BGer 6B_196/2014 | |||
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BGer 6B_196/2014 vom 05.06.2014 | |
{T 0/2}
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6B_196/2014
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Urteil vom 5. Juni 2014 |
Strafrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Mathys, Präsident,
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Bundesrichter Denys, Oberholzer,
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Gerichtsschreiberin Siegenthaler.
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Verfahrensbeteiligte | |
X.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Franz Hollinger,
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Beschwerdeführer,
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gegen
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Jugendanwaltschaft des Kantons Aargau, Frey-Herosé-Strasse 12, Wielandhaus, 5001 Aarau,
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Beschwerdegegnerin.
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Gegenstand
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Genugtuung (Überhaft),
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, vom 28. November 2013.
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Sachverhalt: | |
A. Das Jugendgericht Brugg verurteilte X.________ am 22. September 2010 unter anderem wegen versuchten bewaffneten Raubes, Raufhandels, mehrfacher einfacher Körperverletzung, mehrfacher Nötigung, Drohung und Beschimpfung zu einer Freiheitsstrafe von 24 Monaten, unter Anrechnung von 162 Tagen Untersuchungshaft, sowie zu einer Busse von Fr. 400.--.
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B. Bevor X.________ am 12. April 2012 aus dem Strafvollzug entlassen werden sollte, beantragte die Jugendanwaltschaft am 10. April 2012 beim Jugendgericht Brugg, nachträglich eine stationäre Massnahme nach Art. 59 StGB anzuordnen. Zusätzlich stellte sie Antrag auf Anordnung von Sicherheitshaft. Diesem folgend versetzte das Zwangsmassnahmengericht X.________ am 12. April 2012 in Haft. Seine dagegen erhobene Beschwerde wies das Obergericht des Kantons Aargau am 15. Mai 2012 ab.
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C. X.________ führt Beschwerde in Strafsachen und beantragt, Ziffer 4 des Urteils vom 28. November 2013 sei aufzuheben und ihm für die Überhaft eine Genugtuung von Fr. 64'400.-- zuzusprechen. X.________ ersucht um unentgeltliche Rechtspflege.
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Erwägungen: |
Erwägung 1 | |
1.1. Der Beschwerdeführer rügt die falsche Berechnung seiner Genugtuung durch die Vorinstanz. Diese halte sich an das vom Bundesgericht entwickelte zweistufige Verfahren, wonach in einem ersten Schritt die Grössenordnung der Genugtuung festgelegt und in einem zweiten Schritt den Besonderheiten des Falls Rechnung getragen werden soll. Dieses Modell sei allerdings für den "Normalfall" erarbeitet worden, bei dem eine Person aus der Freiheit in Untersuchungshaft genommen werde. Sein Fall liege anders, weshalb die fraglichen Grundsätze nicht anwendbar seien.
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1.2. Die Festlegung der Genugtuungssumme beruht auf richterlichem Ermessen, in welches das Bundesgericht nur mit Zurückhaltung eingreift (Urteil 6B_53/2013 vom 8. Juli 2013 E. 3.2 mit Hinweisen, nicht publ. in: BGE 139 IV 243). Das Bundesrecht setzt keinen bestimmten Mindestbetrag fest (Art. 429 Abs. 1 lit. c bzw. 431 StPO). Bei der Ausübung des Ermessens kommt den Besonderheiten des Einzelfalles entscheidendes Gewicht zu. Nach der Rechtsprechung ist zunächst die Grössenordnung der in Frage kommenden Genugtuung zu ermitteln, wobei Art und Schwere der Verletzung massgebend sind. In einem zweiten Schritt sind die Besonderheiten des Einzelfalles zu würdigen, die eine Verminderung oder Erhöhung der zuzusprechenden Summe nahelegen. Das Bundesgericht erachtet bei kürzeren Freiheitsentzügen Fr. 200.-- pro Tag als angemessene Genugtuung, sofern nicht aussergewöhnliche Umstände vorliegen, die eine höhere oder eine geringere Entschädigung rechtfertigen. Bei längerer Untersuchungshaft (von mehreren Monaten Dauer) ist der Tagessatz in der Regel zu senken, da die erste Haftzeit besonders erschwerend ins Gewicht fällt (vgl. BGE 113 IB 155 E. 3b; Urteil 6B_111/2012 vom 15. Mai 2012 E. 4.2).
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Erwägung 1.3 | |
1.3.1. Die Vorinstanz wendet aufgrund der langen Haftdauer einen degressiven Tagesansatz an. Dies entspricht der konstanten Rechtsprechung (vgl. E. 1.2) und ist nicht zu beanstanden.
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1.3.2. Der Beschwerdeführer wendet ein, ein degressiver Tarif dürfe in seinem Fall nicht zur Anwendung gelangen, weil seine psychische Belastung aufgrund der Ungewissheit, ob eine stationäre Massnahme angeordnet werden würde, stetig zugenommen habe (Beschwerde, S. 5).
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1.3.3. Der Beschwerdeführer macht geltend, er sei (weil der Unterschied zwischen Haft- und Sachgericht einem juristischen Laien nicht erklärbar sei) davon ausgegangen, dasselbe Gericht werde über die Anordnung der stationären Massnahme befinden, das seinerzeit seine Beschwerde gegen die Haftverfügung abgewiesen habe. Dieses habe damals festgestellt, das Hauptverfahren werde mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit zu einer entsprechenden Massnahme führen. Deshalb habe er umso mehr damit rechnen müssen, dass die beantragte Massnahme angeordnet würde, weshalb seine psychische Belastung während des vorinstanzlichen Verfahrens zusätzlich gestiegen sei. Die Anwendung eines degressiven Tarifs sei auch deshalb nicht zulässig (Beschwerde, S. 5 f.).
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Erwägung 1.4 | |
1.4.1. Nach Ansicht des Beschwerdeführers dürften Gründe wie beispielsweise der Umstand, dass er sich bereits seit zwei Jahren im Strafvollzug befand und durch die Sicherheitshaft deshalb nicht aus einem sozialen Netz gerissen wurde sowie kein Ansehensschaden entstanden sei, "a priori nicht genugtuungsreduzierend wirken", da sie "in Anbetracht der im vorliegenden Spezialfall massgebenden Umstände ganz generell keine Rolle" spielten. Weshalb dem so sein soll, begründet der Beschwerdeführer nicht (Beschwerde, S. 4). Darauf ist nicht näher einzugehen.
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1.4.2. Der Beschwerdeführer bringt vor, die Vorinstanz berücksichtige unzulässigerweise zweimal denselben Reduktionsgrund (Beschwerde, S. 7). Einerseits reduziere sie die "Anfangsgenugtuung" von Fr. 200.-- auf Fr. 150.--, weil er direkt aus dem Strafvollzug in Sicherheitshaft versetzt wurde. Im zweiten Schritt berücksichtige sie diesen Umstand noch einmal, indem sie seine durch die Haft erlittene Lebensqualitätseinbusse als unterdurchschnittlich bewerte, weil er sich bereits seit längerem im Strafvollzug befand.
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1.4.3. Auch was der Beschwerdeführer im Übrigen gegen die Festsetzung der Genugtuung von Fr. 100.-- pro Hafttag vorbringt, ist nicht geeignet, eine Bundesrechtsverletzung aufzuzeigen. Die Vorinstanz trägt bei der Bemessung der Genugtuung den Besonderheiten des vorliegenden Falls Rechnung. Insbesondere würdigt sie auch den Umstand, dass die Sicherheitshaft sehr kurzfristig vor der Entlassung des Beschwerdeführers aus dem Strafvollzug beantragt und angeordnet wurde (Urteil, S. 11). Die Bemessung der Genugtuung ist hinreichend begründet und erweist sich angesichts des vorinstanzlichen Ermessens als bundesrechtskonform.
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2. Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Bei diesem Verfahrensausgang sind die bundesgerichtlichen Kosten dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Da das Rechtsmittel von vornherein aussichtslos war, kann dem Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege nicht entsprochen werden (Art. 64 Abs. 1 BGG). Bei der Festsetzung der Gerichtskosten ist seinen finanziellen Verhältnissen Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
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2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
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3. Die Gerichtskosten von Fr. 800.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Jugendstrafkammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 5. Juni 2014
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Mathys
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Die Gerichtsschreiberin: Siegenthaler
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