BGer 9C_22/2014 | |||
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BGer 9C_22/2014 vom 18.02.2014 | |
{T 0/2}
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9C_22/2014
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Urteil vom 18. Februar 2014 |
II. sozialrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Kernen, Präsident,
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Bundesrichter Meyer, Bundesrichterin Pfiffner,
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Gerichtsschreiber Traub.
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Verfahrensbeteiligte | |
P.________,
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vertreten durch Rechtsanwältin Barbara Lind,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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IV-Stelle des Kantons Aargau,
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Bahnhofplatz 3C, 5000 Aarau,
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Beschwerdegegnerin,
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- BVG-Personalvorsorgestiftung
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der S.________ AG,
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- Zürich Schweiz Leistungen Leben, Postfach, 8085 Zürich Versicherung.
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Gegenstand
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Invalidenversicherung,
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Beschwerde gegen den Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons Aargau vom 14. November 2013.
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Sachverhalt: | |
A. Die IV-Stelle des Kantons Aargau lehnte mit Verfügung vom 22. Januar 2013 einen Rentenantrag der P.________ (geb. 1963) ab; es liege keine gesundheitliche Beeinträchtigung vor, welche die Arbeitsfähigkeit dauerhaft einschränken würde.
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B. Das Versicherungsgericht des Kantons Aargau hiess die dagegen erhobene Beschwerde teilweise gut und erkannte, P.________ habe mit Wirkung ab November 2009 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente (Entscheid vom 14. November 2013).
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C. P.________ führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, unter teilweiser Aufhebung des angefochtenen Entscheids sei ihr mit Wirkung ab November 2009 eine Dreiviertelsrente zuzusprechen.
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Erwägungen: | |
1. Die Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann unter anderem wegen Verletzung von Bundesrecht im Sinne von Art. 95 lit. a BGG erhoben werden. Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz nur berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 BGG beruht (Art. 97 Abs. 1 und Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Das kantonale Gericht stellte auf eine psychiatrische Administrativexpertise des Dr. W.________ vom 28. August 2011 ab. Danach leide die Beschwerdeführerin an einer rezidivierenden depressiven Störung vor dem Hintergrund akzentuierter Persönlichkeitszüge. Sie sei deswegen auf eine ruhige, stressarme, nicht monotone Tätigkeit angewiesen; hier betrage die Arbeitsfähigkeit 50 Prozent oder viereinhalb Stunden täglich (E. 2 und 3 des angefochtenen Entscheids). Da dieses Leistungsvermögen nach fachärztlicher Beurteilung (auch) in der angestammten Tätigkeit verwertbar sei, entspreche der Invaliditätsgrad dem Arbeitsunfähigkeitsgrad. Eine Korrektur des Invalideneinkommens nach BGE 126 V 75 falle nicht in Betracht; eine solche sei nur bei Tabellenlöhnen möglich. Die Beschwerdeführerin habe Anspruch auf eine halbe Invalidenrente (E. 4).
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3. Strittig ist zunächst, ob die Vorinstanz die Invalidität durch sogenannten Prozentvergleich bemessen durfte.
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3.1. Nach der Rechtsprechung ist das Invalideneinkommen so konkret wie möglich zu ermitteln. Deswegen wird primär von der konkreten beruflich-erwerblichen Situation der versicherten Person ausgegangen (BGE 135 V 297 E. 5.2 S. 301). Wenn die zu vergleichenden Erwerbseinkommen (Art. 16 ATSG) ziffernmässig nicht genau ermittelbar sind, darf eine Schätzung mittels Prozentvergleichs erfolgen (BGE 114 V 310 E. 3a S. 313; Ulrich Meyer, Bundesgesetz über die Invalidenversicherung, 2. Aufl. 2010, S. 298). Der Invaliditätsgrad stimmt alsdann grundsätzlich mit der prozentualen Einschränkung der Arbeitsfähigkeit überein. Dies ist auch dann der Fall, wenn, wie hier, für das Validen- und Invalideneinkommen der gleiche Ansatz gilt, weil eine teilinvalide Person in der angestammten Beschäftigung bestmöglich eingegliedert ist resp. wäre (so etwa Urteil 8C_32/2013 vom 19. Juni 2013 E. 4 [SVR 2013 IV Nr. 29 S. 85]).
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3.2. Vorliegend ist diese Voraussetzung für eine Anwendung des Prozentvergleichs nicht gegeben, wie die Beschwerdeführerin zu Recht geltend macht. Wenn der Gutachter auf die Frage nach der Arbeitsfähigkeit "in bisheriger Tätigkeit" eine zumutbare Leistung von 50 Prozent angibt, so bezieht er sich nicht auf eine spezifische Stelle, welche die Beschwerdeführerin vor Eintritt des Gesundheitsschadens bekleidet hatte. Vielmehr setzt der Sachverständige in gleicher Weise eine "ruhige, stressarme, nicht monotone Tätigkeit unter den Bedingungen der freien Wirtschaft" voraus wie im folgenden Abschnitt, wo er auf die Arbeitsfähigkeit "in anderen Tätigkeitsbereichen" eingeht (vgl. Gutachten vom 28. August 2011 S. 16 f. und 20). Im Übrigen ist nicht ohne Weiteres erstellt, dass die gutachtlich umschriebenen Rahmenbedingungen auf die frühere Tätigkeit der Beschwerdeführerin als Sekretärin in einer Weinhandlung passen.
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Muss somit davon ausgegangen werden, dass der Gutachter nicht diese konkrete Stelle als bestmöglich leidensangepasste Arbeit bezeichnen wollte, er vielmehr auf eine ganze Gattung zumutbarer Tätigkeiten verweist, so ist das Invalideneinkommen auf entsprechend breiter Grundlage festzusetzen; es werden statistische Lohnansätze beigezogen (unten E. 4.2). Für das Valideneinkommen (hypothetisches Gehalt ohne Gesundheitsschaden) ist derweil das vor Eintritt der Invalidität tatsächlich erzielte Einkommen massgebend (unten E. 4.1). Beruhen die Vergleichseinkommen somit nicht auf dem gleichen Ansatz, greift die ordentliche Methode des Einkommensvergleichs (Art. 28a Abs. 1 IVG und Art. 16 ATSG).
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4. Damit bleibt, den Invaliditätsgrad nach dieser Methode zu ermitteln. Das Bundesgericht ist frei, die hiefür notwendigen Sachverhaltsfeststellungen selber zu treffen (vgl. oben E. 1).
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4.1. Für die Bemessung des Valideneinkommens ist entscheidend, was die versicherte Person im Zeitpunkt des Rentenbeginns überwiegend wahrscheinlich als Gesunde tatsächlich verdienen würde. Da die bisherige Tätigkeit im Gesundheitsfall vermutungsweise fortgesetzt worden wäre, ist in der Regel vom letzten Lohn auszugehen, der vor Eintritt der Gesundheitsschädigung erzielt wurde. Dieser Verdienst ist wenn nötig der Teuerung und der realen Einkommensentwicklung anzupassen (BGE 135 V 58 E. 3.1 S. 59).
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Die Beschwerdeführerin hat bei ihrer letzten Beschäftigung vor Eintritt der Gesundheitsschädigung (vgl. das Gutachten des Dr. W.________, S. 10 unten, 17 und 19 f.) bis September 2006 monatlich Fr. 6'565.- verdient (Lohnausweis der V.________ GmbH vom 15. August 2008).
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4.2. Wird das Invalideneinkommen, wie hier (oben E. 3.2), anhand von Tabellenlöhnen aus der Lohnstrukturerhebung des Bundesamts für Statistik (LSE) ermittelt, so ist von der Tabellengruppe A (standardisierte Bruttolöhne) auszugehen (BGE 124 V 321). Welche Tabelle einschlägig ist, bestimmt sich nach den konkreten Umständen des Einzelfalls. Dabei kann es sich rechtfertigen, statt auf den Zentralwert des gesamten privaten Sektors, eines bestimmten Wirtschaftszweiges oder eines Teils hiervon (Tabelle A1) auf denjenigen für eine bestimmte Tätigkeit (Tabelle A7 [privater und öffentlicher Sektor]) abzustellen, wenn dies eine genauere Festsetzung des Invalideneinkommens erlaubt (Urteil 9C_795/2012 vom 9. Juli 2013 E. 2.2.2 mit Hinweis).
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Mit Blick auf die Ausbildung der Beschwerdeführerin (abgeschlossene kaufmännische Lehre) ist ein Tabellenlohn nach Anforderungsniveau 3 ("Berufs- und Fachkenntnisse vorausgesetzt") anzurechnen, entgegen der Auffassung der Beschwerdeführerin nicht ein solcher nach Anforderungsniveau 4 ("einfache und repetitive Tätigkeiten") : Die erforderliche stressarme Arbeitsumgebung bedingt nicht eine Arbeit auf einfachstem Niveau. In Sekretariats- und Kanzleiarbeiten (Tabelle A7 [2006], Zeile 22, Frauen) beträgt der entsprechende Ansatz Fr. 5'675.- (bei einer 40 Stunden-Woche), umgerechnet auf die im Jahr 2006 betriebsübliche Wochenarbeitszeit von 41,7 Stunden (www.bfs.admin.ch/ bfs/portal/de/index/themen/03/02.html) Fr. 5'916.-. Bei einem zumutbaren Pensum von 50 Prozent beläuft sich das Invalideneinkommen somit auf Fr. 2'958.-.
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Dieser Betrag ist nicht unter dem Titel des sog. leidensbedingten Abzugs weiter herabzusetzen (vgl. BGE 129 V 472 E. 4.2.3 S. 481; 126 V 75). Ein solcher kommt unter anderem dann in Frage, wenn sich das ärztlich definierte Anforderungsprofil selbst in leidensangepassten Tätigkeiten einschränkend auswirkt. Hier jedoch vermag eine geeignete Stelle den Vorgaben vollumfänglich zu genügen. Es ist davon auszugehen, dass ruhige, stressarme und nicht monotone Tätigkeiten administrativer Art im ausgeglichenen Arbeitsmarkt (Art. 16 ATSG; Urteil 9C_830/2007 vom 29. Juli 2008 E. 5.1 [SVR 2008 IV Nr. 62 S. 203]) in ausreichender Zahl zu finden sind. Für die Stellensuche kann die Beschwerdeführerin gegebenenfalls Berufsberatung und/oder Arbeitsvermittlung der Invalidenversicherung in Anspruch nehmen (Art. 15 und 18 IVG).
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4.3. Weitere Parameter der Invaliditätsbemessung sind nicht strittig (vgl. BGE 133 II 249 E. 1.4.1 S. 254; 110 V 48 E. 4a S. 53). Mit Blick auf die gleichlaufende Entwicklung in beiden Vergleichseinkommen kann im Übrigen davon abgesehen werden, diese auf den Zeitpunkt des Rentenbeginns 2009 (BGE 129 V 222) zu indexieren (vgl. Urteil U 87/05 vom 13. September 2005 E. 2.2). Auf zeitidentischer Grundlage (2006) ergibt sich aus dem Vergleich von Validen- und Invalideneinkommen ein Invaliditätsgrad von 55 Prozent.
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5. Somit hat die Vorinstanz im Ergebnis kein Bundesrecht verletzt, als sie erkannte, die Beschwerdeführerin habe mit Wirkung ab November 2009 Anspruch auf eine halbe Invalidenrente (Art. 28 Abs. 2 IVG).
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6. Dem Verfahrensausgang entsprechend werden die Gerichtskosten der Beschwerdeführerin auferlegt (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
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3. Dieses Urteil wird den Parteien, der BVG-Personalvorsorgestiftung der S.________ AG, der Zürich Schweiz Leistungen Leben, dem Versicherungsgericht des Kantons Aargau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
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Luzern, 18. Februar 2014
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Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Kernen
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Der Gerichtsschreiber: Traub
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