BGer 6B_188/2015 | |||
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BGer 6B_188/2015 vom 30.06.2015 | |
{T 0/2}
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6B_188/2015
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Urteil vom 30. Juni 2015 |
Strafrechtliche Abteilung | |
Besetzung
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Bundesrichter Denys, Präsident,
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Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
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Bundesrichter Oberholzer, Rüedi, Bundesrichterin Jametti,
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Gerichtsschreiberin Andres.
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Verfahrensbeteiligte | |
A.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Kenad Melunovic,
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Beschwerdeführerin,
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gegen
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1. Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau,
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2. X.________,
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vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Peter M. Conrad,
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Beschwerdegegner.
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Gegenstand
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Einsprachelegitimation der Privatklägerschaft,
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Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, vom 6. Januar 2015.
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Sachverhalt: |
A. | |
A.________ stellte am 13. August 2012 bei der Kantonspolizei Aargau Strafantrag gegen X.________ wegen Tätlichkeiten, konstituierte sich als Strafklägerin und verlangte, zu Einvernahmen und Beweiserhebungen vorgeladen zu werden.
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Die Staatsanwaltschaft Baden verurteilte X.________ mit Strafbefehl vom 18. September 2012 wegen Tätlichkeiten zu einer Busse von 100.--.
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B. | |
A.________, nun anwaltlich vertreten, erhob gegen den Strafbefehl am 28. September 2012 Einsprache im Schuld-, Straf- und Kostenpunkt. Die Staatsanwaltschaft überwies am 2. Oktober 2012 die Einsprache samt Akten mit dem Antrag auf Verurteilung gemäss Strafbefehl zur Durchführung des Hauptverfahrens an das Bezirksgericht Baden. Dieses verurteilte X.________ am 22. November 2013 wegen Tätlichkeiten zu einer Busse von Fr. 100.--. Es auferlegte die Verfahrenskosten von Fr. 1'812.-- X.________ und A.________ je zur Hälfte sowie Letzterer die Kosten für die schriftliche Begründung von Fr. 45.--.
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Das Obergericht des Kantons Aargau wies am 6. Januar 2015 die Berufung von A.________ im Kosten- und Entschädigungspunkt ab und trat in der Sache nicht darauf ein. Es hob das Urteil des Bezirksgerichts Baden vom 22. November 2013 auf und fasste es von Amtes wegen neu. Danach wurde auf die Einsprache vom 28. September 2012 gegen den Strafbefehl vom 18. September 2012 nicht eingetreten. Die hälftigen Verfahrenskosten und die Kosten für die schriftliche Begründung wurden A.________ auferlegt, die restlichen Kosten auf die Staatskosten genommen. Die obergerichtlichen Verfahrenskosten von Fr. 1'015.-- auferlegte das Obergericht A.________ und verpflichtete diese, X.________ eine Entschädigung von Fr. 978.90 auszurichten.
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C. | |
A.________ beantragt mit Beschwerde in Strafsachen, das obergerichtliche Urteil sei aufzuheben und die Sache zur materiellen Beurteilung an die Vorinstanz zurückzuweisen, verbunden mit der Anordnung, eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen. Sie ersucht um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung.
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D. | |
Während das Obergericht sowie die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Aargau auf eine Stellungnahme verzichten, lässt sich X.________ vernehmen und beantragt die kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde.
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Erwägungen: |
Erwägung 1 | |
Zur Beschwerde in Strafsachen ist nach Art. 81 Abs. 1 BGG berechtigt, wer vor der Vorinstanz am Verfahren teilgenommen oder keine Möglichkeit zur Teilnahme erhalten hat (lit. a) und ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des angefochtenen Entscheids hat (lit. b). Der Privatklägerschaft wird Letzteres gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG zuerkannt, wenn der angefochtene Entscheid sich auf die Beurteilung ihrer Zivilansprüche auswirken kann. Unbekümmert um die fehlende Legitimation in der Sache selbst kann die Privatklägerschaft die Verletzung von Verfahrensrechten geltend machen, deren Missachtung eine formelle Rechtsverweigerung darstellt. Zulässig sind Rügen formeller Natur, die von der Prüfung der Sache selber getrennt werden können. Nicht zu hören sind Rügen, die im Ergebnis auf eine materielle Überprüfung des angefochtenen Entscheids abzielen (vgl. BGE 141 IV 1 E. 1.1 S. 4 f.; 138 IV 248 E. 2 S. 250; je mit Hinweisen).
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Die Beschwerdeführerin macht geltend, die Vorinstanz habe ihr die Legitimation zur Einsprache und damit einhergehend zur Berufung abgesprochen. Damit rügt sie die Verletzung ihrer Parteirechte und ist zur Beschwerde berechtigt. Soweit sie sich gegen die Auflage der erst- und vorinstanzlichen Verfahrenskosten sowie der Entschädigung wendet, ist sie ebenfalls beschwert. Auf die Beschwerde ist einzutreten.
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Erwägung 2 | |
2.1. Die Vorinstanz erwägt, die Beschwerdeführerin sei als Strafklägerin im Schuld- und Strafpunkt nicht zur Einsprache gegen den Strafbefehl legitimiert. Ein rechtlich geschütztes Interesse, das die Privatklägerschaft zur Einsprache berechtige, sei nur gegeben, wenn diese Folgen für die zivilrechtlichen Ansprüche habe. Die Einsprachelegitimation lasse sich nicht über das blosse Interesse an einer anderen rechtlichen Qualifikation herleiten. Denn bei einem Freispruch könne auch nur ein Rechtsmittel erhoben werden, wenn, soweit zumutbar, die Zivilansprüche bereits im Strafverfahren geltend gemacht worden seien. Die Beschwerdeführerin habe keine Zivilforderung geltend gemacht beziehungsweise diese zurückgezogen. Sie könne ihre Legitimation in der Sache auch nicht über ihre Eigenschaft als Opfer ableiten. Dessen Legitimation gehe nicht weiter als jene einer Strafklägerin.
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Hingegen wäre die Beschwerdeführerin hinsichtlich der Verweigerung einer Entschädigung als Betroffene im Sinne von Art. 354 Abs. 1 lit. b StPO zur Einsprache legitimiert. Jedoch habe sie die Einsprache im Entschädigungspunkt nicht begründet und die Vorgaben von Art. 354 Abs. 2 StPO nicht erfüllt. Es könne daher offenbleiben, ob der Beschwerdeführerin im Hinblick auf ein faires Verfahren der Verfahrensabschluss hätte mitgeteilt werden sollen, beziehungsweise sie auf die Möglichkeit eines Entschädigungsanspruchs hätte hingewiesen werden müssen. Im Übrigen sei weder ersichtlich noch näher erläutert, welche entschädigungspflichtigen Aufwendungen der damals noch nicht anwaltlich vertretenen Beschwerdeführerin entstanden sein sollen.
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Die Vorinstanz gelangt zum Schluss, dass das Bezirksgericht nicht hätte auf die Einsprache eintreten dürfen, weshalb dessen Urteil aufzuheben sei. Damit sei die Beschwerdeführerin mangels eines rechtlich geschützten Interesses nach Art. 382 Abs. 1 StPO auch zur Berufung nicht berechtigt, weshalb in der Sache auf die Berufung nicht einzutreten sei (Urteil S. 6 ff.).
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2.2. Die Beschwerdeführerin rügt, indem sich die Vorinstanz zur Frage der Einsprachelegitimation der Privatklägerschaft an die bundesgerichtliche Rechtsprechung zu Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG anlehne, verletze sie Art. 354 Abs. 1 lit. b StPO. Die Strafklägerin sei durch eine zu milde rechtliche Qualifikation einer Körperverletzung als Tätlichkeiten auch beschwert und zur Einsprache legitimiert, wenn sie ihre Zivilforderung nicht im Strafverfahren geltend gemacht habe. Soweit die Vorinstanz auf die Einsprache im Entschädigungspunkt wegen ungenügender Begründung nicht eintrete, verkenne sie, dass ein Strafbefehl - mit Ausnahme von Art. 356 Abs. 6 StPO - nur als Ganzes angefochten werden könne. Eine partielle Ungültigkeit sei ausgeschlossen. Die Vorinstanz verletze in mehrfacher Hinsicht das rechtliche Gehör der Beschwerdeführerin. Da die Vorinstanz die Parteien lediglich aufgefordert habe, sich zur Einsprache- und Berufungslegitimation zu äussern, habe die Beschwerdeführerin nie zur Frage einer allfälligen teilweisen Ungültigkeit der Einsprache Stellung nehmen können. Zudem habe sich die Vorinstanz nicht mit dem Vorbringen auseinandergesetzt, die Untersuchung sei unter Ausschluss der Beschwerdeführerin als Partei geführt worden, und sie sei nicht rechtsgenügend über das Strafverfahren informiert worden. Aufgrund dieses schweren formellen Mangels sei der Strafbefehl ungültig beziehungsweise anfechtbar, was die in ihren Verfahrensrechten verletzte Beschwerdeführerin mittels Einsprache geltend machen könne.
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2.3. Nach Art. 354 Abs. 1 StPO sind zur Einsprache gegen einen Strafbefehl namentlich die beschuldigte Person (lit. a) und weitere Betroffene (lit. b) legitimiert. Ein generelles Einspracherecht der Privatklägerschaft ergibt sich aus der Strafprozessordnung nicht. Während die Einsprachemöglichkeit der Privatklägerschaft in Art. 358 Abs. 1 lit. b des Entwurfs vom 21. Oktober 2005 zur Strafprozessordnung (E-StPO; BBl 2006 1389) noch vorgesehen war, wurde sie vom Parlament gestrichen. Die Kommission des Ständerats begründete ihren entsprechenden Antrag mit der angestrebten Verbesserung der Effizienz des Strafbefehlsverfahrens (AB 2006 S 984). Der Bundesrat schloss sich dem Änderungsvorschlag anlässlich der parlamentarischen Beratung mit der Begründung an, die Einsprachemöglichkeit der Privatklägerschaft sei nicht gerechtfertigt, da in Strafbefehlen nicht über Zivilforderungen entschieden werde und nie ein Freispruch erfolge, weshalb sie gar kein Interesse an einer Einsprache haben könne (AB 2006 S 1050). Der Nationalrat stimmte dem Beschluss des Ständerats zu (AB 2007 N 1024). Dies schliesst nach Rechtsprechung und Lehre jedoch grundsätzlich nicht aus, dass die Privatklägerschaft gestützt auf die Generalklausel von Art. 354 Abs. 1 lit. b StPO dennoch zur Einsprache legitimiert ist, wenn sie ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Änderung des Strafbefehls hat (Urteil 4D_62/2013 vom 16. Dezember 2013 E. 2.1; siehe auch BGE 138 IV 241 E. 2.6 S. 246 mit Hinweisen; Jeanneret/Kuhn, Précis de procédure pénale, 2013, N. 17021; Niklaus Schmid, Schweizerische Strafprozessordnung, Praxiskommentar [nachfolgend: Praxiskommentar], 2. Aufl. 2013, N. 6 zu Art. 354 StPO; derselbe, Handbuch des schweizerischen Strafprozessrechts [nachfolgend: Handbuch], 2. Aufl. 2013, § 84 Rz. 1362 Fn. 44; CHRISTIAN SCHWARZENEGGER, in: Kommentar zur Schweizerischen Strafprozessordnung, Donatsch/Hansjakob/Lieber [Hrsg.], 2. Aufl. 2014, N. 5 zu Art. 354 StPO; FALLER/REYMOND, Le règlement d'une affaire par la voie de l'ordonnance pénale, in: Jusletter vom 13. Februar 2012, Rz. 15; RIEDO/FIOLKA, Der Strafbefehl: Netter Vorschlag oder ernste Drohung?, forumpoenale 2011, S. 159). So ist die Privatklägerschaft nach der bundesgerichtlichen Rechtsprechung etwa zur Einsprache legitimiert, wenn ihr in Verletzung von Art. 433 StPO im Strafbefehl keine Parteientschädigung zugesprochen wurde (BGE 139 IV 102 E. 5.2 S. 109 f. mit Hinweisen).
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2.4. Vorliegend wendete sich die Beschwerdeführerin mit ihrer Einsprache in erster Linie gegen die rechtliche Qualifikation des Sachverhalts als Tätlichkeiten anstatt als einfache Körperverletzung. Das Bundesgericht hat sich bisher nicht zur Frage geäussert, ob die Privatklägerschaft, die sich lediglich als Strafklägerin konstituiert und im Strafverfahren keine Zivilansprüche geltend macht, als weitere Betroffene im Schuldpunkt zur Einsprache gegen einen Strafbefehl legitimiert ist. Es stellt sich folglich die Frage, ob sie durch die allenfalls zu milde rechtliche Qualifikation in ihren rechtlich geschützten Interessen betroffen ist. Die Mehrheit der Lehre vertritt die Ansicht, dass die Privatklägerschaft im Schuldpunkt zur Einsprache berechtigt ist, soweit sie eine mögliche Auswirkung der zu milden rechtlichen Qualifikation auf ihre Zivilforderungen, insbesondere die Höhe der Genugtuung, darlegen kann (vgl. GILLIÉRON/KILLIAS, in: Commentaire romand, Code de procédure pénale suisse, 2011, N. 3 zu Art. 354 StPO; Moreillon/Parein-Reymond, Petit Commentaire de la Code de procédure pénale, 2013, N. 9 ff. zu Art. 354 StPO; FRANZ RIKLIN, in: Basler Kommentar, Schweizerische Strafprozessordnung, 2. Aufl. 2014, N. 11 zu Art. 354 StPO; SCHWARZENEGGER, a.a.O., N. 5 zu Art. 354 StPO; JEANNERET/KUHN, a.a.O., N. 17021; MICHAEL DAPHINOFF, Das Strafbefehlsverfahren in der Schweizerischen Strafprozessordnung, 2012, S. 584 f.; MARC THOMMEN, Kurzer Prozess - fairer Prozess?, 2013, S. 112). Gemäss MARC THOMMEN hat die Privatklägerschaft einen persönlichkeitsrechtlichen Anspruch auf Feststellung des angetanen Unrechts, weshalb sie unabhängig von Auswirkungen der rechtlichen Qualifikation auf ihre Zivilforderungen einspracheberechtigt sei. Systematisch ergebe sich die Einspracheberechtigung der Privatklägerschaft auch aus dem Parteibegriff. Als vollwertige Partei geniesse sie volle Rechtsmittellegitimation; so könnte sie gegen den Strafbefehl, der eine Verfügung der Staatsanwaltschaft sei, Beschwerde erheben (a.a.O., S. 112; tendenziell gleicher Meinung SABINE GLESS, Der Strafbefehl, in: Schweizerische Strafprozessordnung und Schweizerische Jugendstrafprozessordnung, Marianne Heer [Hrsg.], 2010, S. 49, wonach Geschädigte und Privatkläger einspruchsberechtigt sind, soweit durch einen Strafbefehl andere als die zivilrechtlichen Kompensationsinteressen beeinträchtigt sind). Eine Minderheit der Autoren erachtet es als sachlich richtig, dass die Privatklägerschaft nicht zur Einsprache legitimiert ist, da der Strafbefehl immer einen Schuldspruch enthalte und darin nie über Zivilforderungen entschieden werde ( MICHAEL LEUPOLD, Die Schweizerische Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007, Entstehung - Grundzüge - Besonderheiten, BJM 2008 S. 248; ANASTASIA FALKNER, in: Kommentierte Textausgabe zur Schweizerischen Strafprozessordnung vom 5. Oktober 2007, Goldschmid/Maurer/Sollberger [Hrsg.], 2008, Art. 354 StPO). Einigkeit besteht in der Literatur darüber, dass die Privatklägerschaft mangels Rechtsschutzinteresses hinsichtlich der ausgesprochenen Strafe nicht zur Einsprache legitimiert ist, da die Bestrafung allein dem Staat zusteht ( THOMMEN, a.a.O., S. 111 f.; DAPHINOFF, a.a.O., S. 584; Moreillon/Parein-Reymond, a.a.O., N. 13 zu Art. 354 StPO; Laurent Moreillon, L'ordonnance pénale: simplification ou artifice?, ZStrR 128/2010 S. 36; vgl. auch Art. 382 Abs. 2 StPO).
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2.5. Die Privatklägerschaft ist Partei im Strafverfahren (Art. 104 Abs. 1 lit. b StPO). Als Privatklägerschaft gilt die geschädigte Person, die ausdrücklich erklärt, sich am Strafverfahren als Straf- oder Zivilklägerin zu beteiligen (Art. 118 Abs. 1 StPO). Geschädigt im Sinne von Art. 118 Abs. 1 StPO ist, wer durch die Straftat in seinen Rechten unmittelbar verletzt worden ist (Art. 115 Abs. 1 StPO). Der Strafantrag ist der Erklärung nach Art. 118 Abs. 1 StPO gleichgestellt (Art. 118 Abs. 2 StPO). Die geschädigte Person kann sich gemäss Art. 119 Abs. 2 StPO als Straf- und/oder Zivilklägerin am Strafverfahren beteiligen. Strafkläger ist, wer die Verfolgung und Bestrafung der für die Straftat verantwortlichen Person verlangt (Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO), Zivilkläger, wer adhäsionsweise privatrechtliche Ansprüche geltend macht, die aus der Straftat abgeleitet werden (Art. 119 Abs. 2 lit. b StPO). Nimmt die Staatsanwaltschaft ein Strafverfahren nicht an die Hand (Art. 310 StPO) oder stellt sie es vollständig oder teilweise ein (Art. 319 ff. StPO), können die Parteien die Verfügung mittels Beschwerde anfechten (Art. 310 Abs. 2 i.V.m. Art. 322 Abs. 2 und Art. 393 ff. StPO). Ein das Verfahren ganz oder teilweise abschliessendes Urteil eines erstinstanzlichen Gerichts kann mittels Berufung weitergezogen werden (Art. 398 ff. StPO). Gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO, der die Legitimation sowohl für die Beschwerde als auch die Berufung regelt, kann jede Partei, die ein rechtlich geschütztes Interesse an der Aufhebung oder Abänderung eines Entscheides hat, ein Rechtsmittel ergreifen. Nach Abs. 2 der Bestimmung kann die Privatklägerschaft einen Entscheid hinsichtlich der ausgesprochenen Sanktion nicht anfechten. Das Bundesgericht befasste sich in zwei amtlich publizierten Entscheiden mit der Berufungslegitimation der Privatklägerschaft, die sich einzig als Strafklägerin nach Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO konstituiert hatte. Im ersten Urteil entschied das Bundesgericht, das Recht auf Verfolgung sowie Verurteilung des Straftäters gemäss Art. 119 Abs. 2 lit. a StPO begründe, unabhängig von jeglichen Zivilansprüchen und von einem aktuellen Nachteil, das rechtliche Interesse der Privatklägerschaft im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO, gegen das Urteil Berufung einzulegen. Es genüge, geschädigt zu sein, das heisst eine Person zu sein, deren Rechte durch die Straftat direkt verletzt worden sind. Ein Schaden sei nicht nötig. Ferner hielt das Bundesgericht fest, eine Auslegung der Rechtsmittellegitimation gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO könne nicht im Lichte von Art. 81 Abs. 1 lit. b Ziff. 5 BGG vorgenommen werden (BGE 139 IV 78 E. 3.3.3 f. S. 81 ff.). Im Folgeurteil räumte das Bundesgericht der Privatklägerschaft ein Interesse im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO ein, eine andere rechtliche Qualifikation, insbesondere eine strengere, geltend zu machen, welche geeignet ist, auf die Würdigung der von ihr erlittenen Beeinträchtigung Einfluss zu haben (BGE 139 IV 84 E. 1.1 S. 86). Damit kann die Privatklägerschaft, unabhängig von der Geltendmachung von Zivilansprüchen, gestützt auf Art. 382 Abs. 1 StPO unter anderem Nichtanhandnahmen und Einstellungen mit Beschwerde, Freisprüche sowie rechtliche Qualifikationen mittels Berufung anfechten (vgl. zum Rechtsmittel gegen eine implizite teilweise Einstellung: BGE 138 IV 241 E. 2.6 S. 246 f.; a.A. Thommen, a.a.O., S. 112; Daphinoff, a.a.O., S. 588).
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2.6. Aus den vorstehenden Überlegungen ergibt sich, dass die in den parlamentarischen Beratungen vertretene Ansicht, wonach die Privatklägerschaft kein Interesse an der Einsprache gegen einen Strafbefehl haben kann, zu kurz greift (vgl. Thommen, a.a.O., S. 111). Obwohl ein Strafbefehl nie einen Freispruch enthält und darin nicht über Zivilforderungen entschieden wird, kann die Privatklägerschaft ein rechtlich geschütztes Interesse an dessen Aufhebung oder Änderung haben - dies auch unabhängig von allfälligen Zivilforderungen. Es erscheint aufgrund der Systematik der Strafprozessordnung gerechtfertigt, die Privatklägerschaft zur Einsprache gegen einen Strafbefehl zuzulassen, wenn sie in einer analogen Situation gemäss Art. 382 Abs. 1 StPO legitimiert wäre, ein Rechtsmittel zu erheben (vgl. Entscheid des Kantonsgerichts Waadt vom 6. Juni 2011 E. 1a [Décision/2011/218]; Schmid, Praxiskommentar, a.a.O., N. 6 zu Art. 354 StPO; derselbe, Handbuch, a.a.O., § 84 Rz. 1362 Fn. 44; Schwarzenegger, a.a.O., N. 5 zu Art. 354 StPO; Riklin, a.a.O., N. 11 zu Art. 354 StPO). Würde man anders entscheiden, wäre diejenige Privatklägerschaft, die Geschädigte eines Delikts ist, das im Strafbefehlsverfahren beurteilt werden kann (vgl. Art. 352 StPO), benachteiligt gegenüber einem Straf- und/oder Zivilkläger, der an einem ordentlichen Verfahren beteiligt ist. Während Erstere sich mit dem Strafbefehl abfinden müsste, könnte Letzterer zumindest an die zweite kantonale Instanz und allenfalls sogar - unter den Voraussetzungen von Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 5 BGG - an das Bundesgericht gelangen.
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2.7. Die Beschwerdeführerin wendet sich gegen die rechtliche Würdigung der Tat des Beschwerdegegners als Tätlichkeiten. Sie argumentiert, seine Handlung beziehungsweise die von ihr erlittenen Verletzungen würden den Tatbestand der (versuchten) einfachen Körperverletzung erfüllen. Ob der Beschwerdegegner wegen Tätlichkeiten oder (versuchter) einfacher Körperverletzung verurteilt wird, kann die Würdigung der von der Beschwerdeführerin erlittenen Beeinträchtigung beeinflussen. Der Tatbestand der einfachen Körperverletzung setzt in objektiver Hinsicht eine schwerere Beeinträchtigung voraus als der Tatbestand der Tätlichkeiten. Gemäss der Rechtsprechung hat die Beschwerdeführerin ein rechtlich geschütztes Interesse im Sinne von Art. 382 Abs. 1 StPO (vgl. BGE 139 IV 84 E. 1.1 S. 86), womit sie auch zur Einsprache gegen den Strafbefehl legitimiert war. Die Vorinstanz verletzt Bundesrecht, indem sie in der Sache nicht auf die Berufung beziehungsweise die Einsprache der Beschwerdeführerin eintritt.
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2.8. Die Vorinstanz wird auf die Berufung eintreten und die Sache materiell prüfen müssen. Bei diesem Verfahrensausgang muss auf die weiteren Rügen grundsätzlich nicht eingegangen werden. Ihren Antrag, die Vorinstanz sei anzuweisen, eine mündliche Berufungsverhandlung durchzuführen, begründet die Beschwerdeführerin nicht. Darauf ist nicht einzutreten (Art. 42 Abs. 1 und 2 BGG).
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Erwägung 3 | |
Die Beschwerde ist gutzuheissen, soweit darauf eingetreten werden kann. Das angefochtene Urteil ist aufzuheben und die Sache zu neuer (materieller) Entscheidung an das Obergericht zurückzuweisen.
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Der Beschwerdegegner unterliegt mit seinem Antrag auf kostenpflichtige Abweisung der Beschwerde. Bei diesem Verfahrensausgang hat er die hälftigen Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdegegnerin sind keine Kosten aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 4 BGG). Der Beschwerdegegner hat, zusammen mit dem Kanton Aargau, die Beschwerdeführerin angemessen zu entschädigen (Art. 68 Abs. 1 und 2 BGG). Die Entschädigung ist praxisgemäss ihrem Rechtsvertreter auszurichten. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung ist gegenstandslos.
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Demnach erkennt das Bundesgericht: | |
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen, soweit darauf einzutreten ist. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Aargau vom 6. Januar 2015 wird aufgehoben und die Sache zu neuer Entscheidung an die Vorinstanz zurückgewiesen.
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2. Die Gerichtskosten werden im Umfang von Fr. 1'000.-- dem Beschwerdegegner auferlegt.
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3. Der Beschwerdegegner und der Kanton Aargau haben der Beschwerdeführerin eine Entschädigung von je Fr. 1'500.-- auszurichten.
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4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Aargau, Strafgericht, 2. Kammer, schriftlich mitgeteilt.
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Lausanne, 30. Juni 2015
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Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
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des Schweizerischen Bundesgerichts
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Der Präsident: Denys
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Die Gerichtsschreiberin: Andres
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