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Informationen zum Dokument  BGer 9C_826/2016  Materielle Begründung
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BGer 9C_826/2016 vom 10.03.2017
 
{T 0/2}
 
9C_826/2016
 
 
Urteil vom 10. März 2017
 
 
II. sozialrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichterin Pfiffner, Präsidentin,
 
Bundesrichterin Glanzmann, Bundesrichter Parrino,
 
Gerichtsschreiber R. Widmer.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
IV-Stelle des Kantons St. Gallen, Brauerstrasse 54, 9016 St. Gallen,
 
Beschwerdeführerin,
 
gegen
 
Beschwerdegegner.
 
Gegenstand
 
Invalidenversicherung,
 
Beschwerde gegen den Entscheid
 
des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen
 
vom 23. November 2016.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Der 1988 geborene A.________, gelernter Bodenleger, hatte sich am 8. August 2014 unter Hinweis auf Kniebeschwerden bei der Invalidenversicherung zum Leistungsbezug angemeldet. Die IV-Stelle des Kantons St. Gallen prüfte den Anspruch auf berufliche Massnahmen. Am 28. Juli 2015 teilte sie A.________ mit, sie übernehme die Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung zum Technischen Kaufmann beim Bildungszentrum B.________ im Betrag von Fr. 22'443.-. Zusätzlich habe der Versicherte während der Dauer der beruflichen Massnahme Anspruch auf ein Taggeld. Dafür erhalte er eine separate Verfügung. Am 31. Juli 2015 erliess die IV-Stelle die Taggeldverfügung. Die Massnahme sollte vom 24. August 2015 bis 2. April 2017 dauern. Für die Periode vom 24. August bis 31. Dezember 2015 setzte die IV-Stelle das Taggeld auf Fr. 103.80 fest, während sie für den Taggeldanspruch ab 1. Januar 2016 eine neue Verfügung in Aussicht stellte. Am 15. Dezember 2015 erliess die IV-Stelle die entsprechende Verfügung, wobei sie das Taggeld für das Jahr 2016 auf Fr. 122.10 festlegte. Auf ein Wiedererwägungsgesuch betreffend die Verfügung vom 31. Juli 2015 trat die IV-Stelle nicht ein (Verfügung vom 1. Februar 2016).
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B. A.________ liess hiegegen Beschwerde führen mit dem Antrag, unter Aufhebung der Verfügung sei ihm ein "grosses" Taggeld zuzusprechen. Das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen hob die Verfügung vom 15. Dezember 2015 in Gutheissung der Beschwerde auf und wies die Sache zu neuer Berechnung des Taggeldes ab 1. Januar 2016 im Sinne der Erwägungen an die IV-Stelle zurück (Entscheid vom 23. November 2016).
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C. Die IV-Stelle führt Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten mit dem Rechtsbegehren, der vorinstanzliche Entscheid sei aufzuheben. Ferner ersucht sie um Gewährung der aufschiebenden Wirkung.
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Während A.________ auf Abweisung der Beschwerde schliessen lässt, verzichtet das Bundesamt für Sozialversicherungen auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
1. Mit der Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten kann u.a. die Verletzung von Bundesrecht gerügt werden (Art. 95 lit. a BGG), die Feststellung des Sachverhalts nur, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 lit. a BGG beruht und wenn die Behebung des Mangels für den Ausgang des Verfahrens entscheidend sein kann (Art. 97 Abs. 1 BGG). Das Bundesgericht legt seinem Urteil den Sachverhalt zugrunde, den die Vorinstanz festgestellt hat (Art. 105 Abs. 1 BGG). Es kann die Sachverhaltsfeststellung der Vorinstanz von Amtes wegen berichtigen oder ergänzen, wenn sie offensichtlich unrichtig ist oder auf einer Rechtsverletzung im Sinne von Art. 95 beruht (Art. 105 Abs. 2 BGG).
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2. Der vorinstanzliche Rückweisungsentscheid ist selbstständig mit Beschwerde in öffentlich-rechtlichen Angelegenheiten anfechtbar, da er verbindliche Vorgaben zur neuen Beurteilung enthält, die für die IV-Stelle rechtsprechungsgemäss einen nicht wieder gutzumachenden Nachteil im Sinne von Art. 93 Abs. 1 lit. a BGG darstellen (BGE 140 V 282 E. 4.2 S. 285, 133 V 477 E. 5.2.4 S. 484 f.).
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3. 
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3.1. Die Vorinstanz stellte zunächst fest, die Rechtsbeständigkeit einer Taggeldverfügung erstrecke sich auf die gesamte Dauer des Versicherungsfalles, d.h. der zugesprochenen beruflichen Massnahme. Die Art des Taggeldes sei somit durch die Verfügung vom 31. Juli 2015 für die ganze Dauer der Massnahme rechtskräftig festgelegt worden. Hingegen sei die Verfügung vom 31. Juli 2015 nicht begründet gewesen. Weder aus der vorgängigen Mitteilung vom 28. Juli 2015 noch aus der Verfügung gehe hervor, weshalb dem Beschwerdegegner eine erstmalige berufliche Ausbildung und nicht eine Umschulung zugesprochen wurde. Die Verfügung vom 31. Juli 2015 sei in Rechtskraft erwachsen. Hingegen sei die angefochtene Verfügung (vom 15. Dezember 2015) unabhängig von dieser Verfügung auf ihre Rechtmässigkeit zu prüfen. Der Beschwerdegegner sei im Vertrauen darauf zu schützen, dass sich die Verfügung vom 31. Juli 2015 nur auf den dort genannten Zeitraum beziehe und dass er allenfalls spätere Verfügungen für künftige Taggeldperioden materiell überprüfen lassen könne. Die Annahme einer Bindungswirkung der Verfügung vom 31. Juli 2015 für die vorliegend angefochtene Verfügung vom 15. Dezember 2015 würde für den Beschwerdegegner einen Nachteil bewirken, der durch die fehlende Begründung entstanden ist, was Art. 49 Abs. 3 ATSG und dem Vertrauensschutz widersprechen würde. In der Folge prüfte das kantonale Gericht die Rechtmässigkeit der angefochtenen Verfügung unabhängig von der rechtskräftigen Verfügung vom 31. Juli 2015. Es gelangte zum Schluss, dass der Beschwerdegegner Anspruch auf Umschulung und damit ein "grosses Taggeld" nach Art. 23 Abs. 1 IVG habe, welches die IV-Stelle zu berechnen und festzusetzen habe.
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3.2. Die Beschwerdeführerin bestreitet, dass der Versicherte nicht gewusst habe, ob er zum Zeitpunkt des Erlasses der Verfügung vom 31. Juli 2015 Taggelder für eine Umschulung oder eine erstmalige berufliche Ausbildung erhalten hatte. Am 28. Juli 2015, lediglich drei Tage vor Erlass der Taggeldverfügung vom 31. Juli 2015, sei ihm eröffnet worden, dass ihm Kostengutsprache für erstmalige berufliche Ausbildung gewährt wird. Im Übrigen bilde allein die zweite Taggeldverfügung vom 15. Dezember 2015 Anfechtungsgegenstand des vorliegenden Verfahrens. Mit ihren Einwendungen gegen die Mitteilung vom 28. Juli 2015 und die Taggeldverfügung vom 31. Juli 2015 habe die Vorinstanz die beiden behördlichen Akte faktisch in Wiedererwägung gezogen; dazu sei sie indessen nicht befugt. Auf das Wiedererwägungsgesuch des Beschwerdegegners sei die IV-Stelle bereits mit Verfügung vom 1. Februar 2016 nicht eingetreten.
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4. 
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4.1. Gemäss Mitteilung vom 28. Juli 2015 erteilte die IV-Stelle dem Versicherten Kostengutsprache für die Mehrkosten der erstmaligen beruflichen Ausbildung zum Technischen Kaufmann beim Bildungszentrum B.________ vom 24. August 2015 bis 1. April 2017. Sie wies den Beschwerdegegner darauf hin, dass er für das Taggeld eine separate Verfügung erhalten werde. Nur drei Tage später, am 31. Juli 2015, erging die dazugehörige Taggeldverfügung, welche die Gesamtdauer der Massnahme (24. August 2015 bis 2. April 2017) und die Taggeldverfügungsperiode (24. August 2015 bis 31. Dezember 2015) sowie den Hinweis enthielt, dass über den Taggeldanspruch ab 1. Januar 2016 zu gegebener Zeit neu verfügt werde. Damit war für den Beschwerdegegner klar, dass er Anspruch auf eine erstmalige berufliche Ausbildung mit dazugehörigem Taggeld (sogenanntes kleines Taggeld) hat. Soweit die Vorinstanz ausführt, für den Beschwerdegegner sei aufgrund dieser von der IV-Stelle korrekt eröffneten Mitteilung nicht nachvollziehbar gewesen, aus welchem Grunde er Anspruch auf welche Leistungen gehabt habe, hat sie den rechtserheblichen Sachverhalt offensichtlich unrichtig festgestellt, weshalb das Bundesgericht nicht daran gebunden ist (E. 1 hievor).
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4.2. Auszugehen ist daher davon, dass dem Versicherten gemäss Mitteilung und Taggeldverfügung korrekt und umfassend eröffnet wurde, auf welche Leistungen er Anspruch hat. Entgegen den Ausführungen der Vorinstanz kann von einer mangelhaften Eröffnung der Verfügung nicht gesprochen werden, da Mitteilung und Verfügung zusammen hinreichend über die Leistungsansprüche orientierten und insbesondere keine Zweifel daran aufkommen liessen, dass Anspruch auf eine erstmalige berufliche Ausbildung besteht. Insoweit und mit Bezug auf die Taggeldhöhe liegt eine rechtsgenügliche Begründung vor. Wenn der Beschwerdegegner der Auffassung gewesen wäre, Anspruch auf eine Umschulung statt eine erstmalige berufliche Ausbildung zu haben, hätte er die Verfügung vom 31. Juli 2015 anfechten müssen. Aus welchem Grund er dies unterlassen hat und stattdessen erst gegen die zweite Taggeldverfügung vom 15. Dezember 2015 (für 2016) Beschwerde eingereicht hat, kann offenbleiben.
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4.3. Liegt entgegen dem angefochtenen Entscheid keine mangelhafte Eröffnung der Verfügung vom 31. Juli 2015 vor, stellt sich die Frage nicht, ob eine solche es rechtfertigen würde, die Rechtmässigkeit der zweiten Verfügung vom 15. Dezember 2015 unabhängig von der ersten Verfügung vom 31. Juli 2015 zu prüfen, deren Rechtsbeständigkeit sich auf die gesamte Dauer der gewährten beruflichen Massnahme erstreckt (SVR 2011 IV Nr. 15 S. 40, 9C_782/2009 E. 2). Die vorinstanzlichen Erwägungen zur Frage, ob dem Beschwerdegegner anstelle der erstmaligen beruflichen Ausbildung nicht eine Umschulung zuzusprechen wäre, sind damit infolge Rechtskraft der ersten Verfügung obsolet. Wie die IV-Stelle zu Recht bemerkt, läuft der vorinstanzliche Entscheid im Ergebnis auf eine Wiedererwägung der Mitteilung vom 28. Juli und der formell rechtskräftigen Verfügung vom 31. Juli 2015 hinaus, wozu nur der Versicherungsträger, welcher die Verfügung erlassen hat, nicht aber das Gericht, befugt wäre (vgl. Art. 53 Abs. 2 ATSG). Der angefochtene Entscheid, der die Rechtsbeständigkeit der Verfügung vom 31. Juli 2015 missachtet, ist bundesrechtswidrig.
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5. Mit dem Entscheid in der Hauptsache wird das Gesuch der Beschwerdeführerin um Gewährung der aufschiebenden Wirkung gegenstandslos.
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6. Dem Verfahrensausgang entsprechend sind die Gerichtskosten dem unterliegenden Beschwerdegegner aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 Satz 1 BGG).
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. In Gutheissung der Beschwerde wird der Entscheid des Versicherungsgerichts des Kantons St. Gallen vom 23. November 2016 aufgehoben und die Verfügung der IV-Stelle des Kantons St. Gallen vom 15. Dezember 2015 bestätigt.
 
2. Die Gerichtskosten von Fr. 800.- werden dem Beschwerdegegner auferlegt.
 
3. Die Sache wird zur Neuverlegung der Kosten des vorangegangenen Verfahrens an das Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen zurückgewiesen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien, dem Versicherungsgericht des Kantons St. Gallen und dem Bundesamt für Sozialversicherungen schriftlich mitgeteilt.
 
Luzern, 10. März 2017
 
Im Namen der II. sozialrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Die Präsidentin: Pfiffner
 
Der Gerichtsschreiber: Widmer
 
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