VerfassungsgeschichteVerfassungsvergleichVerfassungsrechtRechtsphilosophie
UebersichtWho-is-WhoBundesgerichtBundesverfassungsgerichtVolltextsuche...

Informationen zum Dokument  BGer 6B_29/2017  Materielle Begründung
Druckversion | Cache | Rtf-Version

Bearbeitung, zuletzt am 16.03.2020, durch: DFR-Server (automatisch)  
 
BGer 6B_29/2017 vom 07.07.2017
 
6B_29/2017
 
 
Urteil vom 7. Juli 2017
 
 
Strafrechtliche Abteilung
 
Besetzung
 
Bundesrichter Denys, Präsident,
 
Bundesrichterin Jacquemoud-Rossari,
 
Bundesrichter Rüedi,
 
Gerichtsschreiberin Arquint Hill.
 
 
Verfahrensbeteiligte
 
X.________,
 
Beschwerdeführer,
 
gegen
 
Staatsanwaltschaft des Kantons Nidwalden, Kreuzstrasse 2, 6370 Oberdorf NW,
 
Beschwerdegegnerin.
 
Gegenstand
 
Genugtuung nach Freispruch,
 
Beschwerde gegen die Verfügung des Obergerichts des Kantons Nidwalden, Strafabteilung, vom 12. Dezember 2016.
 
 
Das Bundesgericht zieht in Erwägung:
 
 
1.
 
Das Kantonsgericht Nidwalden sprach X.________ am 5. August 2016 vom Vorwurf der mehrfachen Tätlichkeiten frei. Es sprach ihm für das Verfahren eine Prozessentschädigung und eine Genugtuung zu. Das Urteilsdispositiv wurde gleichentags versandt bzw. X.________ ausgehändigt. Die Staatsanwaltschaft meldete am 8. November 2016 Berufung an und verlangte das ausführlich begründete Urteil. Dieses wurde am 20. Oktober 2016 versandt. Die Staatsanwaltschaft nahm das begründete Urteil am 21. Oktober 2016 in Empfang; X.________ holte es nicht ab. Am 2. November 2016 teilte die Staatsanwaltschaft mit, sie verzichte auf eine Berufungserklärung. Das Obergericht des Kantons Nidwalden trat am 7. November 2016 auf die Berufung der Staatsanwaltschaft nicht ein und stellte fest, das kantonsgerichtliche Urteil vom 5. August 2016 sei in Rechtskraft erwachsen.
 
Am 8. November 2016 focht X.________ das Urteil vom 5. August 2016 mit "Berufungserklärung im Sinne von Art. 399 Abs. 3 StPO" an.
 
Das Obergericht trat darauf am 12. Dezember 2016 nicht ein. Zur Begründung führte es aus, mangels Berufungsanmeldung könne auf die Eingabe nicht als Berufungserklärung eingetreten werden. Zu prüfen bleibe, ob die Eingabe vom 8. November 2016 als Anschlussberufung gemäss Art. 401 StPO aufzufassen sei. Mit Verfügung vom 7. November 2016 sei das Obergericht auf die Hauptberufung der Staatsanwaltschaft nicht eingetreten, weil diese am 2. November 2016 mitgeteilt habe, sie verzichte auf eine Berufungserklärung. Selbst wenn man die Eingabe vom 8. November 2016 als Anschlussberufung verstehen wollte, fiele sie deshalb durch das Nichteintreten dahin. Die Eingabe vom 8. November 2016 könne auch nicht als Revision behandelt werden; Revisionsgründe würden darin weder bezeichnet noch belegt.
 
 
2.
 
X.________ wendet sich mit Beschwerde in Strafsachen an das Bundesgericht. Er macht geltend, er habe gegen das begründete Urteil vom 5. August 2016 Berufung erklärt, ohne eine Frist verpasst zu haben. Das Obergericht hätte auf sein Rechtsmittel folglich eintreten müssen. In der Sache verlangt X.________ eine höhere Genugtuung.
 
 
3.
 
Gemäss Art. 399 Abs. 1 StPO muss die Berufung beim erstinstanzlichen Gericht innert 10 Tagen seit der Urteilseröffnung angemeldet werden. Nach Ausfertigung des begründeten Urteils übermittelt das erstinstanzliche Gericht die Anmeldung zusammen mit den Akten dem Berufungsgericht (Art. 399 Abs. 2 StPO). Die Partei, die Berufung angemeldet hat, reicht dem Berufungsgericht innert 20 Tagen seit der Zustellung des begründeten Urteils eine schriftliche Berufungserklärung ein (Art. 399 Abs. 3 StPO).
 
 
4.
 
Gemäss den unangefochten gebliebenen vorinstanzlichen Feststellungen wurde den Parteien das erstinstanzliche Urteilsdispositiv am 5. August 2016 zugestellt bzw. dem Beschwerdeführer persönlich ausgehändigt. Dagegen meldete nachweislich ausschliesslich die Staatsanwaltschaft Berufung gemäss Art. 399 Abs. 1 StPO an und verlangte ein begründetes Urteil. Der Beschwerdeführer unterliess es demgegenüber, innert der 10-tägigen Frist tätig zu werden und Berufung anzumelden. Er hat sich vielmehr darauf beschränkt, nach Zustellung des begründeten Urteils eine "Berufungserklärung im Sinne von Art. 399 Abs. 3 StPO" einzulegen und sich dabei offenbar vorgestellt, dass die Einreichung einer blossen Berufungserklärung innert 20 Tagen nach Urteilszustellung den Anforderungen der StPO an die Einlegung einer Berufung genüge.
 
Diese Auffassung geht fehl. Nach der StPO muss die Partei, die Berufung einlegen will, ihren Willen, das Urteil nicht zu akzeptieren, in der Regel zweimal kundtun, nämlich ein erstes Mal im Rahmen der Anmeldung der Berufung nach Eröffnung des Dispositivs und ein zweites Mal nach Eingang des begründeten Urteils durch eine Berufungserklärung (s.a. Botschaft vom 21. Dezember 2005 zur Vereinheitlichung des Strafprozessrechts, BBl 2006 1085 ff., 1314). Eine zweimalige Kundgabe des Willens, ein Urteil anzufechten, ist nur dann nicht nötig, wenn das erstinstanzliche Urteil den Parteien direkt in begründeter Form zugestellt wird. In diesen Fällen kann auf eine Berufungsanmeldung verzichtet werden; die Einreichung einer Berufungserklärung genügt (BGE 138 IV 157 E. 2.1 und 2.2).
 
Ein solcher Fall liegt hier indessen nicht vor. Wie ausgeführt, wurde das erstinstanzliche Urteil den Parteien und damit dem Beschwerdeführer im Dispositiv zugestellt, worauf ausschliesslich die Staatsanwaltschaft innert Frist Berufung anmeldete und ein begründetes Urteil verlangte. Der Umstand aber, dass eine Partei - wie hier geschehen - Berufung anmeldet und ein begründetes Urteil verlangt, entbindet die andere Partei nicht davon, Berufung anzumelden, wenn sie das kantonale Urteil ebenfalls anfechten will. Die Berufungsanmeldung bildet Gültigkeitserfordernis für die Berufungseinlegung. Fehlt sie, ist die Berufung unwirksam.
 
Der Beschwerdeführer hat keine Berufung angemeldet, sondern nach Eingang des begründeten Urteils lediglich eine Berufungserklärung eingereicht. Den Anforderungen von Art. 399 StPO hat er damit nicht Genüge geleistet. Nach den zutreffenden Ausführungen des Obergerichts kann seine Eingabe auch nicht als Anschlussberufung oder Revision entgegengenommen und behandelt werden. Das Obergericht ist folglich zu Recht auf die Eingabe des Beschwerdeführers vom 8. November 2016 nicht eingetreten.
 
 
5.
 
Mit der materiellen Seite der Angelegenheit hat sich das Obergericht im angefochtenen Entscheid im Übrigen nicht befasst. Folglich kann dies auch das Bundesgericht nicht tun (vgl. Art. 80 Abs. 1 BGG). Der Beschwerdeführer ist mit seinen diesbezüglichen Ausführungen nicht zu hören.
 
 
6.
 
Die Beschwerde ist abzuweisen, soweit darauf eingetreten werden kann. Die Gerichtskosten sind dem Beschwerdeführer aufzuerlegen (Art. 66 Abs. 1 BGG). Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege ist in Anwendung von Art. 64 BGG abzuweisen, weil die Rechtsbegehren aussichtslos erschienen. Der finanziellen Lage des Beschwerdeführers ist bei der Bemessung der Gerichtskosten Rechnung zu tragen (Art. 65 Abs. 2 BGG).
 
 
Demnach erkennt das Bundesgericht:
 
1. Die Beschwerde wird abgewiesen, soweit darauf einzutreten ist.
 
2. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
 
3. Die Gerichtskosten von Fr. 1'200.-- werden dem Beschwerdeführer auferlegt.
 
4. Dieses Urteil wird den Parteien und dem Obergericht des Kantons Nidwalden, Strafabteilung, schriftlich mitgeteilt.
 
Lausanne, 7. Juli 2017
 
Im Namen der Strafrechtlichen Abteilung
 
des Schweizerischen Bundesgerichts
 
Der Präsident: Denys
 
Die Gerichtsschreiberin: Arquint Hill
 
© 1994-2020 Das Fallrecht (DFR).