BGer 6B_1025/2013 | |||
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BGer 6B_1025/2013 vom 13.03.2014 | |
{T 0/2}
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6B_1025/2013
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Urteil vom 13. März 2014 |
Strafrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Mathys, Präsident,
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Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
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Bundesrichter Oberholzer,
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Gerichtsschreiber Held.
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Verfahrensbeteiligte | |
X.________,
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vertreten durch Rechtsanwältin Olga Gamma Ammann,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen,
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Untersuchungsamt Gossau,
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Sonnenstrasse 4a, 9201 Gossau SG.
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Gegenstand
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Entschädigung für Hausdurchsuchung (Einstellung des Strafverfahrens);
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Beschwerde gegen den Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 18. September 2013.
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Sachverhalt: |
A. | |
A.a. Am 2. Februar 2013 entwendete eine unbekannte Täterschaft in zwei Supermärkten im Kanton St. Gallen die Portemonnaies von A.________ und B.________ und bezog an Geldautomaten insgesamt Fr. 4'500.--. Weitere Versuche, mit einer Mastercard zweimal Fr. 1'000.-- und einmal Fr. 3'000.-- abzuheben, blieben erfolglos.
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A.b. Die Auswertung des bei den Geldbezügen aufgezeichneten Bildmaterials ergab, dass es sich um denselben Täter handelte. Die Kantonspolizei St. Gallen verbreitete die Bilder per nationalem Fahndungsersuchen. Rückmeldungen kantonaler Polizeikorps ergaben, dass der Täter weiterer Delikte gleichen Schemas verdächtigt wurde. Am 28. März 2013 ersuchte das Untersuchungsamt Gossau die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn um Verfahrensübernahme mit dem Hinweis, dass es sich gemäss Mitteilung der Kriminalpolizei Schaffhausen vom 22. Februar 2013 bei der Täterschaft um X.________ handle. Die Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn verzichtete nach Aktenstudium auf die Eröffnung einer Strafuntersuchung gegen X.________. Aufgrund der zur Verfügung stehenden Fotos könne festgehalten werden, dass der Täter vom 2. Februar 2013 dieselbe Person sei, gegen die im Kanton Solothurn bereits ermittelt werde. Dass es sich hierbei um X.________ handle, werde stark angezweifelt. Weder die Lippen- und Nasenform noch die Augenbrauenpartie stimmten mit dem Täter überein. Einzig gestützt auf das Foto dränge sich kein Anfangsverdacht gegen X.________ auf. Bei gegenteiliger Auffassung sei die für Gerichtsstände zuständige stellvertretende Oberstaatsanwältin zu kontaktieren.
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A.c. Das Untersuchungsamt Gossau ersuchte am 17. April und 2. Juli 2013 die Staatsanwaltschaft des Kantons Zürich um rechtshilfeweise Befragung von X.________. Am 12. Juli 2013 ordnete sie auf Antrag der Kantonspolizei Zürich eine Hausdurchsuchung an dessen Wohnort an, die am frühen Morgen des 16. Juli 2013 stattfand. Gleichentags wurde X.________ polizeilich einvernommen. Er konnte anhand seines Passes nachweisen, dass er zur Tatzeit in Brasilien war.
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A.d. Am 8. August 2013 stellte die Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen das Strafverfahren gegen X.________ ein und wies das von ihm gestellte Genugtuungsbegehren von Fr. 1'000.-- ab.
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B. |
C. |
D. |
E. |
Erwägungen: |
Erwägung 1 | |
1.1. Der Beschwerdeführer rügt eine Verletzung von Art. 197 StPO, Art. 429 StPO und Art. 431 StPO. Die Hausdurchsuchung sei mangels hinreichenden Tatverdachts und Wahrung des Verhältnismässigkeitsprinzips rechtswidrig. Die Bilder des Täters wiesen lediglich eine schwache Ähnlichkeit mit seinem Foto auf. Bei genauerem Hinsehen sei klar ersichtlich, dass die Nasenformen nicht übereinstimmten. Die Strafverfolgungsbehörden wären verpflichtet gewesen, ihn vor der Anordnung der Hausdurchsuchung zu befragen. Dies hätte gezeigt, dass er aufgrund seines Auslandsaufenthaltes nicht der Täter sein könne. Die Hausdurchsuchung stelle einen schweren Eingriff in sein Hausrecht und die persönlichen Verhältnisse dar. Die Bewohner des Wohnquartiers, die sich alle persönlich kennen würden, hätten die Hausdurchsuchung mitbekommen, was besonders peinlich gewesen sei.
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1.2. Die Vorinstanz erwägt, die Beschwerdegegnerin verneine einen Genugtuungsanspruch zu Recht. Es sei nicht ersichtlich, inwiefern die Durchführung einer im Sinne von Art. 196 ff. StPO rechtmässig angeordneten Hausdurchsuchung eine besonders schwere Persönlichkeitsverletzung darstellen solle. Mit der ohne Vorankündigung und vor Befragung durchgeführten Hausdurchsuchung hätte verhindert werden können, dass allfällig sicherzustellende Gegenstände wie die vom Täter bei den Geldbezügen getragene Kleidung beseitigt wurden. Die Durchsuchung habe (nur) von 6.20 Uhr bis 7.00 Uhr im Hausinneren stattgefunden, weshalb die Nachbarschaft diese kaum habe mitverfolgen können. Zwar sei das von der Durchsuchung betroffene Hausrecht ein elementares Grundrecht, jedoch stelle die rechtmässig angeordnete strafprozessuale Zwangsmassnahme für sich allein noch keine schwere Verletzung der persönlichen Verhältnisse im Sinne von Art. 28 Abs. 2 ZGB oder Art. 49 OR dar.
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Erwägung 1.3 | |
1.3.1. Gemäss Art. 197 Abs. 1 StPO können Zwangsmassnahmen (Art. 196-298 StPO) nur ergriffen werden, wenn sie gesetzlich vorgesehen sind, ein hinreichender Tatverdacht vorliegt, die damit angestrebten Ziele nicht durch mildere Massnahmen erreicht werden können und die Bedeutung der Straftat die Zwangsmassnahme rechtfertigt. Zwangsmassnahmen, die in die Grundrechte nicht beschuldigter Personen eingreifen, sind besonders zurückhaltend einzusetzen (Art. 197 Abs. 2 StPO). Gemäss Art. 198 Abs. 1 StPO können die Staatsanwaltschaft, die Gerichte - in dringenden Fällen deren Verfahrensleitung - sowie die Polizei in den gesetzlich vorgesehenen Fällen Zwangsmassnahmen anordnen.
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Der Begriff des "hinreichenden Tatverdachts" stellt einen auslegungsbedürftigen unbestimmten Rechtsbegriff dar, bei dessen Anwendung der Sachrichter über einen weiten Ermessensspielraum verfügt. Das Bundesgericht prüft die vorinstanzliche Begriffsauslegung nur mit Zurückhaltung (BGE 129 IV 1 E. 3.2; Urteil 1C_458/2013 vom 21. November 2013 E. 2.2 mit Hinweisen).
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1.3.2. Die Vorinstanz geht auf die bereits im Beschwerdeverfahren erhobenen Vorbringen des Beschwerdeführers, es bestehe kein hinreichender Tatverdacht, da auf den Fotos klar ersichtlich sei, dass keine Ähnlichkeit zwischen ihm und dem Täter bestehe, nicht ein. Sie hält in Anlehnung an die staatsanwaltliche Einstellungsverfügung fest, die Hausdurchsuchung sei rechtmässig gewesen, ohne sämtliche materiellen Voraussetzungen von Art. 197 StPO zu prüfen und zu begründen. Dies erweist sich als bundesrechtswidrig. Aufgrund des Schreibens der Staatsanwaltschaft des Kantons Solothurn vom 15. April 2013 und der Weigerung, eine Strafuntersuchung gegen den Beschwerdeführer zu eröffnen, bestanden erhebliche Zweifel hinsichtlich eines hinreichenden Tatverdachts. Die Staatsanwaltschaft Solothurn weist zutreffend darauf hin, dass sich aufgrund des von verschiedenen Kantonen übermittelten Bildmaterials kein Anfangsverdacht gegen den Beschwerdeführer aufdränge. Dessen Lippen- und Nasenform sowie die Augenbrauenpartie unterscheiden sich deutlich von denjenigen des Täters. Hals- und Kinnpartie des Täters sind wesentlich fülliger, und er hat - im Gegensatz zum Beschwerdeführer - lediglich rechts einen Ohrring. Ein hinreichender Tatverdacht im Sinne von Art. 197 Abs. 1 lit. b StPO lässt sich aufgrund der Aktenlage nicht begründen. Die Hausdurchsuchung erweist sich als rechtswidrig.
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1.4. Auf den Antrag des Beschwerdeführers, ihm eine angemessene Genugtuung auszurichten, ist nicht einzutreten. Die Genugtuung besteht in der Regel in der Leistung einer Geldsumme (Art. 49 Abs. 1 OR). Anstatt oder neben dieser Leistung kann der Richter auch auf eine andere Art der Genugtuung erkennen (Art. 49 Abs. 2 OR; vgl. Urteil 5A_309/2013 vom 4. November 2013 E. 6.3.1). Die Festsetzung der Genugtuung ist eine Entscheidung nach Billigkeit und beruht auf richterlichem Ermessen (Art. 4 ZGB). Die Vorinstanz hat Art und Umfang der gemäss Art. 431 Abs. 1 StPO zuzusprechenden Genugtuung noch nicht geprüft. Es ist nicht Aufgabe des Bundesgerichts, dem Ermessensentscheid des Sachgerichts vorzugreifen.
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1.5. Die Beschwerde ist gutzuheissen und zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückzuweisen. Die Angemessenheit der vorinstanzlichen Verfahrensgebühr ist nicht mehr zu prüfen ist.
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Erwägung 2 |
Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, der Entscheid der Anklagekammer des Kantons St. Gallen vom 18. September 2013 aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2. Es werden keine Gerichtskosten erhoben.
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3. Der Kanton St. Gallen hat dem Beschwerdeführer für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 2'000.-- auszurichten.
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4. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer, der Staatsanwaltschaft des Kantons St. Gallen, Untersuchungsamt Gossau, und der Anklagekammer des Kantons St. Gallen schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 13. März 2014
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Mathys
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Der Gerichtsschreiber: Held
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