kantonale Gericht hat die Bestimmungen und Grundsätze zum Unfallbegriff (Art. 4 ATSG) und insbesondere zur Beurteilung des Begriffsmerkmals der Ungewöhnlichkeit bei ärztlichen Eingriffen (BGE 121 V 35 E. 1b S. 38; 118 V 283 E. 2b S. 284) zutreffend dargelegt. Darauf wird verwiesen.
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3. Die Vorinstanz hat sinngemäss im Wesentlichen erwogen, dass die durchgeführte Herzoperation gestützt auf das vom Unfallversicherer eingeholte Gutachten des PD Dr. med. S.________ weder ganz erheblich vom medizinisch Üblichen abgewichen noch mit entsprechend grossen Risiken verbunden gewesen sei. Dass zufolge der Operation eine ischämische Optikusneuropathie aufgetreten war, musste nach der vorinstanzlichen Beurteilung unbeachtlich bleiben mit der Begründung, das Unfallbegriffsmerkmal der Ungewöhnlichkeit beziehe sich nicht auf die Wirkung des äusseren Faktors, sondern allein auf diesen selber.
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Beschwerdeweise wird zur Begründung der Ungewöhnlichkeit geltend gemacht, dass eine komplette irreversible Optikusneuropathie mit totalem Sehverlust gemäss den Angaben des Gutachters nach chirurgischen Eingriffen nur äusserst selten auftrete.
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4. Entscheidwesentlich ist, ob die Gesundheitsschädigung durch Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors verursacht worden ist.
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4.1. Nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ist der äussere Faktor ungewöhnlich, wenn er - nach einem objektiven Massstab - nicht mehr im Rahmen dessen liegt, was für den jeweiligen Lebensbereich alltäglich und üblich ist (BGE 134 V 72 E. 4.1 S. 76; 118 V 283 E. 2a S. 284). Dies gilt auch, wenn zu beurteilen ist, ob ein ärztlicher Eingriff den gesetzlichen Unfallbegriff erfüllt (BGE 118 V 283 E. 2b S. 284). Es ist indessen nach der Praxis mit dem Erfordernis der Aussergewöhnlichkeit streng zu nehmen, wenn eine medizinische Massnahme in Frage steht (BGE 121 V 35 E. 1b S. 38; 118 V 283 E. 2b S. 284). Die Vornahme des medizinischen Eingriffs muss unter den jeweils gegebenen Umständen vom medizinisch Üblichen ganz erheblich abweichen und zudem, objektiv betrachtet, entsprechend grosse Risiken in sich schliessen. Im Rahmen einer Krankheitsbehandlung, für welche der Unfallversicherer nicht leistungspflichtig ist, kann ein Behandlungsfehler ausnahmsweise den Unfallbegriff erfüllen, wenn es sich um grobe und ausserordentliche Verwechslungen und Ungeschicklichkeiten oder sogar um absichtliche Schädigungen handelt, mit denen niemand rechnet noch zu rechnen braucht. Ob ein Unfall im Sinne des obligatorischen Unfallversicherungsrechts vorliegt, beurteilt sich unabhängig davon, ob der beteiligte Mediziner einen Kunstfehler begangen hat, der eine (zivil- oder öffentlich-rechtliche) Haftung begründet. Ebenso wenig besteht eine Bindung an eine allfällige strafrechtliche Beurteilung des ärztlichen Verhaltens (RKUV 1988 Nr. U 36 S. 42 E. 3a; BGE 118 V 283 E. 2b S. 284, E. 3b S. 285; RKUV 1999 Nr. U 333 S. 195 E. 4a). Der vorliegende Fall bietet keinen Anlass, von dieser Rechtsprechung abzuweichen.
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4.2. Zu der im vorliegenden Fall zu beurteilenden Herzoperation führte der vom Unfallversicherer beauftragte Gutachter PD Dr. med. S.________ aus, dass eine Verletzung der Arteria mammaria anlässlich einer Herzoperation vorkommen könne. Ferner sei der durch die Operation erfolgte irreversible Sehverlust medizinisch gesichert. Der eingetretene Schaden entspreche einem Risiko von 0.54 zu 100'000 und sei eine sehr seltene Komplikation bei chirurgischen Eingriffen. Die Verletzung der Arterie habe zu einem Insult (Blutverlust und Blutdruckabfall) und einer anterioren ischämischen Optikusneuropathie (Augeninfarkt) geführt. Auf die eingetretene Unterschreitung der zerebralen Mindestperfusion sei mit der Abgabe von vasoaktiven Substanzen (Noradrenalin) reagiert worden. Die ärztlichen Massnahmen hätten dabei nicht vom medizinisch Üblichen abgewichen. Bezüglich der Vorkehren zum Schutz vor Augenschädigungen führte der Gutachter aus, es bestünden keine konkreten Massnahmen während einer Narkose, um den inneren Augendruck zu messen. Sodann hätten keine Anzeichen oder Warnsignale für einen überhöhten Innendruck der Augen bestanden. Zudem sei es während der Narkose/Intubation nicht möglich, den Patienten neurologisch auf Sichtfeld zu überprüfen. Weiter führte er hinsichtlich der Optikusneuropathie aus, der Sehnerv werde nur oberflächlich vaskuliert, weshalb er sehr anfällig auf Minderdurchblutung sei. Ein solches Krankheitsbild stelle eine absolute Notfallsituation dar, welche ohne Behandlung zu irreversiblen Schäden führe. Im vorliegenden Fall habe erst vier Tage später (nach Extubation) der Sehverlust festgestellt werden können, zu einem Zeitpunkt, in dem die Erblindung bereits irreversibel gewesen sei.
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4.3. Demnach ist der kausale Zusammenhang zwischen dem chirurgischen Eingriff und dem Sehverlust gemäss den Ausführungen des Gutachters medizinisch gesichert. Ohne Aortenklappenoperation wäre es nicht zur Optikusneuropathie gekommen. Ob aber namentlich die vom Gutachter erwähnte Verletzung der Arteria mammaria bei der Sternotomie (Zugang zum Herz durch Durchtrennung des oberen Teils des Brustbeins) für den Sehverlust kausal war, lässt sich dem Gutachten nicht schlüssig und zweifelsfrei entnehmen. Insbesondere stellt sich die Frage, weshalb die Verletzung eines relativ kleinen arteriellen Gefässes einen hämodynamisch wirksamen Einbruch zur Folge haben konnte, zumal es sich bei dieser Verletzung gemäss den gutachtlichen Erörterungen um eine bekannte Komplikation handelt. Weshalb es dennoch - zufolge der Gefässverletzung oder aus einem anderen, aus dem Gutachten nicht ersichtlichen Grund - zu der nach Angaben des Gutachters nach chirurgischen Eingriffen äusserst seltenen ischämischen Optikusneuropathie mit totalem Sehverlust gekommen ist, bleibt erklärungsbedürftig. Das Gutachten lässt zudem offen, ob die Minderdurchblutung des Sehnervs direkt auf den hämodynamisch wirksamen Einbruch (Kreislaufinstabilität) zurückzuführen ist, und wie lange eine derartige Kreislaufinstabilität dauern muss, bis eine entsprechende Komplikation eintritt. Denn der für Laien schwierig zu verstehende Bericht über den Anästhesie-Verlauf erweckt den Eindruck, dass anlässlich der Ministernotomie zwar eine Korrektur mit Noradrenalin stattgefunden hat, aber eine Verletzung der Arterie mit den Pacemaker (PM) -Elektroden in Zusammenhang gebracht wurde, was eine Versorgung der Arterie zu einem späteren Zeitpunkt vermuten lässt. Schliesslich vermögen die Ausführungen im Gutachten betreffend Prüfung des Sichtfelds nicht zu überzeugen. Dass eine Prüfung des Sichtfelds während der Operation und bis zur Extubation nicht durchgeführt werden konnte, ist verständlich, weshalb jedoch kein Pupillentest oder ein anderer Test zu einem früheren Stadium möglich gewesen sein soll, ist nicht begreiflich (vgl. Orthoptik-Bericht vom 11. Oktober 2010, "Pupillen beidseits lichtstarr"), zumal der Gutachter selber ausführt, dass es sich bei einer Optikusneuropathie um einen Notfall handelt, bei welchem sofort medizinische Vorkehren getroffen werden müssten.
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4.4. Wenn der Hergang und die Ursache für die Gesundheitsschädigung nicht bekannt sind, lässt sich die massgebliche Frage nach der Einwirkung eines ungewöhnlichen äusseren Faktors nicht zuverlässig beurteilen. Das kantonale Gericht wird deshalb ein neues polydisziplinäres Gutachten einholen müssen, um die anlässlich der Aortenklappenoperation gesetzte Ursache und den genaueren Verlauf des Eingriffs, namentlich auch mit Blick auf die allenfalls für den Sehverlust kausale Gefässverletzung, zu klären. Dabei sind neben einem Herzchirurgen auch Fachärzte für Anästhesie und Ophthalmologie einzubeziehen. Hernach wird es unter Berücksichtigung der geltenden Rechtsprechung (E. 4.1) erneut zu prüfen haben, ob ein Unfall im Rechtssinne anzunehmen ist.
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5. Das Verfahren ist kostenpflichtig (Art. 65 BGG). Die Gerichtskosten werden dem Prozessausgang entsprechend der Beschwerdegegnerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG); des Weiteren hat sie dem Beschwerdeführer eine Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Solothurn vom 16. November 2012 aufgehoben. Die Sache wird zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 750.- werden der Beschwerdegegnerin auferlegt.
 
3. Die Beschwerdegegnerin hat den Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren mit Fr. 2'800.- zu entschädigen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons Solothurn und dem Bundesamt für Gesundheit schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 28. Oktober 2013
 
Im Namen der I. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Leuzinger
 
Die Gerichtsschreiberin: Durizzo
 
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