VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 1B_234/2015  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 1B_234/2015 vom 22.07.2015
 
{T 0/2}
 
1B_234/2015
 
 
Urteil vom 22. Juli 2015
 
 
I. öffentlich-rechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Merkli, präsidierendes Mitglied,
 
Bundesrichter Karlen, Chaix,
 
Gerichtsschreiber Härri.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
Beschwerdeführer,
 
vertreten durch Advokat Christoph Dumartheray,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Basel-Stadt, Binningerstrasse 21, 4051 Basel.
 
Gegenstand
 
Untersuchungshaft,
 
Beschwerde gegen den Entscheid vom 11. Juni 2015
 
der Präsidentin des Appellationsgerichts des Kantons Basel-Stadt.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Die Staatsanwaltschaft Basel-Stadt führt ein Strafverfahren gegen A.________ wegen des Verdachts des Betrugs. Sie wirft ihm vor, er habe ein ihm gehörendes Haus, das unter betreibungsamtlicher Zwangsverwaltung gestanden habe und unmittelbar zur Versteigerung vorgesehen gewesen sei, vermietet und dabei einen Jahresmietzins von Fr. 18'000.-- vorab kassiert.
1
B. A.________ führt Beschwerde in Strafsachen mit dem Antrag, den Entscheid der Appellationsgerichtspräsidentin aufzuheben; er sei sofort aus der Haft zu entlassen.
2
C. Die Appellationsgerichtspräsidentin hat Gegenbemerkungen eingereicht mit dem sinngemässen Antrag, die Beschwerde abzuweisen.
3
 
Erwägungen:
 
1. Gegen den angefochtenen Entscheid ist gemäss Art. 78 Abs. 1 BGG die Beschwerde in Strafsachen gegeben. Ein kantonales Rechtsmittel steht nicht zur Verfügung. Die Beschwerde ist somit nach Art. 80 BGG zulässig. Der Beschwerdeführer ist gemäss Art. 81 Abs. 1 lit. a und b Ziff. 1 BGG zur Beschwerde befugt. Die weiteren Sachurteilsvoraussetzungen sind ebenfalls erfüllt und geben zu keinen Bemerkungen Anlass.
4
 
Erwägung 2
 
2.1. Der Beschwerdeführer bringt vor, das Verfahren vor der Vorinstanz habe übermässig lange gedauert. Damit habe diese Art. 5 Abs. 2 StPO verletzt.
5
2.2. Gemäss Art. 5 StPO nehmen die Strafbehörden die Strafverfahren unverzüglich an die Hand und bringen sie ohne unbegründete Verzögerung zum Abschluss (Abs. 1). Befindet sich eine beschuldigte Person in Haft, so wird ihr Verfahren vordringlich durchgeführt (Abs. 2).
6
2.3. Das Bundesgericht erachtete als übermässig lange: eine Verfahrensdauer von 41 Tagen in einem Fall, der keine besonderen Probleme bot (BGE 114 Ia 88 E. 5c S. 92); eine Verfahrensdauer von mehr als 50 Tagen in einem nicht komplexen Fall, in dem ca. 10 Tage der Beschwerdeführer durch sein eigenes Verhalten zu verantworten hatte (BGE 117 Ia 372 E. 3a S. 376 mit Hinweis); eine Verfahrensdauer von 30 Tagen in einem Fall, der weder in verfahrensrechtlicher noch materieller Hinsicht besonders schwierige Fragen aufwarf und in dem das Verhalten des Beschwerdeführers zu keinen Verzögerungen Anlass gab; das Bundesgericht bemängelte insbesondere, dass es vom gerichtlichen Entscheid bis zu dessen Zustellung 10 Tage dauerte, in denen der Beschwerdeführer über das Schicksal seiner Beschwerde im Ungewissen blieb (BGE 117 Ia 372 E. 3a S. 375 f. mit Hinweis auf das Urteil 1P.459/1990 vom 17. August 1990 E. 6b).
7
2.4. Der Beschwerdeführer erhob gegen den Entscheid des Zwangsmassnahmengerichts vom 11. Mai 2015 am Tag darauf Beschwerde. Diese ging bei der Vorinstanz am 13. Mai 2015 ein. Am 18. Mai 2015 stellte die Vorinstanz die Beschwerde der Staatsanwaltschaft zur Vernehmlassung bis zum 27. Mai 2015 zu. Am 21. Mai 2015 liess sich die Staatsanwaltschaft vernehmen. Die Vernehmlassung ging am 26. Mai 2015 bei der Vorinstanz ein. Gleichentags stellte diese die Vernehmlassung dem Beschwerdeführer zur Replik bis zum 2. Juni 2015 zu. Am 28. Mai 2015 sandte der Beschwerdeführer der Vorinstanz die Replik zu. Diese übermittelte die Vorinstanz am folgenden Tag der Staatsanwaltschaft zur Kenntnisnahme. Am 5. Juni 2015 zog die Vorinstanz Akten bei. Am 11. Juni 2015 fällte sie den angefochtenen Entscheid, den sie am 29. Juni 2015 dem Beschwerdeführer zustellte. Dieser erhielt den Entscheid am folgenden Tag.
8
2.5. Vom Eingang der Beschwerde bei der Vorinstanz bis zur Zustellung ihres Entscheids dauerte es demnach 47 Tage. Dies stellt eine lange Zeitspanne dar. Vom Abschluss des Schriftenwechsels am 29. Mai 2015 bis zum vorinstanzlichen Entscheid vergingen 13 Tage. Die Vorinstanz liess somit - auch wenn sie in der Zwischenzeit noch Akten beizog - bis zu ihrem Entscheid längere Zeit verstreichen. Umso mehr hätte sie Anlass gehabt, im Anschluss an ihren Entscheid dessen schriftliche Begründung zügig auszufertigen und dem Beschwerdeführer zuzustellen. Das tat sie jedoch nicht. Zwischen ihrem Entscheid und dessen Zustellung vergingen nochmals 18 Tage. Diese Dauer lässt sich nicht rechtfertigen. Der Fall bot weder in tatsächlicher noch rechtlicher Hinsicht Schwierigkeiten. Der Tatvorwurf ist einfach. Zudem bestritt der Beschwerdeführer den dringenden Tatverdacht bereits vor Vorinstanz nicht. Diese hatte somit im Wesentlichen lediglich zu prüfen, ob ein besonderer Haftgrund gegeben sei. Zu berücksichtigen ist auch, dass als Vorinstanz die Einzelrichterin entschied. Eine Diskussion und Konsensfindung unter mehreren Richtern war somit nicht erforderlich. Zur langen Verfahrensdauer hat der Beschwerdeführer nichts beigetragen. Sie liegt in der alleinigen Verantwortung der Vorinstanz.
9
2.6. Die Beschwerde ist demnach im vorliegenden Punkt gutzuheissen. Die Verletzung des Beschleunigungsgebots ist (im Dispositiv) festzustellen. Zudem ist sie bei der Kostenverlegung zugunsten des Beschwerdeführers zu berücksichtigen (BGE 137 IV 118 E. 2.2 S. 121 f. mit Hinweisen). Da keine besonders schwer wiegende Verletzung des besonderen Beschleunigungsgebots in Haftsachen angenommen werden kann, kommt die Haftentlassung dagegen nicht in Betracht (BGE 137 IV 118 E. 2.1 f. S. 120 f.; Urteil 1B_200/2012 vom 20. April 2012 E. 2.3; je mit Hinweisen).
10
 
Erwägung 3
 
3.1. Gemäss Art. 221 Abs. 1 StPO ist Untersuchungshaft zulässig, wenn die beschuldigte Person eines Verbrechens oder Vergehens dringend verdächtig ist und ernsthaft zu befürchten ist, dass sie durch schwere Verbrechen oder Vergehen die Sicherheit anderer erheblich gefährdet, nachdem sie bereits frühere gleichartige Straftaten verübt hat (lit. c).
11
3.2. Nach der Rechtsprechung kann die Anordnung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr dem Verfahrensziel der Beschleunigung dienen, indem verhindert wird, dass sich der Strafprozess durch immer neue Delikte kompliziert und in die Länge zieht. Auch die Wahrung des Interesses an der Verhütung weiterer schwerwiegender Delikte ist nicht verfassungs- und grundrechtswidrig. Vielmehr anerkennt Art. 5 Ziff. 1 lit. c EMRK ausdrücklich die Notwendigkeit, Beschuldigte an der Begehung strafbarer Handlungen zu hindern, somit Spezialprävention, als Haftgrund (BGE 137 IV 84 E. 3.2 S. 85; 135 I 71 E. 2.2 S. 72 mit Hinweisen). Die Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft wegen Wiederholungsgefahr ist zulässig, wenn einerseits die Rückfallprognose sehr ungünstig und anderseits die zu befürchtenden Delikte von schwerer Natur (im Sinne von Art. 221 Abs. 1 lit. c StPO) sind. Die rein hypothetische Möglichkeit der Verübung weiterer Delikte sowie die Wahrscheinlichkeit, dass nur geringfügige Straftaten verübt werden, reichen dagegen nicht aus, um eine Präventivhaft zu begründen (BGE 135 I 71 E. 2.3 S. 73 mit Hinweisen).
12
 
Erwägung 3.3
 
3.3.1. Der Beschwerdeführer ist einschlägig vorbestraft.
13
3.3.2. Am 28. August 2014 verurteilte das Strafgericht des Kantons Basel-Stadt den Beschwerdeführer wegen Betrugs zu einer unbedingten Freiheitsstrafe von 6 Monaten. Zudem erklärte es die vom Appellationsgericht ausgesprochene bedingte Geldstrafe als vollziehbar. Das Strafgericht kam zum Schluss, der Beschwerdeführer habe einem Garagisten Geschäftsräumlichkeiten vermietet, über die er nicht verfügungsberechtigt gewesen sei, und sich von diesem im Voraus eine Kaution von ca. Fr. 20'000.-- überweisen lassen, die er für eigene Zwecke verwendet habe. Bei der Strafzumessung führte das Strafgericht aus, der Beschwerdeführer habe das Vertrauen des Garagisten bedenkenlos missbraucht. Dass dieser sich in einer Notsituation befunden und dringend Zugang zu den angemieteten Räumlichkeiten benötigt habe, um nach der Kündigung an seinem bisherigen Standort den Garagebetrieb ohne Unterbruch weiterführen zu können, habe der Beschwerdeführer zu seinem Vorteil ausgenützt. Er habe mit dem Garagisten einen Vertrag abgeschlossen, von dem er von Anfang an gewusst habe, dass er ihn nicht werde erfüllen können. Dass er den Garagisten dadurch in existentielle Not gebracht habe, scheine ihn auch heute noch nicht zu kümmern.
14
3.3.3. Im jetzigen Strafverfahren wirft die Staatsanwaltschaft dem Beschwerdeführer vor, sich in gleichartiger Weise erneut des Betrugs schuldig gemacht zu haben. Was den äussern Ablauf der Ereignisse betrifft, ist der Beschwerdeführer grundsätzlich geständig.
15
3.4. Es kann dahingestellt bleiben, ob hinsichtlich der noch nicht rechtskräftigen strafgerichtlichen Verurteilung vom 28. August 2014 und des neuen Vorfalles eine erdrückende Beweislage besteht. Das Vortatenerfordernis ist schon deshalb erfüllt, weil der Beschwerdeführer, wie vom Appellationsgericht mit Urteil vom 21. September 2011 rechtskräftig festgestellt, bereits mehrfach ähnliche Taten gegen dasselbe Rechtsgut begangen hat. Sowohl Veruntreuung (Art. 138 Ziff. 1 StGB) als auch Betrug (Art. 146 StGB) und Urkundenfälschung (Art. 251 Ziff. 1 StGB) stellen gemäss Art. 10 Abs. 2 StGB Verbrechen dar.
16
4. Nach dem Gesagten ist die Beschwerde teilweise gutzuheissen und festzustellen, dass die Vorinstanz das Beschleunigungsgebot verletzt hat. Im Übrigen ist die Beschwerde abzuweisen.
17
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird teilweise gutgeheissen und festgestellt, dass die Vorinstanz das Beschleunigungsgebot verletzt hat. Im Übrigen wird die Beschwerde abgewiesen.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung wird, soweit es nicht gegenstandslos geworden ist, gutgeheissen.
 
3. Es werden kein Gerichtskosten erhoben.
 
4. Der Kanton Basel-Stadt hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Advokat Christoph Dumartheray, eine Entschädigung von Fr. 2'000.-- zu bezahlen.
 
5. Dem Vertreter des Beschwerdeführers, Advokat Christoph Dumartheray, wird aus der Bundesgerichtskasse eine Entschädigung von Fr. 1'000.-- ausgerichtet.
 
6. Dieses Urteil wird dem Beschwerdeführer sowie der Staatsanwaltschaft und der Appellationsgerichtspräsidentin des Kantons Basel-Stadt schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 22. Juli 2015
 
Im Namen der I. öffentlich-rechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Das präsidierende Mitglied: Merkli
 
Der Gerichtsschreiber: Härri
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).