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Informationen zum Dokument  BGer 6B_1073/2016  Materielle Begründung
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BGer 6B_1073/2016 vom 27.04.2017
 
6B_1073/2016
 
 
Urteil vom 27. April 2017
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichter Oberholzer,
 
Bundesrichterin Jametti,
 
Gerichtsschreiber Moses.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
vertreten durch Rechtsanwalt Jürg Federspiel,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich, Florhofgasse 2, 8090 Zürich,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Schwere Körperverletzung, Willkür, Nichteinholen eines Gutachtens,
 
Beschwerde gegen das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich, I. Strafkammer, vom 23. Mai 2016.
 
 
Sachverhalt:
 
A. Das Bezirksgericht Zürich erklärte X.________ am 19. August 2015 der versuchten schweren Körperverletzung, der Sachbeschädigung sowie der mehrfachen Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes schuldig. Es bestrafte ihn mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 42 Monaten und einer Busse von Fr. 800.--. Sowohl X.________ (amtlich verteidigt durch Rechtsanwalt A.________) als auch die Staatsanwaltschaft erhoben gegen dieses Urteil Berufung.
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B. Das Obergericht des Kantons Zürich setzte am 18. März 2016 die Berufungsverhandlung auf den 23. Mai 2016 fest und lud die Parteien vor. Am 10. Mai 2016 teilte Rechtsanwalt Jürg Federspiel dem Obergericht mit, X.________ habe ihn neu mit der erbetenen Verteidigung im Berufungsverfahren beauftragt. Er beantragte, es seien ihm die Akten zur Einsicht zuzustellen und der Termin der Berufungsverhandlung sei neu anzusetzen. Gleichzeitig beantragte Rechtsanwalt Jürg Federspiel, der bisherige amtliche Verteidiger sei aus seiner Pflicht zu entlassen.
2
Das Obergericht verfügte am 11. Mai 2016, es werde vorgemerkt, dass X.________ neu durch Rechtsanwalt Jürg Federspiel erbeten verteidigt werde. Die Gesuche um Entlassung des bisherigen amtlichen Verteidigers und Verschiebung der Berufungsverhandlung wies es ab.
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C. Die Berufungsverhandlung fand am 23. Mai 2016 in Abwesenheit von Rechtsanwalt Jürg Federspiel statt. Rechtsanwalt A.________ beantragte unter anderem, die Verhandlung sei abzubrechen und ein neuer Gerichtstermin sei festzusetzen. Das Obergericht lehnte diesen Antrag ab. Es stellte fest, dass die erstinstanzlichen Schuldsprüche wegen Sachbeschädigung und mehrfacher Übertretung des Betäubungsmittelgesetzes in Rechtskraft erwachsen waren. Es sprach X.________ zudem der versuchten schweren Körperverletzung schuldig und bestrafte ihn mit einer unbedingten Freiheitsstrafe von 42 Monaten sowie einer Busse von Fr. 800.--.
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D. X.________ führt Beschwerde in Strafsachen. Im Hauptpunkt beantragt er, die Sache sei zur Durchführung einer neuen Berufungsverhandlung in Anwesenheit seines Wahlverteidigers an die Vorinstanz zurückzuweisen. Der Beschwerde sei die aufschiebende Wirkung zu erteilen; ihm sei die unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung zu gewähren.
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E. Das Bundesgericht lehnte den Antrag um unentgeltliche Rechtspflege und Verbeiständung am 31. Januar 2017 ab. Das Obergericht und die Oberstaatsanwaltschaft des Kantons Zürich verzichten auf eine Vernehmlassung.
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Erwägungen:
 
 
Erwägung 1
 
1.1. Der Beschwerdeführer rügt, Rechtsanwalt Jürg Federspiel sei am 9. Mai 2016 mit der Wahlverteidigung beauftragt worden. Der Antrag an die Vorinstanz um Verschiebung der Berufungsverhandlung, Akteneinsicht und Entlassung des bisherigen amtlichen Verteidigers sei umgehend am 10. Mai 2016 erfolgt. Das Gesuch um Verschiebung der Verhandlung sei, entgegen der Auffassung der Vorinstanz, rechtzeitig erfolgt, zumal dieses prompt nach der Mandatierung gestellt worden sei. Auch sei es mit Hinweis auf Unmöglichkeit der Teilnahme am festgesetzten Termin, notwendige Akteneinsicht und Vorbereitung hinreichend begründet gewesen. Die Vorinstanz habe den Anspruch auf Wahlverteidigung gemäss Art. 129 Abs. 1 StPO verletzt, indem sie die Verschiebung der Hauptverhandlung ohne ausreichenden Grund abgelehnt habe. Auch habe die Vorinstanz Art. 134 StPO verletzt, weil sie die amtliche Verteidigung trotz Beauftragung eines Wahlverteidigers nicht widerrufen habe.
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1.2. Die Vorinstanz erwägt, dass der Antrag auf Verschiebung der Berufungsverhandlung bereits am 11. Mai 2016 mittels Präsidialverfügung abgelehnt worden sei, zumal dieses weder hinreichend begründet noch rechtzeitig erfolgt sei. An dieser Beurteilung habe sich auch für den Zeitpunkt der Berufungsverhandlung nichts geändert. Die Ablehnung dieses Antrages würde die Verteidigungsrechte des Beschwerdeführers nicht verletzen. Zu der von Rechtsanwalt A.________ wahrgenommenen amtlichen Verteidigung habe zu keinem Zeitpunkt Anlass zu Kritik bestanden. Der amtliche Verteidiger habe auch nicht geltend gemacht, er könne keine wirksame Verteidigung gewährleisten. Der Beschwerdeführer sei damit jederzeit wirksam und ordnungsgemäss verteidigt gewesen. Der Termin der Berufungsverhandlung sei auch mit dem amtlichen Verteidiger abgesprochen worden. Es bestehe kein Anlass, die Berufungsverhandlung aufgrund des Gesuches der erbetenen Verteidigung zu verschieben.
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1.3. Gemäss Art. 129 Abs. 1 StPO ist die beschuldigte Person berechtigt, in jedem Strafverfahren und auf jeder Verfahrensstufe einen Rechtsbeistand mit ihrer Vertretung zu betrauen (Wahlverteidigung). Art. 129 StPO kodifiziert damit als bundesrechtliche Verfahrensvorschrift einen bereits in Art. 32 Abs. 2 BV, Art. 6 Abs. 3 EMRK sowie Art. 14 Abs. 3 lit. b UNO-Pakt II (SR 0.103.2) garantierten fundamentalen Grundsatz eines rechtsstaatlichen Strafverfahrens. Aus dem Wortlaut der Norm ergibt sich, dass grundsätzlich eine (Wahl-) Verteidigung nie ausgeschlossen werden darf und die beschuldigte Person in der Auswahl (und im Wechsel) ihrer Verteidigung frei ist. Die Bestimmung ist nach der Rechtsprechung unter anderem verletzt, wenn das Gericht an einem Verhandlungstermin festhält, obwohl keine strafprozessualen Grundsätze oder Parteirechte übriger Verfahrensbeteiligter vorliegen, die die Ablehnung des Gesuches und die damit verbundene Einschränkung der freien Anwaltswahl rechtfertigen würden, und wenn das Ersuchen nicht trölerisch oder rechtsmissbräuchlich ist (Urteil 6B_350/2013 vom 25. Juli 2013 E. 2.3 und 2.4).
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Vorliegend sind keine Gründe im Sinne der bundesgerichtlichen Rechtsprechung ersichtlich, welche geeignet wären, eine Ablehnung des Antrages um Verschiebung der Berufungsverhandlung zu rechtfertigen. Der Antrag erweist sich auch nicht als rechtsmissbräuchlich. Die beschuldigte Person kann ihre Wahlverteidigung frei bestimmen, weshalb es nicht darauf ankommt, ob ihre bisherige amtliche Verteidigung Anlass zu Beanstandungen gab. Entgegen den Erwägungen der Vorinstanz war der Antrag auf Verschiebung der Berufungsverhandlung weder verspätet noch unbegründet. Der neue Wahlverteidiger stellte das Gesuch unmittelbar nach seiner Mandatierung und begründete es unter anderem damit, dass er die Akten studieren und sich vorbereiten müsse. Dies reicht aus.
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2. Die Beschwerde ist gutzuheissen. Die Sache ist an die Vorinstanz zurückzuweisen, damit diese eine neue Berufungsverhandlung durchführt und einen neuen Entscheid fällt. Es erübrigt sich, auf die weiteren Rügen des Beschwerdeführers einzugehen. Das Gesuch um aufschiebende Wirkung wird gegenstandslos.
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Für das bundesgerichtliche Verfahren sind keine Kosten zu erheben (Art. 66 Abs. 1 und 4 BGG). Der Kanton Zürich hat dem Beschwerdeführer eine angemessene Parteientschädigung zu bezahlen (Art. 68 Abs. 2 BGG). Diese ist praxisgemäss dem Rechtsvertreter auszurichten.
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Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird gutgeheissen. Das Urteil des Obergerichts des Kantons Zürich vom 23. Mai 2016 wird aufgehoben und die Sache zu neuem Entscheid an die Vorinstanz zurückgewiesen.
 
2. Es werden keine Kosten erhoben.
 
3. Der Kanton Zürich hat dem Vertreter des Beschwerdeführers, Rechtsanwalt Jürg Federspiel, für das bundesgerichtliche Verfahren eine Parteientschädigung von Fr. 3'000.-- zu bezahlen.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Zürich, I. Strafkammer, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 27. April 2017
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Der Gerichtsschreiber: Moses
 
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