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Informationen zum Dokument  BGer 9C_190/2016  Materielle Begründung
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BGer 9C_190/2016 vom 20.06.2016
 
{T 0/2}
 
9C_190/2016
 
 
Urteil vom 20. Juni 2016
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Glanzmann, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Pfiffner, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiber Fessler.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
A.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Dr. Harry F. Nötzli,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
IV-Stelle des Kantons Thurgau, Rechts- und Einsprachedienst,
 
St. Gallerstrasse 11, 8500 Frauenfeld,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung
 
(Invalidenrente; Neuanmeldung),
 
Beschwerde gegen den Entscheid des Verwaltungsgerichts des Kantons Thurgau
 
vom 3. Februar 2016.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Nachdem ein erstes Gesuch im Juni 2011 abgelehnt worden war, meldete sich A.________ im Mai 2014 erneut bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug an. Nach Abklärungen (u.a. Gutachten Dr. med. B.________, Fachärztin für Psychiatrie und Psychotherapie FMH, vom 29. April 2015) und durchgeführtem Vorbescheidverfahren wies die IV-Stelle des Kantons Thurgau mit Verfügung vom 7. September 2015 das Leistungsbegehren ab.
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B. Die Beschwerde der A.________ mit dem Rechtsbegehren auf Zusprechung der gesetzlichen Leistungen, insbesondere einer Rente, wies das Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau als Versicherungsgericht mit Entscheid vom 3. Februar 2016 ab.
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C. Mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten beantragt A.________, der Entscheid vom 3. Februar 2016 sei aufzuheben und die IV-Stelle sei, allenfalls gestützt auf ein neuerliches psychiatrisches Gutachten, zu verpflichten, ihr eine IV-Rente auszurichten.
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Erwägungen:
 
1. Die Vorinstanz hat den Anspruch der Beschwerdeführerin auf eine Rente der Invalidenversicherung im Wesentlichen mit der Begründung verneint, gemäss dem schlüssigen und nachvollziehbaren psychiatrischen Gutachten vom 29. April 2015 habe - bei Ablauf der Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG im Februar 2015 - kein relevanter psychischer Gesundheitsschaden mit Auswirkungen auf die Arbeitsfähigkeit bestanden.
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2. Die Beschwerdeführerin rügt eine Verletzung des Grundsatzes der freien Beweiswürdigung (Art. 61 lit. c ATSG). Weiter bestreitet sie den Beweiswert des Administrativgutachtens vom 29. April 2015. Die Expertise leide an schweren formellen und inhaltlichen Mängeln und stehe insbesondere in Bezug auf die Diagnose in diametralem Widerspruch zu allen anderen Fachärzten.
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3. Nach dem Grundsatz der freien Beweiswürdigung hat das Sozialversicherungsgericht, ohne an förmliche Beweisregeln gebunden zu sein, alle Beweismittel, unabhängig davon, von wem sie stammen, objektiv zu prüfen und danach zu entscheiden, ob die verfügbaren Unterlagen eine zuverlässige Beurteilung des streitigen Anspruches gestatten. Insbesondere darf es bei einander widersprechenden medizinischen Berichten den Prozess nicht erledigen, ohne das gesamte Beweismaterial zu würdigen und die Gründe anzugeben, warum er auf die eine und nicht auf die andere medizinische These abstellt (BGE 125 V 351 E. 3a S. 352). Diesen Vorgaben genügt der angefochtene Entscheid entgegen der diesbezüglichen Kritik in der Beschwerde. Namentlich hat die Vorinstanz nach unbestrittener, für das Bundesgericht verbindlicher Feststellung (Art. 105 Abs. 1 und 2 BGG) auch die nachgereichten ärztlichen Berichte, u.a. denjenigen des behandelnden Psychiaters und Psychotherapeuten vom 18. Juni 2015, in die Beweiswürdigung miteinbezogen.
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4. Einem ärztlichen Bericht kommt Beweiswert zu, wenn er für die streitigen Belange umfassend ist, auf allseitigen Untersuchungen beruht, auch die geklagten Beschwerden berücksichtigt, in Kenntnis der Vorakten (Anamnese) abgegeben worden ist, in der Beurteilung der medizinischen Zusammenhänge und der medizinischen Situation einleuchtet und wenn die Schlussfolgerungen des Arztes begründet sind (BGE 134 V 231 E. 5.1 S. 232). Eine abweichende fachärztliche Beurteilung allein genügt nicht, um den Beweiswert eines medizinischen Gutachtens entscheidend zu mindern. Weiter kommt es im Rahmen der Invaliditätsbemessung jedenfalls im psychiatrischen Kontext grundsätzlich nicht auf die Diagnose, sondern einzig darauf an, welche Auswirkungen eine Erkrankung auf die Arbeitsfähigkeit hat. Massgebend ist in erster Linie der psychopathologische Befund und der Schweregrad der Symptomatik (Urteil 9C_634/2015 vom 15. März 2016 E. 6.1 mit Hinweisen). Schliesslich kann die psychiatrische Begutachtung von der Natur der Sache her nicht ermessensfrei erfolgen; sie eröffnet der sachverständigen Person deshalb praktisch immer einen gewissen Spielraum, innerhalb welchem verschiedene Interpretationen möglich, zulässig und im Rahmen einer Exploration lege artis zu respektieren sind (vgl. statt vieler Urteil 9C_353/2015 vom 24. November 2015 E. 4.1).
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4.1. Im Aktenauszug des Gutachtens vom 29. April 2015 wurden nicht alle bis zu diesem Zeitpunkt erstellten ärztlichen Berichte aufgeführt, wie die Beschwerdeführerin vorbringt. Gemäss Vorinstanz lagen der Expertin indessen die relevanten medizinischen Vorakten vor. Diese Feststellung ist nicht offensichtlich unrichtig, zumal wenn berücksichtigt wird, dass die Mehrzahl der nicht erwähnten Berichte im Gutachten des Vertrauensarztes der Vorsorgeeinrichtung des letzten Arbeitgebers der Versicherten vom 27. November 2014 auszugsweise wiedergegeben wurden. Auf den Austrittsbericht der Klinik C.________ vom 5. Januar 2015 wurde zumindest bei der Diskussion der Auswirkungen der Diagnosen auf die Arbeitsfähigkeit Bezug genommen. Im Weitern besteht in diagnostischer Hinsicht kein unauflösbarer Widerspruch zwischen den beiden Expertisen. Die Administrativgutachterin stellte u.a. die Diagnosen einer rezidivierenden depressiven Störung, gegenwärtig remittiert (ICD-10 F33.4), ausgelöst von anhaltender bzw. wiederkehrender psychosozialer Mehrfachbelastungssituation und einer ängstlich geprägten Dysthymia (ICD-10 F34.1). Bei der Beurteilung der Befunde sprach sie indessen lediglich von einer dauernden depressiven Verstimmung, in Bezug auf welche die Kriterien selbst für eine leichte rezidivierende depressive Störung nicht erfüllt seien. Der Vertrauensarzt der Vorsorgeeinrichtung des letzten Arbeitgebers der Versicherten hatte zwar festgehalten, es bestehe kein Zweifel am Vorliegen einer chronisch depressiven Störung, welche gegenwärtig mittelgradig ausgeprägt sei, wie in der Beschwerde vorgebracht wird. Er stellte jedoch, und zwar in Kenntnis davon, dass die Explorandin zwischenzeitlich am 29. September 2014 in die Klinik C.________ für eine stationäre psychiatrische Behandlung eingetreten war, lediglich die Diagnose einer rezidivierenden depressiven Episode, gegenwärtig mittelgradig bis schwer, mit somatischem Syndrom (ICD-10 F32.11). Schliesslich verkennt die Beschwerdeführerin bei ihrer Kritik an dem von der Administrativgutachterin verwendeten Messinstrument (HAM-D 21), dass nach der Rechtsprechung einem testmässigen Erfassen der Psychopathologie ohnehin nur ergänzende Funktion beigemessen werden kann, während die klinische Untersuchung mit Anamneseerhebung, Symptomerfassung und Verhaltensbeobachtung ausschlaggebend bleibt (Urteil 9C_353/2015 vom 24. November 2015 E. 4.1 mit Hinweis).
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4.2. Wie das kantonale Versicherungsgericht sodann zutreffend erkannt hat, kann ein invalidisierender psychischer Gesundheitsschaden nur gegeben sein, wenn das klinische Beschwerdebild nicht einzig in psychosozialen und soziokulturellen Umständen seine Erklärung findet, sondern davon psychiatrisch unterscheidbare Befunde umfasst. Lediglich depressive Verstimmungszustände genügen somit nicht. Vielmehr muss eine davon klar unterscheidbare fachärztlich befundete Depression oder ein damit vergleichbares psychisches Leiden gegeben sein. In diesem Sinne verselbständigte Störungen mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit sind unabdingbar, damit überhaupt von Invalidität gesprochen werden kann (BGE 127 V 294 E. 5a S. 299; vgl. auch BGE 141 V 281 E. 4.3.1.1 S. 298).
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4.2.1. Gemäss Vorinstanz hatten bei der Beschwerdeführerin immer psychosoziale Faktoren im Vordergrund gestanden, was diese nicht substanziiert bestreitet. Im Administrativgutachten wurde festgehalten, sämtliche Arbeitsunfähigkeitsattestierungen seit Februar 2014 beruhten auf einem durch psychosoziale Belastungsfaktoren hervorgerufenen reaktiven Leiden. Im Bericht der Klinik C.________ vom 5. Januar 2015 über den stationären Aufenthalt der Versicherten vom 29. September bis 18. Dezember 2014 war u.a. eine akute psychosoziale Belastungssituation (ICD-10 F43.2) diagnostiziert worden. Vermutlich aus einer Kombination von gehäuftem Kränkungserleben am Arbeitsplatz sowie langjährigen Paarkonflikten habe sich in den letzten Monaten erneut eine zunehmend depressive Symptomatik entwickelt. Der Vertrauensarzt der Vorsorgeeinrichtung des letzten Arbeitgebers der Beschwerdeführerin hatte in seinem Gutachten vom 27. November 2014 festgehalten, nach einer schlechten Mitarbeiterbeurteilung sei es zu einem "Nervenzusammenbruch" gekommen. Durch den Konflikt am Arbeitsplatz, der von der Explorandin vor allem als mangelnde Wertschätzung wahrgenommen worden sei, habe sich die vorbestehende Persönlichkeitsauffälligkeit akzentuiert, was wiederum zur Ausbildung depressiver Symptome beigetragen habe.
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4.2.2. Bei der Darstellung der Funktionseinschränkungen hielt die Administrativgutachterin fest, die von den (ambulant und stationär) behandelnden Ärzten 2013 - 2014 sowie vom Vertrauensarzt der Vorsorgeeinrichtung des letzten Arbeitgebers der Versicherten festgestellten Angst- und Depressionsstörungen dürften zum damaligen Zeitpunkt im Schweregrad ausgeprägt und damit auch klinisch relevant gewesen sein. Zur Arbeitsfähigkeit in einer leidensadaptierten Tätigkeit äusserte sie sich sodann wie folgt: "Zusammenfassend lag (...) vom 10.02.2014 bis 25.04.2015 vorübergehende Arbeitsunfähigkeit vor. Bis 04.01.2015 war (...) 100%-ige Arbeitsunfähigkeit nachzuweisen, vom 05.01.2015 bis 26.04.2015 noch etwa 50%-Arbeitsfähigkeit [recte: Arbeitsunfähigkeit] bei abklingender Depressivität und Ängstlichkeit. Seit 27.04.2015 liegt 100%-ige Arbeitsfähigkeit vor".
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Unabhängig davon, ob und inwieweit eine (Angst- und) Depressionsstörung von ausgeprägtem Schweregrad, selbst wenn psychosoziale Belastungsfaktoren das Beschwerdebild prägen und die Störung insofern reaktiv ist, einen invalidisierenden psychischen Gesundheitsschaden im dargelegten Sinne darstellt, steht fest: Für die Zeit ab 5. Januar 2015 ging die Administrativgutachterin von einer abklingenden Depressivität mit Remission spätestens im Zeitpunkt der Untersuchung vom 27. April 2016 aus. Diesbezüglich ist zu beachten, dass Störungen leicht bis mittelgradiger depressiver Natur, seien sie im Auftreten rezidivierend oder episodisch, einzig dann als invalidisierende Krankheiten in Betracht fallen, wenn sie erwiesenermassen therapieresistent sind. Dabei muss die Therapie in dem Sinne konsequent gewesen sein, dass die aus fachärztlicher Sicht indizierten zumutbaren (ambulanten und stationären) Behandlungsmöglichkeiten in kooperativer Weise optimal und nachhaltig ausgeschöpft wurden (Urteil 9C_13/2016 vom 14. April 2016 E. 4.2 mit Hinweisen). Gemäss dem Adminstrativgutachten kann zwar von erheblichen Behandlungsanstrengungen seit August 2010 gesprochen werden. Hinweise auf Therapieresistenz lassen sich der Expertise jedoch nicht entnehmen.
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4.2.3. Unter diesen Umständen verletzt es kein Bundesrecht, dass die Vorinstanz - bezogen auf den frühest möglichen Ablauf der Wartezeit nach Art. 28 Abs. 1 lit. b IVG am 9. Februar 2015 - eine von psychosozialen Belastungsfaktoren losgelöste verselbständigte psychische Störung mit Auswirkungen auf die Arbeits- und Erwerbsfähigkeit und damit einen invalidisierenden Gesundheitsschaden verneint hat.
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4.3. Die Beschwerde ist unbegründet.
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5. Ausgangsgemäss hat die Beschwerdeführerin die Gerichtskosten zu tragen (Art. 66 Abs. 1 BGG).
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 Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden der Beschwerdeführerin auferlegt.
 
3. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Verwaltungsgericht des Kantons Thurgau und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 20. Juni 2016
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Glanzmann
 
Der Gerichtsschreiber: Fessler
 
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